Glück auf Zeit

Erinnerung an den 1993 verstorbenen Schriftsteller Gert Hofmann

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Gert Hofmann entwirft, in seinem Werk eine Ästhetik des Schreckens, eine infernalische Welt voller Grausamkeit, voller seelischer und körperlicher Verletzungen und Gebrechen. Selbst seine Kindergestalten kennen schon die Lust am Bösen, sie sind Peiniger oder Gepeinigte, und wo sie nicht selbst Hand anlegen, da entwickeln sie voyeuristische Lust oder verfolgen mit kaltem Blick, einem Interesse von klinischer Kälte, die Zuckungen des Opfers, die Qual der Kreatur. Das Leben ist ihr gestrenger Lehrmeister.

In den 70er Jahren, als die AutorenEdition in ihrer Präambel sich die Aufgabe stellt, "die gesellschaftlichen Probleme" in einer "realistische[n] Schreibweise" zu thematisieren, sich ein Werkkreis "Literatur der Arbeitswelt" bildet, die Frauenliteratur, die autobiographische Selbstbespiegelungsliteratur, "Verständigungstexte" und "Suchbilder" nach Vätern und Müttern den geistigen Horizont der schreibenden Zunft abstecken, da bereits schafft Gert Hofmann mit seinen keineswegs auf Verständigung bedachten und als Identitätserkundung angelegten Texten Befremdliches. In den 80er Jahren, als die Wahrheits- und Bekenntnisliteratur ihren Abschied nimmt und die neue Feierlichkeit ihren Einzug in die Literatur hält und vornehmere Töne anstimmt, als es Mode wird, sich an den Nestoren der abendländischen Bildungsgeschichte, von Herodot bis Walther von der Vogelweide und von Goethe bis Thomas Mann, zu orientieren und das Publikum mit provozierenden Klassikerinszenierungen zu traktieren, da fällt Hofmanns Eigensinn aus dem Rahmen. Seine im Zeichen der Grausamkeit stehende Imagination ist beinahe antizivilisatorisch und barbarisch wie die Themen, die er behandelt. Fast hört man den Comte de Lautréamont sagen: "Meine Dichtkunst wird nur darin bestehen, den Menschen, dieses Raubtier, mit allen Mitteln anzugreifen und mit ihm den Schöpfer, der ein solches Ungeziefer nicht hätte erzeugen sollen" - mit dem Unterschied freilich, dass bei Hofmann die Frage nach Gott und nach metaphysischen Entitäten nie gestellt wird. Schuld ist bei ihm immer persönlich beziehbar. Seine Figuren erwerben Schuld durch Handeln oder Unterlassen, ihnen bleibt keine Ausflucht: Wo sie zu verdrängen suchen, werden sie unerbittlich in die Selbstvernichtung getrieben.

Der Hinweis auf Thomas Bernhard ist schon früh in Rezensionen und sicherlich zurecht erfolgt, das "Theater der Grausamkeit" wäre zu nennen, die Artaud-Inszenierungen Peter Brooks, die Seelendramen Henrik Ibsens, inszeniert etwa von Peter Stein, das politische dokumentarische Theater eines Peter Weiss, auf dem die Szene zum Tribunal wird, oder die zynische, abstoßende, schockhafte und darum gerade faszinierende Theaterarbeit Heiner Müllers: Man denke an sein 'Greuelmärchen' "Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei" (1979), wo er die grausam fortzeugende Gewalt in der (Fürsten-)Erziehung beschreibt. Ebenso wie Heiner Müller und Thomas Bernhard nimmt Hofmann überall die gequälte und gepeinigte Kreatur wahr, deren abgründige Existenzverzweiflung und deren bitterer Lebensekel geradezu lustvoll zelebriert werden - Erkenntnis- und Beschreibungsskrupel kennt der Autor Gert Hofmann nicht.

Das gespannte Reden

Ein elementarer Schmerz, der über die Nervenbahnen ins Gehirn geleitet wird und dort gewaltige, immer neue Sensationen auslöst, soll sich auf den Rezipienten übertragen und seinen natürlichen Tonus bis zum Spannungsschmerz herabsetzen. Dieser Erregungsübertragung dient auch die von Hofmann bevorzugte Sprechhaltung: das 'gespannte Reden'. Der Literaturkritik ist bereits vielfach aufgefallen, daß Hofmanns Prosa vornehmlich in der "Gegenwartsform" (Jochen Hieber) gehalten ist. Es wurde die Auffassung vertreten, daß das Erzählen im Präsens die Funktion habe, "die Einebnung von Vergangenheit und Gegenwart" und die "Aufhebung der räumlich-zeitlichen Distanz zur Erzählgegenwart mittels Präsens" (Lily Maria Hartmann) zu betreiben. Hofmanns Bevorzugung der Tempusgruppe I (Präsens, Perfekt, Futur) hat auch eine erzählstrategische: Sie soll den Leser in eine ,gespannte' Rezeptionserwartung versetzen. Unsere Aufmerksamkeit soll aktiviert und gestrafft, unsere Sinne sollen alarmiert werden. So liest man von einem Tötungsfall in Hofmanns Roman "Vor der Regenzeit":

Einmal, sagt der Onkel [...], Billig hatte eben wieder gestochen, in seinen Schenkel, glaube ich, aber mein Bruder fühlt noch nichts, seine Nervenstränge haben den Stich noch nicht weitergeleitet, er denkt, der Schmerz sitzt im rechten Arm, während er längst im linken Schenkel sitzt. [...] Jedenfalls, sagt er, stach Billig meinen Bruder, nachdem er ihm die rechte Hand und - ungefähr in dieser Reihenfolge - den linken Schenkel und den rechten Arm und einiges andere durchstochen hatte, in den Bauch, in die Därme."

Mit klinischer Kälte beschreibt der Onkel, wie sein eigener Bruder vor seinen eigenen Augen hingerichtet wird. Hans Hartung, zu Gast auf der Hazienda seines Bruders Heinrich im bolivianischen San Agustin, wird von dem Polizisten Billig bestialisch abgeschlachtet, ohne daß der Bruder ihm zu Hilfe käme, angeblich, weil er keine Hilfe gewollt habe. Hans ist für die Indios und für Teile der bolivianischen Presse eine charismatische Erlöserfigur, er ist schon als Gymnasiast in oppositionellen Kreisen aufgetreten, von der Geheimpolizei halb totgeschlagen und für viele Jahre in eine Irrenanstalt gesteckt worden. Der Ermordung von Hans ist ein Kampf zwischen den Brüdern vorausgegangen, "eine stille, aber ungeheuerliche Auseinandersetzung". Hans, der Revolutionär, erzählt seinem Bruder Heinrich von seinen Überzeugungen und Hoffnungen, doch Heinrich antwortet ihm nur mit Schweigen und Gähnen:

"Da geht ihm [scil. Hans] plötzlich das Utopische an seinen Überzeugungen auf. Er kommt ins Stocken, sucht nach neuen Glaubensgründen, aber in seinem Kopf sind weit und breit keine Glaubensgründe mehr zu erblicken. Er hat sie mir alle vorgelegt, ich habe sie alle totgegähnt".

Mit diesem Gähnen, glaubt Heinrich, hat er seinen Bruder umgebracht. Er hat ihm jeglichen Lebensmut und Lebenssinn, jegliche Heilsgewißheit genommen: "Alles", sagt Hans, "was ich gehabt habe, hast du mir zerstört". Nach elf Jahren Trennung gibt es zwischen den Brüdern keine einzige versöhnliche, herzliche oder auch nur vertrauliche Geste. Diese todbringende, zerstörerische Kommunikation ist in vielen Konstellationen Hofmanns präsent, man denke an den Vater in "Unsere Vergeßlichkeit", der täglich auf den Anruf des Sohnes wartet: "Selbst wenn er nur in den Hörer atmet und angeblich ruhig zuhört. Der Ich-Erzähler in "Vor der Regenzeit" will von seiner Verlobten das Geständnis erzwingen, daß sie ihn betrogen hat. Er ist "besessen von der Idee, [...] die Wahrheit - ha! - aus ihr herauszuholen", doch würde ihn diese Wahrheit niemals zufriedenstellen. Seine krankhafte Eifersucht nährt sich von immer neuen, vermutlich eingebildeten Verdachtsmomenten:

"Auf meine Frage, ob sie sich von ihm hat schmieren lassen, antwortet sie weder mit ja noch mit nein. Sie fängt an, ihn zu beschreiben. Erst lacht sie rasch noch wegen des Wortes schmieren, das ich aus dem Türkischen übersetzt habe und das natürlich sehr vulgär ist. Ich muß es aber wissen, weil ich sonst umkomme, eine Beschreibung seiner Person genügt mir nicht".

Grund zur Eifersucht hat Fuhlrott in "Unsere Vergeßlichkeit", weil seine Frau Elisabeth sich "nach siebenjähriger Ehe" mit einem polnischen Sänger einlässt, um ihn auf raffinierte Art [...] zu befriedigen." Für Fuhlrott beginnt eine entsagungsvolle Zeit. Eine fiktive Biographie des Göttinger Universalgelehrten George Christoph Lichtenberg vollendete Hofmann kurz vor seinem Tode. "Die kleine Stechardin" erzählt von Lichtenbergs Liebe zu dem Blumenmädchen Maria Dorothea Stechard. Sie war zwölf Jahre alt, als Lichtenberg sie in seine Göttinger Wohnung in der Gotmarstraße aufnahm und damit den Honoratioren der Stadt Anlaß gab, sich in "wahrhaft schmutzige[r] kollektive[r] Geilheit" das Maul zu zerfetzen. Gert Hofmann schildert Lichtenberg als kleinen, innerlich zerrissenen Mann: "Die meisten Gedanken galten ihr, der Rest war Wissenschaft."

Die Liebe eines Mannes, der seine besten Jahre bereits verlebt hat, zu einer Kindfrau, deren besten Jahre erst noch kommen sollen, hat viele Nachbilder in der Realität wie in der Literatur gefunden. Man denke an E. T. A. Hoffmann, der sich 1809 unsterblich in seine Gesangsschülerin Julia Marc verliebte und durch diese Liebe in eine schwere Daseinskrise gestürzt wurde; oder an Edgar Allan Poe, der 1835 die 13jährige Virginia Clemm heiratete, sowie - natürlich - an Nabokovs "Lolita". Sie alle haben in der Kindfrau - außer den Merkmalen "Jugend" und "Natürlichkeit" - noch einen anderen Vorzug gesehen: hier konnte der Liebhaber wahrhaft schöpferisch tätig werden und eine Kindfrau nach seinem Bilde formen. Lichtenberg sprach, wenn er die kleine Stechardin meinte, von seiner "Homuncula". Er nahm sie in sein Studierzimmer, lehrte sie Lesen, Schreiben und Lieben, er "schuf" aus ihr das "Ideal seines Begehrens", eine "harmonische Einheit von Unschuld, Schönheit und Wissen".

Diese Worte könnten auch Gert Hofmanns Roman charakterisieren,ebenfalls eine harmonische Einheit von Unschuld, Schönheit und Wissen, gepaart mit Schmerz, Melancholie und Wehmut. Er schildert, wie die Stechardin Lichtenbergs Lebensangst auf Zeit verstummen macht. Denn der verkrüppelte Zwerg mit dem zweifachen Buckel, diese Inkarnation des Kafkaschen Käfers, hat Angst, von der Erde zu rutschen, wenn er kein Mädchen findet, an dem er sich festhalten kann. All sein Wissen, all seine Wissenschaft helfen ihm da nicht: die Magdeburger Halbkugeln, die hydrostatische Waage, der Darmstädter Aräometer, mit dem er das Gewicht der Flüssigkeiten bestimmen kann, die Leydener Flasche - was sind sie gegen die wahre Elektrizität des Mädchens?

Gert Hofmann, Jahrgang 1931, wuchs in Limbach/Sachsen auf. In Oberfrohna hat sich inzwischen ein Freundeskreis etabliert, um das Werk des Autors zu fördern. Nach dem Umzug seiner Familie 1948 nach Leipzig studierte er an der dortigen Fremdsprachenschule Englisch und Russisch und legte die Übersetzer- und Dolmetscherprüfung ab. Nach dem Abitur begann er Romanistik, Germanistik, Slawistik und Anglistik in Leipzig zu studieren, siedelte jedoch schon 1951 nach Freiburg im Breisgau über, wo er mit Unterbrechungen sein Studium fortsetzte. Er promovierte über Henry James und war seit 1961 Germanistikdozent an diversen ausländischen Universitäten. Von 1971 bis 1980 lebte er in Klagenfurt und lehrte an der Universität Ljubljana,bevor er ein Leben als freier Schriftsteller wagte. Ausgezeichnet wurde Gert Hofmann unter anderem mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis, dem Alfred-Döblin-Preis, dem Hörspielpreis der Kriegsblinden und - kurz vor seinem Tode noch - mit dem Literaturpreis der Stadt München.

Dieser Schritt galang dann Hofmanns enormer Produktivität. Der Roman "Auf dem Turm" (1982), die Erzählung "Veilchenfeld" (1986), die Romane "Vor der Regenzeit" (1988) und "Unsere Vergeßlichkeit" (1987), der von der Romanfigur Fuhlrott und ihrem scheiternden Autor erzählt und in der Person des Lektors Quatember einen gnadenlosen Blick auf unsere Literaturverweser wirft, erschienen in rascher Folge. Mit dem Südamerikaroman "Vor der Regenzeit" hat Gert Hofmann eines seiner durchgängigen Themen aufgegriffen, die Vergangenheit und ihre Verdrängung. Dieser Roman erzählt wie "Die Denunziation", "Veilchenfeld" (1986), "Der Kinoerzähler" oder "Unsere Eroberung" von den Nachwehen der deutschen Geschichte. Im Mittelpunkt steht ein Kriegsverbrecher, der sich aus Deutschland nach Südamerika abgesetzt hat, dessen Verbrechen nur geahnt, nicht aber namhaft gemacht werden können, ein Mann vielleicht vom Schlage Mengeles, der sich nach dem Zusammenbruch des dutzendjährigen Reiches der Verantwortung und Strafe entzogen hat und nun ein Haziendero und Herrenmensch geworden ist. Er muß sich versteckt halten, er hat eine andere Identität angenommen, in seinen Diensten stehen einige heruntergekommene, "alte Kameraden" - Kriegsverbrecher auch sie. Besuch aus Deutschland ist eingetroffen, ein Neffe mit seiner Freundin, er will den Onkel überreden, in die Heimat zurückzukehren. Doch im Vorfeld der Romanhandlung hat dieser Onkel gerade seinen eigenen Bruder umgebracht - zumindest wird diese Lesart vom Text nahegelegt. Das Besondere an diesem Buch ist, daß das Böse, einschließlich der Verbrechen des Onkels, ausgespart bleibt, nicht thematisiert werden darf, aber allgegenwärtig spürbar ist, ein Unheimliches, Grauenhaftes, das sich bleiern auf die Gemüter der Romanfiguren wie der Leser legt.

Die Vergangenheit ist in Gert Hofmanns Büchern nicht tot, ja, sie ist nicht einmal vergangen. Die Figuren werden immer wieder von ihr eingeholt, so zum Beispiel in der Erzählung "Die Denunziation", in der ein Anwalt herauszubekommen versucht, wie die längst verdrängte, aber unterschwellig immer präsente Denunziation der Eltern eigentlich motiviert war, wer damals, in der Nazizeit, hinter ihr stand. Es geht in dieser Erzählung aber noch um eine andere, gegenwärtige Denunziation, die zeigen soll, daß dieselben, die sich schon im Dritten Reich von niederen Beweggründen leiten ließen, auch nach Kriegsende keine moralische Kehre vollzogen haben.

Den exotischen Handlungsraum teilt "Vor der Regenzeit" mit dem Roman "Auf dem Turm" (1982). Ein deutsches Ehepaar, das seinen letzten gemeinsamen Urlaub in der "Zona morta" Siziliens verbringt, ist mit dem Wagen liegen geblieben und kommt in den kleinen, elenden, abgelegenen Ort Dikaiarchaeia - zu deutsch: die "Stadt der Gerechten". Der dortige Kustode, ein Mann mit Attributen des Teufels, verführt das Ehepaar dazu, einer Touristenattraktion besonderer Art beizuwohnen: dem Sprung eines Jungen vom Turm in den Tod. Der Tod, der dem Erzähler und seiner Frau viele "Ungeheuerlichkeiten" zumutet, ist in dieser partiell phantastischen Welt omnipräsent.

Mit dem Tod kommen Gert Hofmanns Figuren frühzeitig in Berührung, selbst die Kinder, deren Perspektive in vielen seiner Bücher dominiert, man denke an "Unsere Eroberung", "Veilchenfeld", "Der Kinoerzähler" und "Das Glück". Der Roman "Unsere Eroberung" ist sogar aus der Sicht eines Kinderkollektivs erzählt, hier treten mehrere Kinder als ein Gesamt-Erzähler auf und es bleibt offen, um wieviele Kinder welchen Alters und Geschlechts es sich handelt. Nur ein Junge wird individualisiert, der schon etwas ältere Außenseiter Edgar. Die anderen, die die Kommentare und Ansichten ihrer Eltern nachplappern und somit einen unzensierten Blick auf die Sichtweise der Erwachsenen ermöglichen, diese kleinen Helden, die in ihrer Lebenswelt eine spezifische Mischung aus Naivität, entwaffnender Offenheit und oft auch Grausamkeit zur Sprache bringen, sind die glaubwürdigen Zeitzeugen schlechthin. Sie sind unverbildet, sie lügen nicht und sie dürfen grausam sein - das ist ihre Stärke.

Gert Hofmann hat jene besondere Erzählperspektive, in der ein Kollektiv als Erzähler auftritt, in seinen Büchern geradezu kultiviert. Sie dürfte, etwa auch in den Erzählungen "Der Blindensturz" (1985) und "Motte" (in "Tolstois Kopf", 1991), zu den herausragendsten, genuin erzählerischen Leistungen der Nachkriegsliteratur zählen, weil hier so etwas wie ein "nationales Unbewusstes" zur Kenntlichkeit gebracht wird. In der Erzählung "Motte" legen sich die Bewohner einer Straße in die Fenster, um dem Abtransport der Metzgerstochter in die Psychiatrie beizuwohnen. Es ist der August 1939. Die Bürger, aus deren Perspektive der Text erzählt wird, wissen, dass "Motte" dem Euthanasieprogramm der Nazis zugeführt werden soll; es sind Leute, die sich mit den politischen Zielen der Nazis identifizieren oder sich ihnen unterwerfen, und die sich das Grausame, das vor ihren Augen geschieht, nicht entgehen lassen. So ist es auch in der Erzählung "Die Nacht. Ein Traum" (in "Tolstois Kopf"), wo der Leser - ähnlich wie bei Kafka - "auf die Galerie" verbannt wird, ohne einzuschreiten und das Böse zu verhindern.

Die Titelerzählung der Prosasammlung "Tolstois Kopf" beschreibt das schwere Schicksal, Sohn eines genialen Vaters zu sein, immer am Vater gemessen zu werden und den Ansprüchen doch niemals genügen zu können. Der berühmte Vater ist Leo N. Tolstoi, der Verfasser von "Krieg und Frieden". Der Sohn ist Lew Tolstoi, der Rußland nach der Oktoberrevolution verlassen musste und, knapp 60-jährig, in die Vereinigten Staaten emigrierte. Er, der als junger Mann versucht hatte, seinen großen Vater in einer Novelle lächerlich klein zu machen, muss nun, dank der vollkommenen Familienähnlichkeit, in den Filmstudios von Hollywood die demütigende Rolle des Vaters spielen.

Die "Tolstoi"-Erzählungen, aus einer Reihe von Jahren zusammengetragen, zum Teil auch als Hörspiele gesendet, schildern allesamt missglückte Lebensläufe. Es ist die Gemeinsamkeit sehr vieler, ja fast aller Figuren in Hofmanns Œuvre, dass sie mit ihrem Leben nicht zurecht kommen. Ihr Scheitern wird überall, wo man nur scheitern kann, dargestellt: im Beruf, im Privatleben und im innerpersonal-psychischen Raum. Viele Romane und Erzählungen Gert Hofmanns sind zugleich Künstlergeschichten, tragische Künstlergeschichten selbstverständlich: Man denke an "Die Rückkehr des verlorenen Jakob Michael Reinhold Lenz nach Riga" sowie an den "Austritt des Dichters Robert Walser aus dem Literarischen Verein" (beide 1981). Diese "Helden" scheitern nicht bloß als Menschen, sondern auch als Künstler, weil ihre Kunst im Leben nichts bewirken kann. Scheitern aber in allen wichtigen Lebensbereichen bedeutet Tragik. Es gibt praktisch keine positiven Lebensläufe, wo Kunst und Leben aufeinandertreffen. Dies impliziert offenbar auch, daß für den Erzähler Hofmann ein Leben nicht gelingen kann, und dass "Glück", wenn überhaupt, nur auf Zeit möglich ist und vielleicht nur in der Retrospektive erkannt werden kann, so wie es in dem tragischen und komischen Roman "Das Glück" dargestellt wird, der selbstverständlich von der Absenz des Glücks erzählt. Hier stehen eine Familie, eine Ehe, ein Haushalt vor der Auflösung, die Mutter will sich vom Vater trennen, die Tochter soll bei ihr, der Sohn beim Vater bleiben. Aus der Perspektive des Sohnes, des Ich-Erzählers, wird diese Trennung erzählt, aber der Kindermund reflektiert auch die Redeweisen der anderen Figuren, Schwester, Eltern und Nachbarn eingeschlossen. In der Rede des Jungen spiegeln sich die Charaktere, nahtlos gehen die eigene und die fremde Rede ineinander über. Diese Redeform, die mit Naivität, Altklugheit und einer überlegenen Direktheit zugleich die zerrüttete Erwachsenenwelt darstellt, wird durch die meisterhafte, viel erprobte Perspektivierungskunst des Autors möglich. In Gert Hofmanns Büchern gibt es keinen Anspruch auf Glück, und es erschiene absurd, davon auch nur zu träumen. Nur für den Leser sind seine Bücher ein großes Glück. Man sollte es sich greifen, solange es greifbar ist.