Gewaltsam zu schmerzlicher Blüte

Paul Leppin und sein maßloser Roman "Daniel Jesus" sind wieder zu entdecken

Von Mathias SchnitzlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mathias Schnitzler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Roman beginnt phantastisch. Wie ein Fiebertraum. Ein Mann, spindeldürre Beine, riesiger Schädel, geht eine endlose Straße entlang. Es dämmert. Er trägt einen hässlichen Buckel, der groteske Schatten an die Häuserwände wirft, wie sie fünfzehn Jahre später im "Cabinet des Dr. Caligari" auf der Leinwand erscheinen und amerikanische Zeitungen zu dem Urteil veranlassen, die Deutschen seien nach dem verlorenen Weltkrieg verrückt geworden. Vielleicht waren sie es schon vorher. Daniel Jesus heißt der Spaziergänger. Ebenso bemerkenswert wie der Name sind seine Gefühle, die mit aller Macht nach draußen drängen, ins Bildhafte: "Das war sein lieber Gedanke und seine sehnsüchtigste Sehnsucht seit Jahren. Wer so den Abend erwürgen könnte! Denn der Abend war böse."

Ein Mensch in Not oder Ekstase schreibt den Erscheinungen gern menschliche Eigenschaften zu. Paul Leppin, der Zeit seines Lebens in Prag lebte, einer Stadt, die in der deutschsprachigen Literatur wie keine zweite eine düster-geheimnisvolle Atmosphäre beschwört, macht die Phänomene sogar zu Handlungsträgern. Sie leben, lieben, tanzen, schlagen um sich, vergewaltigen und morden wie ihre menschlichen Vorbilder.

Durch eine rauschhafte und ornamental-verrätselte Welt lässt Paul Leppin in dem ungeheuerlichen Roman "Daniel Jesus" aus dem Jahre 1905 seine Figuren hecheln und flüchten. Hechelnd vor Lust und auf der Flucht vor den Abgründen der eigenen Seele in einer Welt, von der Leppin wie mit einer entfesselten Kamera erzählt. Mit künstlichem Nebel und ordentlich Filter vor der Linse. Eine Traumwelt, zu Recht als Inspiration für Schnitzlers "Traumnovelle" von 1926 gedeutet, die ihrerseits Vorlage für Kubricks "Eyes Wide Shut" war. Eine vor Lust und Schrecken zugleich schreiende Schattenwelt, deren visionäre Kraft die jungen Dichterkollegen in Berlin und Prag so sehr beeindruckt, dass sie den "Daniel Jesus" im ersten Jahrgang der expressionistischen Zeitschrift " Der Sturm" fünf Jahre nach der Erstveröffentlichung gleich noch einmal drucken.

Die innere Stimmung der Figuren sprengt fast die Buchdeckel, mit dem Ziel der ersehnten Katastrophe und Erlösung: dies ist das expressionistische Motiv in Leppins Roman. Die Handlung ist nicht leicht wiederzugeben, denn wesentlicher Bestandteil sind das dionysische Dekor und der überschwängliche Stil. Es geht, grob gesagt, um Sex und Religion. Um die ausschweifende Lust, das erotische Begehren, die Sinnlichkeit auf der einen, den christlichen Glauben, seine Moral und Körperfeindlichkeit auf der anderen Seite. Scheinbare Gegensätze, die um 1900 nicht nur Leppins Gemüt bewegen.

Nietzsche, Hausphilosoph und Ideenlieferant zahlloser deutscher Künstler an der Jahrhundertwende, geißelt das Christentum als eine die natürlichen Triebe zerstörende, lebensfeindliche Ideologie. Auf die Bedeutung des Religiösen als großer Mythen- und Hoffnungsspender wollen und können viele Nietzsche-Leser, das "gefährliche Denken" mit Netz und doppeltem Boden betreibend, allerdings nicht verzichten. Kleine, hermetische Zirkel entstehen. Dort huldigt man einer Kunstreligion, die das Ornament wie Weihrauch über die Realität legt. Die orientalische Arabeske gesellt sich zum christlichen Erweckungserlebnis.

Daniel Jesus und Anton Schuster stehen sich als Gegenspieler gegenüber. Der Preis, um den sie kämpfen, ist das richtige Leben. Der wohlhabende Fabrikbesitzer Daniel feiert in seiner Villa Jesus rauschende erotische Feste, auf denen sich die Teilnehmer nackt, nur mit Masken bedeckt der Sinnenfreude hingeben. Er bezeichnet sich selbst als Rattenfänger, der die Schicksale der anderen "beschleunigt und bange Entwicklungen gewaltsam zu schmerzlicher Blüte" aufreißt. Anton lernen wir als fanatischen Gottsucher und Möchtegernmessias kennen, der die Schwachen und Kranken ins Seelenheil führen will und mit ihnen frohe Lieder singt. Beide scharen jüngerhafte Figuren um sich, die miteinander in erotischen Konstellationen stehen. Ihre Schicksale sind miteinander verwoben und bilden ein gewaltiges Spinnennetz. Sie alle sind Gefangene des Eros.

Die zahlreichen Liebesgeschichten, die mehr mit Begierde, Macht und Gewalt denn mit Innigkeit und herzlicher Zuneigung zu tun haben, bilden die unterste Schicht in Leppins erotisiertem Mikrokosmos. In ihnen spiegelt der Autor neue Erkenntnisse der Sexualwissenschaft, Freuds "Traumdeutung", Nietzsches These vom "Willen zur Macht", Wildes "Salomé", de Sade, Wedekind und eigene Überlegungen, die er später in der populärphilosophischen Essaysammlung "Venus auf Abwegen" herausgibt.

Ein wenig wie in Schnitzlers "Reigen" geht der Eros reihum: der Baron von Sterben und das Zigeunermädchen Hagar, Daniel Jesus und die Tochter des Fabrikarbeiters, der junge Schauspieler und die alternde Fürstin Regina, ihre Tochter Marta Bianka und wieder der Baron. Doch wo bei dem Wiener die streng geordnete Szenenfolge auf die nach außen noch intakt sich gebende Gesellschaftsordnung verweist, herrscht im "Daniel Jesus" die Anarchie des Sexus. Fast alle Beziehungen sind geprägt von sadistischen Quälereien und Vergewaltigungen, sie enden meist mit Blut, einige mit dem Tod. Die verschiedenen Verhaltensweisen der in ihrer Lust gefangenen Menschen dienen ausschließlich der sexuellen Befriedigung. Konzentriert sich Schnitzler dabei auf die mehr oder weniger verlogenen Strategien der Partner, dieses Ziel zu erreichen, steht bei Leppin das überwältigende Gefühl der Lust als Symbol für das natürliche Leben über der Moral - trotz der allgegenwärtigen Gewalt.

Paul Leppin ist heute nur wenigen bekannt. Das war einmal anders. Er wurde 1878 in Prag geboren und ist ebendort 1945 gestorben. Von einer kurzzeitigen Verhaftung durch die Gestapo hat er sich nicht wieder erholt: er war als Juden- und Tschechenfreund denunziert wurden. Leppin war der pragerdeutsche Schriftsteller schlechthin, der das Interesse des deutschen Publikums für das alte Prag mit seinen engen Gassen, den barocken Heiligenfiguren, den Synagogen und alten Friedhöfen weckte. Vor Kafka, Werfel, Meyrink und Kisch.

Im bürgerlichen Leben Postbeamter, sorgte er als Kopf des "Jungen Prag" für die Blüte der deutschsprachigen Literatur in der Moldaustadt. In seinen Zeitschriften "Frühling" und "Wir" schrieben, noch unbekannt, Rilke und Stefan Zweig. Leppin sprach fließend tschechisch, hatte regen Kontakt mit der "Ceska moderna" und bekämpfte die Deutschtümelei seiner konservativen Kollegen. In zahlreichen Gedichten und Romanen, besonders erwähnenswert das neoromantische Pragportrait "Severins Gang in die Finsternis", thematisierte Leppin, anti-realistisch und hochartifiziell, die Abenteuer der Seele zwischen Liebe, Lust und Tyrannei.

Die gängige Interpretation des "Daniel Jesus" als Ausdruck der "christlich strangulierten Seele" greift zu kurz. Leppin zeigt verschiedene Möglichkeiten individueller Existenz jenseits der bürgerlichen Moral, verschweigt aber deren Konsequenzen nicht. Die dreizehnjährige Marta Bianka - im Neuen Testament bietet Martha, Schwester des Lazarus, Jesus mehrfach Obdach - flieht entsetzt, das "Herz voll Grauen und Liebe", von der heidnischen Orgie, dem furiosen Finale des Romans. Sie sieht dort ihre Mutter willenlos, nackt tanzend, Spuren von Misshandlung am Körper.

Das einzige Paar, das die Liebe nicht als Spielplatz des sich selbst befriedigenden Individuums versteht, sind die von Visionen geplagte Marietta und der ehemalige Kriminelle Josef. Sie entkommen dem Verhängnis. Ihnen ist eine Zukunft in Aussicht gestellt, die Leppin, ohne die dionysische Atmosphäre des Romans zu zerstören, nicht mehr verhandeln kann: "Und sie gingen beide die Straße weiter, dorthin, wo die Sterne in einem gelben Haufen beisammen standen und fragten nicht mehr. Sie sind nie wiedergekommen - nie."

"Menschheitsdämmerung" wird Kurt Pinthus 1920 seine berühmte Lyrik-Anthologie nennen. In diesem großen Wort vereinen sich Katastrophe und Neuanfang, der Untergang des Menschen und die Hoffnung auf das wahre Menschsein. Der Name "Daniel Jesus" ist ebenfalls Programm: Daniel ist der alttestamentarische Prophet der Apokalypse und des Gottesreiches, Jesus der Kritiker der Heuchelei und Verkünder der Liebe Gottes, die er im Umgang mit Sündern und Ausgestoßenen verwirklicht. Leppins Roman ist randvoll mit biblischen Verweisen. Seine Hoffnung spricht die Erweckungssprache des jüdisch-christlichen Glaubens. Die antibürgerlichen und religionskritischen Impulse findet der "deutsch-böhmische Baudelaire", wie ihn Max Brod halb scherzhaft, halb im Ernst bezeichnete, im durch und durch sexualisierten Denken und Handeln der Menschen.

Dieses Buch ist wie ein großes Gedicht, seine Sprache voller Pathos. Manchmal überfordern die vielen Synästhesien und die revolutionär-erotische Geste den Leser des 21. Jahrhunderts. Dieses Buch ist ein Abenteuer. Kein konfektioniertes, wie heute üblich. Es zeigt die deutschsprachige Literatur auf dem Weg von jugendstilhafter Dekadenz zum expressionistischen Aufschrei.

Titelbild

Paul Leppin: Daniel Jesus. Roman.
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Angela Reinthal und Dierk Hoffmann.
Elfenbein Verlag, Heidelberg 2001.
136 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3932245474

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