Ein Buch der Fälschungen

Alan Isler berichtet von "Klerikalen Irrtümern"

Von Christoph JürgensenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Jürgensen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Edmond Music trinkt gerade einen Calvados in einem Pariser Café, als er aus der Zeitung von seinem Tod erfährt. Dem Anschein nach ist er, der prominente Rektor einer katholischen Forschungseinrichtung, mit seinem alten Morris im heimischen England gegen eine Eiche geprallt und dabei bis zur Unkenntlichkeit zerquetscht worden. Natürlich eilt er sofort zum Telephon, um den Irrtum aufzuklären. Nur mühsam gelingt es ihm, seine Haushälterin Maude davon zu überzeugen, dass er nicht aus dem Jenseits anruft, und dass es sich bei den vermuteten himmlischen Heerscharen, die sie im Hintergrund hört, nur um die Jukebox des Restaurants handelt.

Prägnant bereitet diese burleske Eingangssequenz auf das zentrale Thema des Textes vor: "Klerikale Irrtümer" ist ein Buch der Täuschungen, in dem nichts und niemand so ist, wie es zunächst aussieht. Personal wie Milieu des neuen Romans von Alan Isler werden die Leser seiner früheren Bücher überraschen. Ausgerechnet Isler, der sich bislang als Chronist tragikomischer jüdischer Außenseiterexistenzen etabliert hat - vor allem mit "Der Prinz der West End Avenue", der originellen und bewegenden Geschichte einer streitlustigen Gruppe jüdischer Emigranten, die in einem Manhattener Altersheim eine Hamlet-Inszenierung planen - leiht nun also seine Stimme einem katholischen Priester. Oder trügt der äußere Schein etwa auch hier, und unter der Soutane verbirgt sich doch ein ganz anderer?

In der Tat: Music hat mehr als nur ein Lebensgeheimnis, und da er alt ist und gerne redet, entdeckt er sich uns Lesern nach und nach. Immer wieder verliert er dabei den Erzählfaden aus den Händen und schweift altersräsonierend ab, doch was er zu erzählen hat, ist allemal fesselnd genug und spiegelt den ganzen Aberwitz des vergangenen Jahrhunderts. Edmond Music hat nicht nur längst seinen Glauben an Gott verloren, er heißt auch nicht Music. Eigentlich ist er Edmond Music, der in Frankreich geborene Sohn ungarischer Eltern - und Jude. Aus Angst vor den Nazis ließen die Eltern ihn damals taufen, bevor seine Mutter in Auschwitz ermordet wurde und sein Vater in den Wirren des Zweiten Weltkrieges verschollen ging. Warum er nach dem Ende der Verfolgung den katholischen Glauben nicht ablegte, ja warum er sogar Priester wurde, weiß Music selbst nicht zu sagen. Vielleicht war es schiere Trägheit - schließlich ist das Amt eines Geistlichen auch nur ein Job. Aber auch die Rolle der Erotik gilt es bei seiner Berufswahl nicht zu unterschätzen, verdankt Music doch seinen Posten als Rektor des luxuriösen Beale Hall nicht seinen Fähigkeiten als Seelsorger, sondern vielmehr der leidenschaftlichen Affäre mit der reichen Besitzerin des Anwesens, die vom Reiz des Verbotenen angezogen wurde.

So lebt er also Jahrzehnte lang die vorgetäuschte Existenz eines strengen Katholiken, der seine Herkunft wie seinen Atheismus stets sorgfältig verborgen hat. Jetzt, am Ende des Jahrhunderts und seines Lebens, blickt er immer häufiger zurück und fühlt sich als Verräter am Judentum. Im Versuch intensiver Selbstvergewisserung widmet Music sich daher Nachforschungen über den sagenhaften Baal Schem aus Ludlow, einen wundertätigen und geschäftstüchtigen Rabbi, dessen Schriften sich in der stattlichen Bibliothek von Beale Hall befinden.

Genau diese Bibliothek ist Ausgangspunkt der sich nun entspinnenden Intrige, die das Gravitationszentrum dieses Romans bildet. Ein früher, der Forschung bislang unbekannter Band mit Sonetten und einem Drama von Shakespeare ist aus der Bibliothek verschwunden und wird nun von einem undurchsichtigen Antiquar zum Verkauf angeboten. Dieses Angebot ruft Edmonds alten Studienkollegen und unversöhnlichen Feind Twombly auf den Plan, der hofft, Music persönliche Bereicherung nachweisen und den verhassten Gegner so endlich zu Fall bringen zu können. Aber, so muss man in einem Buch der Täuschungen fragen, ist dies nicht nur ein weiterer klerikaler Irrtum? Ist also die vorgebliche bibliophile Rarität nicht vielleicht nur eine weitere Fälschung vom bezeichnenderweise 'Falsch' genannten Rabbi, die er einst gegen eine seltene Ausgabe aus der Hebraica-Sammlung des damaligen Besitzers von Beale Hall eintauschen wollte?

Mit "Klerikale Irrtümer" erweist sich Isler erneut als intelligenter "Troubadour des Alltäglichen", wie er in seinem Roman selbst einmal Tolstoi und Updike nennt. Er kann komisch, ja teils grotesk von so großen Themen wie Glaube und Zweifel, Liebe, Alter und Tod erzählen, ohne je die Balance zwischen Ernst und Heiterkeit zu verlieren. Seine redselige, sympathisch hilflose Erzählerfigur umgibt er dabei zusätzlich mit einem Panoptikum skurriler Gestalten, für die er trotz all ihrer Schwächen nie die Anteilnahme verliert. Wegen seiner stilsicheren, souveränen Erzählungen von den weltlich-sexuellen und religiös-intellektuellen Irrungen und Wirrungen leidgeplagter Juden ist Isler wiederholt und zu Recht mit Singer und Bellow verglichen worden: eine Traditionslinie, in die sich auch "Klerikale Irrtümer" eindrucksvoll einreiht.

Titelbild

Alan Isler: Klerikale Irrtümer.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Stefanie Schaffer de Fries.
Berlin Verlag, Berlin 2002.
368 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3827003830

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