Ich, Bastard

J. T. LeRoys neuer Roman "Jeremiah" - autobiographische Fiktion oder fiktive Autobiographie?

Von Tom TerrorRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tom Terror

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wie" fragt der Ich-Erzähler in J. T. LeRoys neuem Roman "kann man sich nach etwas sehnen, das der Körper ablehnt, und sogar noch mehr Sehnsucht empfinden, je stärker der Körper protestiert?" Und "wie", fragt er schließlich wenige Seiten weiter, "kann ich einen Schmerz erklären, der wie eine Folter brennt, aber mehr als ein Streicheln oder ein Kuss besänftigt und erregt?" Dass der, der sich so etwas zu fragen traut, gerade mal einundzwanzig Jahre alt ist und zu Amerikas provokantesten Autoren gezählt wird, mag verstörend wirken. Wenn man aber bedenkt, dass der Autor, wenn er "ich" schreibt auch "ich" meint und gerade deshalb für seinen Roman die Perspektive eines Kindes gewählt hat, dessen Leben zu einer Höllenfahrt zwischen sadistisch-inzestuösem Puritanismus und sexuellem Missbrauch wird, dann derjenige, der die Vita des Autors berücksichtigt und um die autobiographische Dimension dieses Romans weiß, erkennen, dass der Roman gerade durch sein Sujet an Dringlichkeit gewinnt.

Ungeheuer offen und dabei doch immer fast unschuldig erzählt LeRoy in "Jeremiah" von den Abgründen einer Kindheit zwischen sexueller Ausbeutung und Gewalt, die nicht nur seine eigene ist, sondern darüber hinaus auch die seiner Mutter. Sarah, die bei seiner Geburt selbst noch ein halbes Kind war, brennt mit Jeremiah, der vorübergehend bei Pflegeeltern aufwuchs, durch und zwingt ihn mit allen Mitteln, bei ihr zu bleiben. Dass sie dabei selbst nie Zuwendung erfahren hat und deshalb nach den ihr vertrauten Mustern lebt und handelt, kann da kaum noch verwundern, auch nicht, dass die Beziehung zwischen Mutter und Sohn vor allem durch Unsicherheit und Selbstzweifel geprägt ist. So gesehen ist "Jeremiah" auch nichts anderes als eine Liebesgeschichte, allerdings so offen und rau, so anrührend und unschuldig erzählt, dass sich vor dem Leser eine Welt eröffnet, die er so bisher kaum kennen gelernt hat. Dennis Cooper, einer der renommiertesten Autoren der US-amerikanischen Untergrundliteratur, behauptet sogar, dass LeRoys Stil "so authentisch in seiner Leidenschaft, Prägnanz, emotionalen Tiefe und lyrischen Schönheit" sei, "dass er alle Standards, die wir von Gegenwartsliteratur erwarten", durchbreche. Und vielleicht ist es gerade das, was die Wirkung dieses Romans ausmacht, dass er nämlich von uns selbst erzählt.

Denn während Jeremiah mit seiner Mutter von Motel zu Motel zieht - sie ihren Körper verkauft und er sich vergebens nach Zuwendung sehnt - verwandelt sich für den Leser das aufdringlich Ordinäre in eine Welt von lyrischer und grotesker Schönheit. Zwar lernen wir mit Jeremiah auch die Nacht- und Schattenseiten des "American way of life" kennen, aber niemals wird der Amerikanische Traum in Frage gestellt, kein Albtraum, der daraus hervorgeht - nur die Hoffnung und der Glaube, der bleibt, dass doch noch alles gut werde.

Dass "das Wiederaufleben der Pornographie" neben Science-Fiction und Western ebenfalls "eine Form von Pop-Art" sei - und "seit der viktorianischen Zeit" im Grunde genommen sogar "die eigentliche Form von Pop-Art", machte Leslie A. Fiedler in seinem 1968 veröffentlichten Aufsatz "Überquert die Grenze, schließt den Graben! Über die Postmoderne" deutlich. Auch, dass die sogenannten Pop-Autoren "den Kompromiß des Marktplatzes nicht fürchten", sondern "im Gegenteil" sich gerade "dasjenige Genre" wählen, "das sich der Exploitation durch die Massenmedien am ehesten anbietet." Da mag es kaum verwundern, dass seine eigene Agentin LeRoy nur von Fotos kennt, und auch nicht, dass er darauf immer Sonnenbrille und Perücke trägt. Und weil dieser seltsame junge Mann selbst auf Lesungen, die er für obdachlose Kinder organisiert, nie zu sehen ist, behaupten einige nun sogar, dass LeRoy nur ein anderer Name für Dennis Cooper sei. Schließlich war er es, der LeRoy entdeckt und gefördert hat.

So gewinnt LeRoys Geschichte vom kleinen, einsamen Jeremiah leise und fast unmerklich an Dramatik - bis zu ihrem ebenso erschütternden wie lakonischen Finale. Normalität und Grauen waren sich selten so nah wie hier. Manchmal sind es ja gerade die einfachsten Geschichten, die am tiefsten fassen. J. T. LeRoy hat ein außerordentliches Buch geschrieben und all denjenigen eine Stimme verliehen, denen Ähnliches widerfahren ist. J. T. LeRoy hat mit "Jeremiah" ein Tabu gebrochen oder auch einfach nur das Schweigen. - Aber wer ist jetzt J. T. LeRoy wirklich?

Titelbild

J. T. LeRoy: Jeremiah. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Michael Schmidt.
Reclam Verlag, Leipzig 2002.
255 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3379007846

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