Incipit vita nova!

Eine neue Werkausgabe zeigt Martin Buber als jüdischen Zarathustrier

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu den großen Lebensleistungen des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber gehört die Wiederentdeckung, Sammlung und erzählerische Neuschreibung der Legenden und Geschichten der Chassidim, jener Anhänger der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus der kabbalistischen Mystik hervorgegangenen religiösen Erneuerungsbewegung des Ostjudentums. Daneben besteht die Bedeutung Bubers für den jüdischen Diskurs in der deutschen Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einer Akzentuierung der in den Akkulturationsbestrebungen zutage tretenden Identitätskrise des Judentums als einer Krise der europäischen Kultur insgesamt. Geboren 1878 in Wien, war Martin Buber in Lemberg, der damaligen Hauptstadt des zu Österreich gehörenden Galizien, bei Salomon Buber, seinem Großvater väterlicherseits, aufgewachsen. Salomon Buber war einer der einflussreichsten Vertreter der Haskala, der auf Moses Mendelssohn zurück gehenden jüdischen Aufklärung. So hatte Martin Buber in seiner Jugend die Möglichkeit, sowohl die Haskala als auch den Chassidismus kennen zu lernen. Diese Eigenart seiner Bildung, in die beide Strömungen des Judentums eingegangen waren, ist sicherlich die Basis für jenen ideologischen Synkretismus, der den jungen Buber - in Anlehnung an Achad Haam (Ascher Ginzberg, 1856-1927) und in Auseinandersetzung mit Theodor Herzl - auf das Programm des Kulturzionismus kommen ließ, der sich nur nach und nach aus seiner Bindung an den deutschen Nationalismus zu lösen vermochte.

Im Verlauf seines Universitätsstudiums in Wien, Leipzig, Zürich und vor allem in Berlin nahm Buber recht bald Bewusstseinsinhalte und gedankliche Vorstellungen des Neoromantizismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf. In Wien wurde er sehr stark von Nietzsche und dem Ästhetizismus des österreichischen Fin de siècle beeinflusst; in Berlin, wo er Georg Simmel und Wilhelm Dilthey hörte, hinterließ die deutsche Mystik besondere Eindrücke, aber auch Nietzsche wirkte wiederum auf ihn ein, der zahlreiche Anhänger unter den Ostjuden hatte, die damals in der Hauptstadt Preußens studierten. Aus diesem bewusstseinsgeschichtlichen Erfahrungsraum kam Martin Buber, als er sich 1898 der zionistischen Bewegung anschloss. Er geriet sofort in Widerspruch zu dem geistigen und religiösen Agnostizismus des politischen Zionismus, wie ihn Theodor Herzl vertrat. Buber sah für sein Konzept eines spirituellen Zionismus, der über die liberalen, laizistischen Positionen Herzls als des Begründers der zionistischen Bewegung hinausreichte, sein Vorbild in Achad Haam, von dem in Wahrheit der Anstoß zum europäischen Kulturzionismus ausging. Nach Achad Haam sollte die vordringlichste Aufgabe des Zionismus nicht in erster Linie in der politischen Rekonstitution der nationalen Einheit des jüdischen Volkes liegen. Viel unmittelbarer und dringender erforderlich war für ihn die Arbeit an der Ausbildung seines kulturellen Selbstverständnisses. Auf diese konnte keinesfalls verzichtet werden, wenn die in Folge der Assimilation immer häufiger werdenden Beeinträchtigungen seiner kulturellen Identität vermieden werden sollten. Die Akkulturation war eine der Hauptursachen für die Entfremdung des Westjudentums von seiner religiösen Herkunftsgeschichte; sie bedrohte jetzt auch die jüdischen Gemeinden Osteuropas. Ähnlich wie Achad Haam war auch Buber bestrebt, seine Anstrengungen auf ein Gleichgewicht zwischen den Werten der jüdischen Tradition und den Gedanken der europäischen Aufklärung zu richten. Buber, der in Berlin und Wien mit allen Verlockungen des deutschen Irrationalismus vertraut geworden war, fügte in die Gedankenwelt seines russischen Vorstreiters darüber hinaus noch die Kategorien des Schöpferischen und der ästhetischen Erziehung ein. Diese Melange ließ seinen Zionismus zu seiner typischen Erscheinung der hochproblematischen deutsch-jüdischen Symbiose werden.

Martin Buber stand zu diesem Zeitpunkt, als er sich dem Zionismus anschloss, ganz unter dem Eindruck Nietzsches. Er nahm maßgeblich an dem religiösen Revivialismus teil, der sich um die Jahrhundertwende in Mitteleuropa unter jungen jüdischen Intellektuellen verbreitete. Dabei wirkte Nietzsches "Also sprach Zarathustra" auf ihn wie eine religiöse Offenbarung. Hinzu trat die Lebensphilosophie Georg Simmels, dessen Schriften über Nietzsche für den jüdischen Nietzscheanismus im Ganzen bedeutsam wurden. Das Judentum sollte "erlebt werden", wie Paul Mendes-Flohr in seinem Beitrag "Zarathustras Apostel. Martin Buber und die 'Jüdische Renaissance'" zu dem von Jacob Golomb herausgegebenen Sammelband "Nietzsche und die jüdische Kultur" eindrucksvoll zeigt. Der zweite, in diesem Zusammenhang wichtige Sammelband ("Jüdischer Nietzscheanismus"), herausgegeben von Werner Stegmaier und Daniel Krochmalnik, ergänzt diesen Tatbestand dahin gehend, dass es vor allem der Nietzsche der Umwertung aller Werte war, der den jüdischen Nietzscheanismus anstieß, "der moral- und kulturkritische, kämpferische, prophetische, apokalyptische Nietzsche". Ein manifester jüdischer Nietzscheanismus entstand zuerst bei osteuropäischen Juden (Leon Pinsker, Micha Josef Berdyczewski, Achad Haam u. a.) und verband sich mit dem aufkommenden jüdischen Nationalismus, ging zunächst aber von einer Rebellion gegen das Gesetz aus.

Seit 1895 stilisierte sich Buber explizit zum jüdischen Zarathustrier, der zionistische Freunde zu "Herrenmenschen" formen will. Im Alter von siebzehn Jahren "bemächtigte sich meiner das andere Buch [das erste war Kants "Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik"; A.S.], das zwar ebenfalls das Werk eines Philosophen, aber kein philosophisches war: Nietzsches 'Also sprach Zarathustra'. Ich sage: 'bemächtigte sich meiner'; denn hier trat mir nicht eine Lehre schlicht und gelassen entgegen, sondern ein gewollter und gekonnter - großartig gewollter und großartig gekonnter - Vortrag stürzte auf mich zu und über mich her. Dieses Buch, vom Verfasser als das größte Geschenk bezeichnet, das der Menschheit bisher gemacht worden sei, hat auf mich nicht in der Weise einer Gabe, sondern in der Weise des Überfalls und der Freiheitsberaubung gewirkt, und es hat lang gedauert, bis ich mich loszumachen vermocht habe." In den Jahren der ekstatischen Begeisterung ging Buber sogar daran, den "Zarathustra" ins Polnische zu übersetzen. Aus den Jugendjahren Bubers ist zudem ein Manuskript mit dem Titel "Zarathustra" erhalten, das 1896/97 entstanden ist und verschiedene Aufzeichnungen zu Nietzsche umfasst: "Für wen Zarathustra ein Lebens-Ereignis sein kann? Meine Antwort - eine stolze, hochmütige, aristokratische Antwort: 'Die Sensitiven'. [...] Sie, welche die Welt nicht 'idealisirten', sondern selbst idealisirt in alle Dinge etwas von ihrer zweiten Welt einlegten, die Menschen der verfeinerten Sinne und der zersetzbarsten Nerven, die dionysischen Lust- und Weh-Verknüpfer, die 'Fermenterreger der Menschheit', die Unbefriedigten, die Überfeinen und Überempfindlichen, die Künstler par excellence, die in alle Räthsel und Wirrnisse der Form mit ihrem Oberlicht-Auge eindrangen, die Psychologen par excellence, die das große, unbekannte, überreiche Psyche-Leben erforschen, welches von der dünnen, für die große Menge allzustarren, Lavaschicht unseres Bewußtseins bedeckt, sich den Blicken aller nur flüchtig und verschwindend leicht in unseren Reflex-Bewegungen manifestiert, wie der rauchende Vulkan. Für sie ist Zarathustra gedichtet; für diese Menschen des Rausches und der Betäubung." Schließlich erschien 1900 in Berlin sein Nachruf "Ein Wort über Nietzsche und die Lebenswerte", der, was die Bedeutung für Bubers geistiges Porträt jener Jahre angeht, deutlich hinter dem früheren Aufsatz zurücksteht. Auch wenn Buber nach der erzwungenen Emigration 1959 in Gesprächen mit Werner Kraft den Zarathustra skeptisch beurteilte, standen doch bedeutende Teile seiner späteren Gedankengebäude unter dem Einfluss Nietzsches, dessen Vorstellung von der "Umwertung aller Werte" etwa integrales Moment von Bubers Auffassung des Judentums wurde. Das zeigte sich vor allem in seinem Versuch, die bisherige jüdische Tradition umzustürzen und den Gedanken zu etablieren, dass Mythen die antreibende Kraft des Judentums gewesen seien.

Buber besaß insgesamt eine gute Kenntnis von Nietzsches Schriften, war aber auch mit Literatur über ihn vertraut, etwa mit dem 1892 in Berlin erschienenen Essay "Zur Psychologie des Individuums" von Stanislaw Przybyszewski, in dem es viel sagend heißt: "Rausch ist eine Kunst ihrem Wesen, ihrer Entstehung nach und Rausch muß sie hervorrufen, sonst haben wir sie nicht nötig." Rausch und Kunst bilden auch bei Buber Stichworte seiner Interpretation. Mehr aber noch erfüllte ihn die ebenfalls durch Nietzsche geprägte Gedankenwelt Micha Josef Berdysczewskis, der im Namen eines rauschhaft-dionysischen jüdischen Vitalismus die Auflehnung gegen den Talmudismus pflegte. Buber entwickelte daraus die Vorstellung vom Zionismus als einer kraftvollen, kämpferischen Bewegung, die zunächst noch im Zeichen eines vagen Ästhetizismus stand, der alle ideologischen Strömungen des deutschen Nationalismus in sich aufnahm. Im Kulturbegriff des jungen Buber, der neben Nietzsche, Fichte und der deutschen Mystik auch die bedeutendsten Namen des nationalen, antisemitisch gefärbten Irrationalismus umfasste, erschien nun, wenn man genauer hinsieht, das Problem der kulturellen Identität des Judentums in den Denkkategorien und Begriffen des Antisemitismus selbst, und zwar des deutschen wie des jüdischen. In ihm stimmten die Deutschnationalen alter Prägung und die neuen, nationalistisch gesinnten Zionisten in ihrer überaus negativen Einschätzung des Diaspora-Judentums überein.

Aufgrund dieser Vorstellung entstand im Umfeld des Neoromantizismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein spezifisch jüdischer Romantizismus, dessen bedeutendster Repräsentant der junge Buber war. Im Übrigen betonte Buber selbst in aller Offenheit den deutschen, romantischen Charakter seines eigenen Zionismus. In einem wichtigen Abschnitt der 1901 auf dem 5. Zionistischen Kongress in Basel gehaltenen Rede mit dem Titel "Jüdische Kunst", die allgemein als Geburtsstunde des deutschen Kulturzionismus gilt, wies Buber darauf hin, dass eben diese Idee des Zionismus das Ergebnis der Symbiose von jüdischem Geist und abendländischer Kultur sei. In gleicher Weise ließe sich die ästhetische Revolution, die zur Wiedergeburt jüdischer Geistigkeit führen müsse, nur dank der kulturellen Symbiose von Juden und Deutschen realisieren. Es war "die Vermählung" der deutschen Kultur mit der neoromantischen Kultur der jungen Juden Mitteleuropas, die die "jüdische Renaissance" im Sinne Bubers vorantrieb. Diese ließ sich für ihn in Europa nur durch das schöpferische Werk der deutschsprachigen Juden verwirklichen, weil die Juden deutscher Kultur über die Bewusstseinsinhalte verfügten, von denen allein der Anstoß zur Wiederherstellung der jüdischen Kultur ausgehen konnte. Der immer wieder durchscheinende Begriff des "Schöpferischen", den Buber zusammen mit dem der "ästhetischen Erziehung der Nation" einführte, gehörte seit Nietzsche zum ideologischen traditum, aus dem in Österreich und Deutschland der kulturelle Ästhetizismus der Jahrhundertwende hervorgegangen war. Es war dieser Kulturbegriff, den Buber zu der Feststellung veranlasste, die Kunst sei die einzige Kraft, die die verkrüppelte Menschlichkeit des Diasporajuden zu Ganzheit und Harmonie zurückführen könne. Gleichzeitig war die Kunst auch das einzig wahre, eigentliche, mystische Medium, durch das dem akkulturierten Bürgertum die unergründliche Tiefe der jüdischen Volksseele erschlossen werden konnte. Es war ja offensichtlich, dass die nationale Kunst, in der Buber die treibende Kraft für die zionistische Kulturrevolution sah, für ihren Zusammenhalt einer "einheitlichen Gemeinschaft" bedurfte, die ihre Existenz legitimierte. Daran lag es, dass Buber im Ostjudentum jene auf das Volk oder die Nation bezogene Dimension entdeckte, die die theoretische Basis für seinen Kulturzionismus bildete. Die Aufgabe aber, die der neuen kulturzionistischen Avantgarde gestellt war, lag darin, die Synthese von Haskala und Chassidismus über den deutschen Nationalismus für das moderne Judentum insgesamt herzustellen. Wenn sie sich durch Nietzsche inspirieren ließ, musste sie das Leben des jüdischen Volkes neu formen, es von den Leiden des Ghettos heilen, es auf Natur und Schönheit hin ausrichten können. Sie musste so in unmittelbarer Bildungsarbeit eine neue Generation junger Menschen heranziehen können, die - befreit von der sterilen Kultur des Talmudismus oder der parasitären Akkulturationskultur - die Basis der jüdischen Renaissance bilden konnte.

In diesem Zusammenhang lässt sich auch Bubers 1913 veröffentlichtes Buch "Daniel" lesen, das für die jüdische Jugendbewegung jenen Kult des Erlebnisses inaugurierte, den der junge Gershom Scholem in einem Brief an Siegfried Lehmann vom 4. 10. 1916 "aesthetische Ekstase" nannte. Obwohl sich Buber später von dieser Wirkung seines Textes distanzierte, erscheint "Daniel" als Musterexemplar einer neureligiösen Schöpfung: als die Keimzelle einer jüdischen "Intellektuellen-Religion" (H. G. Kippenberg). Bubers Konstruktion jüdischer Volksgemeinschaft folgt den üblichen Mustern des modernen Nationalismus. "Das Blut" wird zur "tiefsten Machtschicht der Seele" hypostasiert, um letzte Seinsbindungen zu erschließen, die dem reflektierend sich vereinzelnden Ich immer schon vorgegeben sind. Zum nationalistischen Ideologen wird Buber jedoch nicht erst im August 1914, als der Kriegsenthusiasmus unter den deutschen Intellektuellen aller Couleur grassierte und Buber Deutschlands Kulturkrieg pathetisch als Anbruch der ersehnten "Weltenwende" feierte. Schon 1901 finden sich in dem Aufsatz "Kultur und Zivilisation", der in dem von Ferdinand Avenarius herausgegebenen "Kunstwart" erschien, Ideen, die Buber für eine kulturelle Renaissance des Judentums fruchtbar zu machen suchte. Die Antinomie von 'Kunst' und 'Zivilisation' wurde im Spätwilhelminismus als grundlegender Gegensatz zweier Gesellschaftsformen begriffen. Bubers Gedanke, allein seine Kultur unterscheide Deutschland von der Zivilisation des Westens, nämlich Englands und Frankreichs, begegnet einige Jahre später an prominenter Stelle auch in Thomas Manns "Betrachtungen eines Unpolitischen" (1918). Diese Behauptung führte sukzessive zu einer Immunisierung gegen die in der Französischen Revolution erhobenen Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Aus folgender Passage spricht der ganze kulturreligiös verbrämte Erlebnisrausch und die nationalistische Betäubung des jungen Buber: "In dem Wirrwarr unsere Tage kündigt sich eine Epoche der Kulturkeime immer stärker und farbenreicher an. Unter uns sind Menschen erstanden, die zur Zeit, da die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt ist und neues Leben aus der Erde bricht, den Geist und das lebendige Feuer verkünden und der werdenden Zukunft den Weg bereiten. In ihren Werken offenbaren sich uns neue Kräfte, neue Arten zu sehen und zu schaffen, neue Geburten und neue Entwicklungen."

Bubers Arbeiten in den Folgejahren beschwören immer wieder auch eine Sinnstiftung durch heroisches Leben, Leid und Selbstopfer. Seine jungjüdischen Helden ziehen "einen schönen Opfertod in letzter Anspannung des Lebens" bürgerlicher Behaglichkeit und schneller Triebbefriedigung vor. In diesem Zusammenhang ist sicherlich auch das Mitwirken Bubers in einer höchst widersprüchlichen intellektuellen Vereinigung, dem Forte-Kreis, neu zu bewerten, dessen Ziele Gershom Scholem in seinen Jugenderinnerungen folgendermaßen umschrieb: "Es handelte sich um eine kleine Gruppe von Männern [...], die ein oder zwei Jahre vor dem Weltkrieg den Gedanken gefaßt hatten, der kaum glaublich scheint [...]: daß es einer kleinen Gruppe von Menschen, die eine gewisse Zeit zusammen aus dem reinen Geist leben und ohne jede Zurückhaltung in einen schöpferischen Gedankenaustausch, ja mehr, in eine pneumatische Gemeinschaft treten würden, vielleicht gelingen könne, um es esoterisch aber doch deutlich zu sagen, die Welt aus den Angeln zu heben und die europäische Kultur an ihren Wurzeln zu verändern." Bubers Kriegsenthusiasmus ist zwar primär von der Vorstellung getragen, dass es jetzt - ungeachtet aller realen gesellschaftlichen Unterschiede - ein Volk in Deutschland gebe, gleichzeitig ist seine Begeisterung besonders mit Bildung befrachtet. Der lateinische Ausruf am Ende eines Briefes an den ins Feld einrückenden Hans Kohn vom 30. 9. 1914 ("Incipit vita nova!") erinnert an Nietzsches "Incipit tragoedia", aber auch an religiöse Vorstellungen der Wiedergeburt und des Neuanfangs. Diese unheilvolle Mischung aus Bildung, Religion, Kriegspropaganda und Einheitseuphorie kennzeichnen Bubers öffentliche Äußerungen dieser Zeit insgesamt. Erst im Mai 1916 geriet Bubers Kriegsenthusiasmus in eine tiefe Krise, die ihn auf zunehmende Distanz zur offiziellen Politik gehen ließ. Anlass dafür war ein Brief Gustav Landauers vom 12. 5. 1916, in dem dieser auf Veröffentlichungen Bubers mit größter Empörung reagierte. Landauer hielt Buber "Ästhetizismus und Formalismus" vor und sprach ihm jedes Recht ab, "über die politischen Ereignisse der Gegenwart, die man den Weltkrieg nennt, öffentlich mitzureden und diese Wirrnisse in Ihre schönen und weisen Allgemeinheiten einzuordnen: es kommt dabei völlig Unzulängliches und Empörendes heraus." Buber habe sich von einer messianischen Größe blenden lassen, in der "Deutschland als einzig berufene Erlösernation" erschien.

Der erste Band, der von Paul Mendes-Flohr und Peter Schäfer herausgegebenen neuen Buber-Werkausgabe zeigt genau diesen orientierungslosen Jungintellektuellen aus dem Habsburgerreich. Ediert werden von Martin Treml 27 Texte Bubers von der Bar-Mizwah-Rede im Februar 1891 bis zum 1924 veröffentlichten Essay "Geheimnis einer Einheit". Neben den damals viel gelesenen und viel beachteten "Daniel - Gespräche von der Verwirklichung" aus dem Jahre 1913 und den 1913 bis 1917 geschriebenen "Ereignissen und Begegnungen" finden sich viele, zum Teil bisher noch nicht veröffentlichte Skizzen und Fragmente aus dem Nachlass. Der junge Wiener Student lernte die Literaten Richard Beer-Hofmann, Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal kennen und war fasziniert vom Wiener Burgtheater. Daher verwundert es nicht, dass Bubers erster Artikel aus Wien 1897 eine polnische Studie über Hermann Bahr, Hofmannsthal, Peter Altenberg und Schnitzler war ("Z literatury wiedenskiej"), die hier in deutscher Erstübersetzung erscheint. Sie ist ein Spiegelbild von Bubers Wiener Zeit, in der er sich unter Intellektuellen und Literaten bewegte, deren Treffpunkt das Kaffeehaus und deren gemeinsames Merkmal, wie Treml in der Einleitung zu Recht bemerkt, "ein radikaler Chic war, in den Zionismus und Nietzscheanismus, Dekadenz und Emanzipation der Geschlechter, Sozialismus und monastisches Geistesleben als durchaus gleichberechtigte Teile einflossen". Durch die erhaltenen Abgangszeugnisse und Kollegienbücher, die im Anhang des Bandes erstmals vollständig veröffentlicht werden, kann rekonstruiert werden, welche universitären Veranstaltungen Buber überhaupt besuchte.

Zugleich werden in Tremls ausführlicher Einleitung und dem beigegebenen Kommentar Bubers Texte kenntnisreich kontextualisiert, auch und gerade durch Ausblicke auf in diesen Band nicht aufgenommene Texte der frühen zwanziger Jahre aus dem Umfeld von "Ich und Du" (1923). Auf diese Weise ergibt sich ein facettenreiches Bild der intellektuellen Such- und Textbewegungen des jungen Zarathustriers Martin Buber. Man mag vielleicht die Frage diskutieren, inwiefern es Treml manchmal an der gebotenen kritischen Würdigung von Bubers Texten mangeln lässt, insofern gerade der "Kriegsbuber" doch ein wenig verklärt erscheint. Dennoch muss mit aller Entschiedenheit betont werden, dass diese kritischen Rückfragen in keiner Weise den hervorragenden Gesamteindruck dieser Edition der Juvenilia Bubers nachhaltig beeinträchtigen können. Im Gegenteil: Treml gelingt es, neben und über Buber hinaus die (Re-)Konstitution des Judentums zwischen Akkulturation und Renaissance im deutschsprachigen Kulturraum vor und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg einzufangen. Damit leistet der Band auch einen wichtigen Beitrag zu der essentiellen Frage nach dem Jüdischen Nietzscheanismus. Ähnlich wie die Sammelbände von Golomb und Stegmaier/Krochmalnik werden die wechselseitigen Beziehungen zwischen Nietzsche und der jüdischen Kultur ansichtig, indem die freundliche, teilweise sogar enthusiastische Aufnahme von Nietzsches Schriften durch jüdische Intellektuelle wie Buber, aber auch Freud, Kafka, Rosenzweig, Benjamin, Scholem u.a. nachgewiesen wird. Buber betreffend darf man sich, die gleiche hohe Qualität wie Band 1 vorausgesetzt, auf die restlichen 20 Bände der Ausgabe freuen. Incipit Buber novus.


Titelbild

Werner Stegmaier / Daniel Krochmalnik (Hg.): Jüdischer Nietzscheanismus.
De Gruyter, Berlin 1998.
476 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3110153610

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Jacob Golomb (Hg.): Nietzsche und die jüdische Kultur.
Übersetzt aus dem Englischen von Helmut Dahmer.
WUV Universitätsverlag, Wien 1998.
284 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-10: 3851143647

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Martin Buber: Werkausgabe. Band 1: Frühe kulturkritische und philosophische Schriften 1891-1924.
Herausgegeben von Paul Mendes-Flohr und Peter Schäfer unter Mitarbeit von Matthias Urban. Bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Martin Treml.
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2001.
396 Seiten, 84,00 EUR.
ISBN-10: 3579026755

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch