Siegfried - ein moderner Held?

Jürgen Lodemanns Nibelungenepos mutet Lesern viel zu

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von den Generationen, die nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland geboren wurden, kann man nicht ohne weiteres erwarten, dass sie das Nibelungenlied kennen. Anders verhält es sich dagegen mit jenen, die, wie der 1936 in Essen geborene Schriftsteller Jürgen Lodemann, zur Nazizeit oder früher das Licht der Welt erblickten. Für sie war die Kenntnis des deutschen Nationalepos über Nibelungentreue und Heldentod bis 1945 geradezu eine "heilige Pflicht". Warum das so war, wollte Lodemann ergründen.

Zwanzig Jahre lang hat er recherchiert, sich in den Archiven umgetan, Urkunden studiert und Akten gewälzt, um zu erfahren, was es eigentlich mit dem Nibelungenepos auf sich hat und was Schreiber, Gelehrte und insbesondere die Nazis an ihm ideologisch verfälscht haben. Lodemann hat jedoch die Geschichte nicht nur neu erzählt und umgedeutet, sondern hat offensichtlich alles verwertet, was er zur Nibelungensage finden konnte und was irgendwie dazu passte und was ihm dazu eingefallen ist (und das ist eine ganze Menge), so dass sein Buch ein nahezu unlesbares Format angenommen hat. Allerdings ist der Schriftsteller seinen Lesern auch entgegen gekommen, indem er alle Übersetzungen und Funde in roter Farbe direkt in den Text eingeschoben hat, so dass dem Leser das Aufsuchen von Fußnoten oder Anmerkungen erspart bleibt.

Lodemann zufolge wurde die älteste Geschichte aus der Mitte Europas im 5. Jahrhundert aufgezeichnet, teils lateinisch, teils in der Volkssprache und unmittelbar danach von Kilian Hilarus von Kilmacduagh ins irische Keltische und im 19. Jahrhundert von John Schazman ins Englische übertragen. Er selbst habe es nun ins Deutsche übersetzt, mit den wahrscheinlichsten Quellen verglichen und mit Erläuterungen versehen, bekennt Jürgen Lodemann und gibt sich damit, wie unschwer zu erkennen ist, als Übersetzer und Kommentator seines eigenen Werkes aus.

Der voluminöse Band beginnt mit einem Schreiben von John J. B. B.Schazman an seine Leser. Schazman bekennt in seinem Brief vom 9. 11. 1848, dass er in Irland keinen Verleger für die von ihm ins Englische übersetzte Kelten-Chronik gefunden habe. Ein Mönch namens Kilian habe vor Jahrhunderten "diese unerhörte Geschichte vor den kirchlichen Kontrolleuren" gerettet. Schazmans Übertragung ins Englische verblieb, erfahren wir weiter, nach dessen Tod in den Beständen der Buchhändler-Dynastie Kenny in Galway. Ferner wird uns mitgeteilt, dass Kilian seinem in Lorch eingekerkerten Freund Gislaharus unbeschriebene Pergamente in die Todeszelle gebracht habe, damit er aufschreibe, aus welchem Grund er verurteilt worden sei, wer den Gast aus den Niederlanden, "Krimhilds geliebten Freund", ermordet und wie überhaupt alles begonnen habe. Ins Gefängnis war Giselher, jüngster Sohn des burgundischen Königs Gundomar, gekommen, weil er den Namen des Mörders laut herausgeschrien hatte, woraufhin er auf Hagens Geheiß "wegen Hochverrats" ebenfalls zum Tode verurteilt werden sollte.

Die nun in der Todeszelle aufgerollte Liebesgeschichte des Drachentöters Siegfried zur schönen Königstochter Krimhild spielte sich im 5. Jahrhundert ab. In dieser Zeit geht das Römische Imperium unter, während in der Mitte Europas die heidnische Welt von der neuen Ordnung des Christentums abgelöst wird. Die Zeiten sind unruhig und kriegerisch. Manchmal aber geht es auch wunderlich und verwunschen zu, da hin und wieder noch die alten Götter, Zwerge und Kobolde mitmischen. Worms jedoch, wo die Burgunder regieren, ist zu jener Zeit ein spießiges und enges Nest, ein richtiger "Krämerwinkel".

Bevor Siegfried, der Mann aus den Niederlanden, Xantener Königssohn und Nachfahr des Cheruskerfürsten Arminius, im Jahr 485 am Wormser Hofe auftaucht, wird über ihn schon viel gemunkelt und erzählt. Der stets grämlich und verbittert aussehende Wormser Bischof Ringwolf sah in Siegfried von vornherein einen Barbaren und "Antichristen". In Wirklichkeit jedoch war Siegfried, so wie ihn Lodemann uns präsentiert, intelligent und einfallsreich, ein römisch gebildeter Kelte, "einer, der die Dinge der Welt nicht nur liebte, sondern auch mit gutem Verstand durchschaute."

Er erschien "wie ein Komet", vermerkt Giselher in seinen Aufzeichnungen: "allzu hell leuchtete er auf und tauchte ein in unsere Wormsische Enge. Der Lebhafte, der Liebhaber, der Arbeitswütige",.

Siegfried erweist sich als überaus friedfertig. Ist er doch alles andere als ein derber, wilder Kraftriese oder nordischer Kriegsheld, wie er oft in anderen Chroniken verherrlicht wird, noch hat er Ähnlichkeit mit dem kampfbereiten Germanenkrieger am Giebel des Berliner Reichstagsgebäudes. In Wirklichkeit, versichert uns Lodemann, war Siegfried ganz anders. Er war liebenswürdig und redegewandt, ja sogar witzig und geistreich und besaß im Gegensatz zu seinen burgundischen Gastgebern weltläufige Umgangsformen. Er war einer, der seinen Tacitus wohl kannte und daher wusste, dass dieser einst über dieses Land geschrieben hatte: "Verwahrlosung bei allen, und Blödigkeit bei den Häuptlingen". Gunther versprach Siegfried sogar einen Wasserlauf zu bauen, "einen, der Rhein und Donau zusammenbringt". In roter Schrift fügt Lodemann hinzu: "Der Kanal zwischen Rhein und Donau wurde unter Karl dem Großen begonnen, vollendet unter Franz Josef Strauß." War Siegfried mithin womöglich auch ein Vorläufer des späteren bayerischen Ministerpräsidenten?

Wie dem auch sei. In erster Linie ist Lodemanns Siegfried ein mit allen Wassern gewaschenes redegewandtes Multi-Kultitalent, polyglott, fröhlich, keiner Obrigkeit hörig und in seinem Denken und Handeln nicht nur Gunther und seinen Mannen, die gegen ihn plump und unbeholfen wirken, sondern seiner ganzen Zeit weit voraus, ja er wirkt wie ein moderner Zeitgenosse unseres Jahrhunderts. Er respektiert die Kräfte der Natur und sagt unumwunden, als man ihn ausfragt: "Ein Sohn dieser Welt bin ich, der die ganze Welt bewohnt nach eigenem freien Ermessen. Jedenfalls kein solcher Schwachkopf, der nie über seine Zäune schaut."

So einen fröhlichen, lachenden und liebenden Menschen, der nur das Gute will, können jene, die die Herrschaft der Kirche und des Kreuzes vertreten, nicht brauchen. Aus Staatsraison, Machtgier, Neid und Furcht vor Rebellentum wird er schließlich vom Machtstrategen Hagen umgebracht. Aber auch Hagen hatte nur als Scherge eines klerikalen "Befehlssystems des Todes" agiert.

Chronist Lodemann deutet den Mord an Siegfried "als Anfang des neuen europäischen Imperiums".

Despektierlich über die christliche Kirche äußert sich indessen nicht nur Strahlemann Siegfried in dieser Chronik. Spott und Schmäh über die Kirche, ihre Diener und ihre Leidens- und Todesreligion, "die das Leben und die Welt verachtet", gießt auch sein Verfasser aus, sobald sich die Gelegenheit dazu ergibt. Er geißelt die Heuchelei der Kirchenmänner, die "Leidenslust und die Hörigkeit und Unterwürfigkeit, mit denen die neue Kirche [...] jeder Herrschaft die nützlichsten Dienste tut."

Selbst der christliche Antijudaismus wird gelegentlich kurz gestreift, und als einmal der Verdacht, Siegfried ermordet zu haben, auf den jüdischen Edelsteinkaufmann Hirsch gelenkt und dieser darauf vom Pöbel zu Tode gehetzt wird, steht der Bischof dabei und versagt, wie alle anderen auch, dem Armen seine Hilfe. Lodemann schiebt an dieser Stelle einen Brief von Konrad Adenauer ein, den der spätere erste westdeutsche Bundeskanzler am 23. 2. 1946 an einen katholischen Geistlichen schrieb, in dem er die Überzeugung ausspricht, dass auch die Bischöfe "eine große Schuld an den Vorgängen" im "Dritten Reich" gehabt hätten. "Sie hätten vieles verhindern können", meinte Adenauer. "Das geschah nicht, dafür gibt es keine Entschuldigung."

Giselher beschließt in Lorsch seine Aufzeichnungen am 29. Mai 487 und schreibt: "Die Lebensgöttin Gaia haben wir verloren an den neuen unnahbaren Leidensgott der Herren. Und weil daran auch meine irischen Freunde nichts mehr werden ändern können, so beende ich, bevor ich nun mitziehe zu den Hunnen, meine Chronik mit einer Klage über des Menschen Not, die von nun an fest eingemauert ist. Wehe, der Liebhaber, der Freiheitsfreund, der Freund der ,Leute', er wurde beseitigt. Wehe über die Ächtung des Begehrens, das immer ein Begehren nach Freiheit des Kopfes war wie nach liebender Nähe, quod hic et nunc succubuit dominationi terroris terrarum, ,was hier und jetzt unterlag einer weltweiten Schreckensherrschaft'."

Vom 6. Buch an schildert der Mönch Kilian Hilarus den Aufbruch der Burgunder, oder wie sie sich nach Siegfrieds Tod auch nennen, der "Nibelungen", ins Hunnenland und wie sie dort alle nach und nach den Tod fanden.

"Von nun an, so scheint es", heißt es auf den letzten Seiten, "ist die Welt in der Gewalt der Höllenverwalter und Angstbeamten, die den ewigen Lebenswirrwarr verachten, ja, verteufeln." Kilian endet mit einem Gebet: "Gesamtheit der göttlichen Dinge, rette dem Menschen die Ehrfurcht vor dem einmaligen, vor dem heiligen Leben und vor dieser wunderbaren Welt."

Kein Zweifel, Lodemann schreibt in bester, aufklärerischer Absicht, wobei der Schalk, der Humor, die Ironie und damit das Lesevergnügen keineswegs zu kurz kommen, zumal das Ganze flott und spannend erzählt ist. Voll Hingabe malt der Autor manche Szene genüsslich aus, etwa jene, in der Siegfried die wilde, starke Brünhild an Stelle von Gunther bezwingt oder den dramatischen Streit der beiden Königinnen Brünhild und Krimhild vor dem Wormser Kirchenportal, mit dem das Unheil begann. Gleichwohl kann man sich mitunter des Eindrucks nicht erwehren, dass der Chronist zu dick aufträgt und arg übertreibt, so dass man sich schließlich fragt, ob sich Jürgen Lodemann die blutrünstige Geschichte der Nibelungen (denn eine solche bleibt sie wohl oder übel) nicht doch allzu sehr nach seinem Gusto zurechtgelegt hat und die Helden so denken und handeln lässt, wie er es wünscht. Siegfried beispielsweise ganz nach seinem eigenen Weltbild, das er offensichtlich für der Weisheit letzten Schluss hält.

Zwischen den Zeilen spürt man immer wieder deutlich: hier schreibt ein Autor, der die Bestrebungen der 68er Jahre verinnerlicht hat und aus diesen heraus seine Gestalten und ihr Tun beschreibt,

In der Tat, ein wuchtiger Roman, mit dem der Autor indessen mit all seiner Erklärseligkeit, barocken Sprachlust, seinen verspielten Anmerkungen, Glossen und seinen auf Deubel-komm-raus-Aktualisierungen Lesern arg viel zumutet.

Titelbild

Jürgen Lodemann: Siegfried und Krimhild. Roman.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2002.
888 Seiten, 29,50 EUR.
ISBN-10: 3608935487

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