Doppelt groß und weise

Die Freundschaft Lessings zu Moses Mendelssohn in Vera Foresters Doppelbiographie

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Dienerin bringt auf dem Ölgemälde von 1856 die Kaffeeschalen für drei disputierende Herren. Zwei sitzen am Tisch, der rechte - in der schwarzen Kleidung eines Priesters - streckt seine Beine affektiert von sich, der linke, im rotem Rock, zupft sich das Spitzbärtchen. Denkt er nach oder ist er vielleicht irritiert, dass der Geistliche, dessen linke Hand auf einem Buch ruht, ihn am linken Arm fasst? Der dritte Mann - blauer Rock, goldbetresst - steht, missmutig auf den Geistlichen blickend, im Hintergrund.

Moritz Oppenheim imaginierte sich in diesem Bild "Lavater und Lessing bei Mendelssohn" eine gelehrte Sternstunde, die es nie gegeben hat. In jüdischen Kreisen sah man in der Darstellung, die als Lithographie weite Verbreitung fand, den Beginn für die gleichberechtigte Stellung des Judentums im deutschen Geistesleben. Man kann das Gemälde aber auch als Illustration eines Aufsehen erregenden öffentlichen Streites sehen, in dem höchst ungleiche Gegner kämpften. Der Zürcher Priester, Schriftsteller und Schwärmer Johann Kaspar Lavater hatte dem berühmten jüdischen Weltweisen Moses Mendelssohn nämlich 1769 das Buch "Beweise für das Christentum" zugeeignet und in dem gedruckten Widmungsschreiben gefordert, er solle das Werk widerlegen oder - so verstanden die meisten die Formulierung - zum christlichen Glauben konvertieren.

Für Mendelssohn gab es nur geringen Spielraum zur Antwort. Eine Widerlegung der "Beweise für das Christentum" war im christlichen Preußen ausgeschlossen, ein Glaubensübertritt war für ihn indiskutabel; dazu musste er auf jüdische Positionen wie auf seinen Ruf als Philosoph Rücksicht nehmen.

Obwohl viele aufgeklärte Köpfe Lavater kritisierten und Mendelssohn ermunterten, sich zur Wehr zu setzen, dauerte es ein Jahr, bis der jüdische Philosoph sich durch kluges Taktieren, interne Verhandlungen und stilistisch-intellektuelle Brillanz aus der gefährlichen Schlinge konfessionellen Streits gezogen hatte.

Jude in Deutschland zu sein, hieß selbst zur Blütezeit der Aufklärung und auch wenn man ein geachteter Philosoph war, als Objekt für Bekehrungsversuche dienen zu müssen. Im Grunde gab es für Mendelssohn doch nur einen, der ihm von Anfang an stets vorurteilslos und als Freund begegnete: Gotthold Ephraim Lessing.

Dieser gut aussehende, disputierfreudige Pfarrerssohn aus Kamenz, dieser "junge Gelehrte", Theaterautor und Kritiker war genauso alt wie der bucklige, stotternde, profund denkende Sohn eines Tora-Schreibers aus Dessau. Sie trafen 1754 in Berlin zusammen, als beide 25 Jahre alt waren, und freundeten sich rasch an: tief und dauerhaft! Denn ihre Gedanken entzündeten sich aneinander, sie trieben sich gegenseitig zu neuen Projekten an, sie diskutierten heftig, sie ergänzten sich, sie verteidigten einander, und sie lebten ein Freundesleben, das leider keine Schule machte in der deutsch-jüdischen Geschichte.

Diesem prominenten Ausnahmefall widmet sich Vera Forester in ihrem Buch "Lessing und Moses Mendelssohn. Geschichte einer Freundschaft" mit starker Leidenschaft und werbender Begeisterung.

Freilich fehlten Mendelssohn-Kapitel bisher in keiner Biografie Lessings (wie in der aktuellen und wundervollen von Will Jasper), Lessing fehlte in keiner über Mendelssohn, doch ein Doppelporträt lässt neue Korrespondenzen, Parallelen und Gegensätze erkennen. Das beginnt schon mit der von rigider Religiosität geprägten Herkunft und mit dem beiden gemeinsamen unstillbaren Wissensdurst. Nur konnte Lessing ihn mit Hilfe von Stipendien und elterlicher Unterstützung stillen, Mendelssohn dagegen musste als praktisch rechtloser Jude unter Gefahren, Verboten, ohne Geld und oft ohne Anleitung Wissen aufnehmen, wo immer er es nur finden konnte. Aufklärer im besten Sinne nennt man beide, und doch unterschieden sie sich stark, weil Mendelssohn empfindsamer und zugleich philosophischer dachte, Lessing kühler und literarischer.

Forester führt den Leser mitten hinein in die Zeit und in all die Wechselfälle der knapp drei Jahrzehnte währenden Herzens- und Verstandesbindung. Sie hat dabei keine Angst vor dem hohen Ton, vor Zuspitzung, deutlichen Worten, tiefer Empathie und klarer Parteinahme. Ihr Enthusiasmus für die beiden Männer und die kulturelle Tat ihrer Freundschaft steckt den Leser sofort an. Es gelingt ihr, die wohl ausgesuchten Briefe, theoretischen und poetischen Texte direkt zu uns Heutigen sprechen zu lassen. Wie selbstironisch und mutig poetisierte Mendelssohn beispielsweise seine sprachlichen und körperlichen Fehler! "Groß nennt ihr den Demosthen / Den stotternden Redner von Athen, / Den höckrigen Aesop nennt ihr weise - / Triumph: Ich werd in eurem Kreise / Doppelt groß und weise sein, / Denn ihr habt bei mir im Verein, / Was man bei Aesop und Demosthen / Hat getrennt gehört und gesehn."

Die Verbindung zwischen Lessing und Mendelssohn freilich, das beschreibt Forester ohne Beschönigung, kannte nach den ersten intellektuell-publizistischen Höhenflügen lange Phasen der räumlichen Distanz, des abgebrochenen Kontakts, der Einsamkeit. Doch Forester zeigt auch, dass selbst in diesen Phasen Übereinstimmungen zu beobachten sind zwischen den Werken beider und sogar zwischen ihren Biografien. So entsteht das bemerkenswerteste Dokument ihres gemeinsamen Denkens, ihrer Ziele und Hoffnungen, Lessings "Nathan der Weise", fern von Berlin, fern von Mendelssohn.

Man kann der Autorin vorwerfen, immer wieder zu stark zu vereinfachen, etwas viel Pathos zu verwenden, zu häufig anachronistisch zu argumentieren. Überhaupt hätte man ihr ein besseres Lektorat gewünscht, das schiefe Bilder, Stilblüten, sachliche Fehler ausgemerzt und die manchmal abgehackte Atemlosigkeit der Syntax beruhigt hätte. Doch das sind - wenn auch ärgerliche - Kleinigkeiten, die den Wert dieser fulminanten Doppelbiografie nur wenig mindern.

Nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb Gershom Scholem, die "deutsch-jüdische Symbiose" sei nicht gescheitert, sondern vielmehr nur ein Wunschtraum der Juden gewesen, der ohne Antwort der christlichen Seite geblieben wäre. Selbst die Dioskuren Lessing und Mendelssohn können im Letzten nicht als Gegenbeweis dienen. Lessing interessierte sich nur wenig für die jüdische Kultur, ihm blieb die Gesetzestreue seines Freundes wie der Juden insgesamt fremd, er suchte nicht, von dem Juden in gleicher Weise zu lernen wie der von ihm. Er schätzte den Philosophen und Aufklärer, den Kritiker und Poeten, schließlich den Freund Mendelssohn über die Maßen. Dass der ein Jude war, nahm er als eine zufällige Begleiterscheinung.

Auch insofern bildet das anfangs erwähnte Gemälde mehr ab, als der erste Blick erkennen lässt. Lessing steht im Hintergrund, beobachtet Lavater mit Missbilligung, doch er greift - wie in der Realität - nicht in den Streit ein. Weil aber die Fäden zwischen dem jüdischen Denker aus Dessau und dem christlichen Schriftsteller aus Kamenz so vielfältig und dicht gesponnen waren, hielt ihre Beziehung auch ein gewisses Maß an Unverständnis aus. So malen Oppenheim wie Forester das farbige Abbild einer Freundschaft, wie es sie reicher, anrührender und herzensklüger selten gab.

Titelbild

Vera Forester: Lessing und Moses Mendelssohn.
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2001.
260 Seiten,
ISBN-10: 3434505024

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