Selbstaufgabe als Aufgabe

Ingrid Biermann über Weiblichkeitsentwürfe von 1830 bis 1933

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wie die Einheit, d. h. die Exklusivität und Dauerhaftigkeit der Ehe, der Paarbeziehung und der Elternschaft, unter den Bedingungen moderner Lebens- und Arbeitsverhältnisse" in der Zeit des Vormärz bis zum Ende der Weimarer Republik "hergestellt" werden sollte, lautet die zentrale Frage in Ingrid Biermanns Studie über Weiblichkeitsentwürfe von 1830 bis 1933. Ihr Quellenmaterial setzt sich aus Ratgebern, Erziehungs- und Anleitungsschriften sowie aus Familien-, Mütter- und Frauenzeitschriften zusammen, von denen letztere größtenteils erst um die Jahrhundertwende erschienen sind. Darüber hinaus hat die Autorin Publikationen der gemäßigt-bürgerlichen und der konfessionellen Frauenbewegung herangezogen, die beide von einer grundsätzlichen Differenz zwischen den Geschlechtern ausgingen, insbesondere von der "mütterlichen Art" der Frau.

Hinsichtlich der Ehe kristallisieren sich, wie die Autorin feststellt, vor allem in der Ratgeberliteratur der Zeit zwei normative Modelle heraus. Im ersten werden die Rollen der Ehefrau und des Ehemannes zu einem Verhältnis "gleichgewichtiger Gegenseitigkeit" ausgestaltet. Im zweiten, ungleich wirkungsmächtigeren, trägt die Ehegattin hingegen eine besondere Verantwortung für die "Harmonie, Einzigartigkeit und Dauerhaftigkeit der Ehe". Von ihr hängt der Bestand der Ehe als "sexuellem Treuebund" ab. Zwar verlangt auch dieses Konzept von beiden Ehepartnern sexuelle Treue. "Betrügt" allerdings der Gatte seine Frau, erwartet die einschlägige Ratgeberliteratur von dieser, "seine 'Verwirrung' durch Liebe" zu "überwinden" und "nachsichtig" zu sein, damit er sie anschließend "inniger liebe als zuvor". Überhaupt muss die Frau als Gattin bereit sein, alles für ihren Mann zu opfern: "Hab und Gut und Leben", wie es in einem 1931 erschienenen Ratgeber von Wilhelm Schlatter heißt. Für eine Mutter gilt die eingeforderte Opferbereitschaft selbstverständlich auch gegenüber ihrem Kind, das allerdings in der Ratgeberliteratur meist als "sein Kind" firmiert. Mütterlichkeit ist hier also wesentlich durch "Aufopferung der Aufgabe eigener Interessen" codiert, und die Frau soll im Muttersein ihren "Hauptberuf" und ihre "Hauptidentität" sehen, um sich ganz auf die Familie und das Kind zu konzentrieren. Auch in den Frauenzeitschriften des untersuchten Zeitraums findet die Frau ihre - natürliche - Erfüllung in der Mutterschaft. In beiden motiviert darüber hinaus allein die Hoffnung auf Mutterglück "weiblicherseits zum Geschlechtsverkehr", der selbstverständlich nur in der Ehe stattzufinden hat. Die hier propagierte "Aufgabe der Ehefrau und Mutter", fasst Biermann zusammen, lässt sich als "Aufgabe der Selbstaufgabe" beschreiben.

Soweit birgt die Studie wenig Überraschendes. Richtig interessant wird sie erst dort, wo Biermann sich dem bürgerlich-gemäßigten Flügel der ersten Frauenbewegung zuwendet, deren Anhängerinnen, wie Biermann ohne große Mühe zeigt, in Übereinstimmung mit den in "Eheanleitungsbüchern" vertretenen Verhaltensregeln und Normen stehen. "Sexuelle Kontakte dürften nur in der Ehe stattfinden", so lautet etwa auch die allgemeine Auffassung der bürgerlich-gemäßigten und der konfessionellen (sowohl christlichen als auch jüdischen) Frauenbewegung. Die Idealisierung der Mutterschaft ist ebenfalls obligat. So spricht etwa Ellen Key vom "Mütter-Instinkt" und Helen Stöcker fasst "Mütterlichkeit als tiefsten Grundtrieb des Weibes" auf. Allerdings erweitern die Autorinnen der ersten Frauenbewegung den 'herkömmlichen' Begriff der Mutterschaft um den der "sozialen Mutterschaft", dem zufolge die mütterliche Haltung nicht an die biologische Mutterschaft gebunden ist, sondern Frauen überhaupt innewohne. Auch traten einige - wenn auch nur wenige - feministische Stimmen für das Recht auf ledige Mutterschaft ein, wie etwa Hedwig Dohm, Helene Böhlau und - von Biermann allerdings nicht erwähnt - Gabriele Reuter.

Beeindruckend ist Biermanns Analyse der politischen und gesellschaftlichen Gründe der prima facies unverständlichen Haltungen der Frauenbewegung zu bestimmten gesellschafts- und familienpolitischen Fragen. Ruft die Information, dass das um die Jahrhundertwende gesetzlich festgelegte Lehrerinnenzölibat in der Frauenbewegung nicht rundweg auf Ablehnung stieß, zunächst nur Kopfschütteln hervor, so versteht es Biermann, diese Haltung verständlich zu machen. Hinter der Begründung der feministischen Befürwortung des Zölibats, der zufolge der LehrerInnen-Beruf "die ganze Person der Frau erfordere", steckte Biermann zufolge "die Befürchtung der Abwertung der Arbeitskraft der Lehrerin gegenüber dem Lehrer". Auf den ersten Blick nicht weniger unverständlich ist das "Votum für die lebenszeitliche und enge Bindung von Mann und Frau in der Ehe", das von Vertreterinnen des Differenzansatzes "vehement zum Kanon emanzipatorischer Forderungen hinzugezählt" wurde, und der damit verbunden "Anspruch auf eine höhere Moralität der Frau". Eine Frau, "die nach Art des Mannes sündigt", so zitiert Biermann Gertrud Bäumer, werde "direktionsloser, würdeloser als irgend ein Mann". Verständlicher wird diese wohl nur verzweifelt zu nennende Propaganda der Ehe erst durch Biermanns Hinweis auf den damaligen 'Frauenüberschuss' und der aus ihm resultierenden ungesicherten und verachteten Existenz der "Alten Jungfern" und "übriggebliebenen Schwestern". Dass die "im Konzept der Dauerehe" allerdings "stillschweigend mitlaufende Vorstellung von einmaliger Wahl und richtiger Entscheidung" ebenso wie die "Forderung nach sexueller Unberührtheit der Partner bis zur Ehe" die für eine Liebesheirat "erforderlichen Voraussetzungen und Spielregeln" verkannte, sieht natürlich auch Biermann. Sie war, wie die Autorin kritisiert, "lebensfremd" und "nicht ohne Heuchelei". Warum sollten sich im Fin de siècle Frauen, die "auf sich selbst gestellt" sein wollten und die "Bevormundung durch Konventionen und familialen Bindungen" bereits abgeworfen hatten, "nun den Ratschlägen der Frauenbewegung unterwerfen", fragt Biermann nicht ohne Grund und hat dabei vielleicht Franziska zu Reventlow im Sinn.

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Ingrid Biermann: Die einfühlsame Hälfte. Weiblichkeitsentwürfe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Familienratgebern und Schriften der Frauenbewegung.
Kleine Verlag, Bielefeld 2002.
160 Seiten, 17,50 EUR.
ISBN-10: 3893703608

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