Die Nachricht vom Menschen

Franz Fühmanns "Vor Feuerschlünden" - Erfahrungen mit der Dichtung Georg Trakls

Von Waldemar KeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Waldemar Kesler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1975 erschien im Leipziger Reclam-Verlag erstmals in der DDR eine Auswahl aus den Gedichten und Briefen Georg Trakls. Zuvor hatte sich Franz Fühmann, der jene Auswahl vornahm, für die Rehabilitierung des ideologisch diskreditierten Expressionisten eingesetzt, dessen Werk ihm zuerst in einer Mainacht 1945 begegnet war. Der 23-jährige Wehrmachtssoldat wartete darauf, am nächsten Morgen nach dem zerstörten Dresden marschieren zu müssen. Die Lektüre der Gedichte verband sich mit dem Gefühl des Zusammenbruchs, den er rund um sich herum wahrnahm. Seit dieser Nacht begleitete die Dichtung Trakls Fühmanns Lebensweg.

Die ideologische Erziehung an der "Antifaschistischen Schule für Kriegsgefangene" ließ ihn jeden Schriftsteller und Dichter als Repräsentanten einer sozialen Schicht bewerten, der ausschließlich seine politischen Interessen im Wort verteidigt. Doch mit Trakl verhielt es sich anders. Die ästhetische Erfahrung dominierte. Und diese Erfahrung war es, durch die er sich herausgefordert sah. Trakl war längst gebrandmarkt als Vertreter der "Décadence", die den Verfall stilisiert anstatt eine soziale Utopie zu entwerfen. Entweder galt es, ihn zu verteidigen oder die Doktrin aufrechtzuerhalten. Beides nahm Fühmann ernst: Die Doktrin, indem er "noch durch die verzerrtesten Züge die Befreier von Auschwitz" hinter ihr sah. Und die Dichtung, die ihm das Andere zu Auschwitz bedeutete. Dieser in seiner Biographie verwurzelte Grundkonflikt beherrscht den Essay "Vor Feuerschlünden". Man kann davon sprechen, dass es der Versuch eines Menschen ist, die Erfahrung von Poesie im alltäglichen Leben zu verankern. Während der Arbeit an dem Auswahlband entschied sich das innere Ringen: "Trakls Gedicht, es hatte gesiegt."

Die einander widerstreitenden Lebensbereiche bestimmen die Doppelstruktur des Essays. Alltagsbeschreibung und Reflexionen über Dichtung stehen im Text nebeneineinander, ohne dass sie miteinander verbunden wären. Durch diese Anordnung wird das Einbrechen des Gedichts in die Lebenswelt, die Erschütterung durch das Verlangen, das "Andere" verstehen zu wollen, dem Leser plastisch vorgeführt. Die stärksten und ergreifendsten Stellen des Buchs sind diejenigen, in denen sich Leben und Dichtung im Menschen Franz Fühmann unmittelbar berühren: Wenn er sich nicht dazu überwinden kann, die Bände Trakls zu verbrennen, wie es ihm sein ideologischen Gewissen aufgetragen hat, oder wenn inmitten der Geschehnisse plötzlich der Gedanke an den Dichter Trakl kommt und ihn nicht wieder verlässt. Doch bleiben solch dramatische Szenen vereinzelt. Merkwürdigerweise sind gerade die Ausführungen zu Dichtung und Literatur geprägt von akademisch-trockener Tonart, wenngleich auch in diesen Absätze erscheinen, die erkennen lassen, wie "existentiell" Fühmann gelesen hat. Hier zeichnet sich das Bild eines Lesers ab, der zunächst dagegen ankämpft, sich ein Bild vom Dichter zu machen - ihn als "Feuergottheit" überhöht - und dann in einem Lernprozess die "Nachricht vom Menschen" sucht, Gedichte als umgeformte Erfahrungen betrachtet und diese wiederum durch die eigene Erfahrung zu übersteigen versucht. Woran der Text allerdings krankt, benennt sein Freund und Schüler Uwe Kolbe in seinem Nachwort treffend: Die Neigung Fühmanns, das Gedicht dem Zensor - dem bornierten, amusischen Leser - erklären zu wollen, wird in seinen Sätzen transparent und stößt diejenigen vor den Kopf, die sich seinen Erlebnisbericht als Leser gegenüberstellen, die für das Besondere der Literatur empfänglich sind.

Leser Trakls, die sich gewissermaßen einen Austausch von Liebhaber zu Liebhaber erhoffen, werden enttäuscht, weil das Gewicht weniger auf dessen Gedicht liegt als auf seinem exemplarischen Wert. Fühmann selbst bemerkt die biographische Zufälligkeit, die Trakls Dichtung zum Inbegriff der Gewalt werden ließ, mit der Dichtung in das Leben des Einzelnen einbrechen kann, und erklärt, dass ihm unter anderen Umständen Gottfried Benn oder Rilke ebenso wichtig hätten werden können. Sein großer Wert liegt aber darin, dass es die Dichtung in einer dichtungsfeindlichen Umwelt verteidigt und seinen Leser vor eine Herausforderung stellt: Es erwartet, dass er selbst bereit ist, eine "Nachricht" zu empfangen, die Nachricht vom Menschen Franz Fühmann.

Titelbild

Franz Fühmann: Vor Feuerschlünden. Anhang Georg Trakl.
Hinstorff Verlag, Rostock 2000.
500 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3356008692

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