Das Herz ist ein Sammler

Bodo Kirchhoffs "Parlando"

Von Antje EfkesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Antje Efkes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Parlando. Aus der Musik: Sprechgesang, vorgetragener Gesang, mehr gesprochen als gesungen. Laut Fremdwörter-Duden bedeutet parlieren: reden, plaudern, sich miteinander unterhalten. Parlare: italienisch für "sprechen, reden".

Im Mittelpunkt des Romans steht Karl Faller, Drehbuchautor, Mitte 30, alleinstehend, wohnhaft in Frankfurt am Main und der Ich-Erzähler. Sohn sehr junger Eltern, Kathi und Kristian, beide bei seiner Geburt gerade mal 17 Jahre alt, die zwar heiraten, sich aber trennen, als das Kind noch nicht einmal zur Schule geht. Der Sohn wird zunächst zu den Großeltern gebracht und kommt dann in ein Internat. Unzusammenhängend und sprunghaft entwirft dieser Erzähler ein Bild seines Lebens - ein einsamer, abgeschobener und herumgestoßener junger Mann, der seinen Platz auf der Welt noch nicht gefunden hat.

Bei der Suche nach dem eigenen Ich und der Vaterliebe kreisen seine Gedanken mehr und mehr um den bewunderten, aber immer weit entfernten und um so stärker herbeigesehnten Vater. Der Leser muss mühevoll die Erlebnisse Karl Fallers von den Episoden aus dem Leben Kristians trennen, da sie immer mehr verschwimmen. In epischer Breite bedient sich der Erzähler Karl dabei der Nuancen und Bedeutungen des Verbs "parlare", um seine präkere Vater-Sohn-Beziehung zu schildern.

Karl Faller beginnt mit einer Selbstbezichtigung: "Sprechen" im Sinne von "Gestehen". Am Neujahrsmorgen mit einer Kopfverletzung im Krankenhaus erwacht, behauptet er, die junge Frau erstochen zu haben, neben der man ihn niedergeschlagen im Park hinter der Alten Oper gefunden hat. Und obwohl sich auf der Tatwaffe "ein wahres Gedränge seiner Fingerabdrücke" findet, ist die Staatsanwältin Suse Stein von Fallers Unschuld überzeugt.

Sie ist gekommen, um Karl Faller als Zeugen "zum Reden zu bringen"; bald zeigt es sich, dass sie den Mann einfach "sprechen lassen" muss und er sie kaum "zu Wort kommen" lässt, da so viele Geschichten aus ihm heraussprudeln. Sie hofft, ihn rasch als unschuldig entlassen zu können, da einiges "zu seinen Gunsten" spricht, doch Karl Faller spielt auf immer mehr Geschehnisse an, die auf ihn als mehrfachen Mörder "hinweisen". Mit seinen Episoden und genial eingefädelten Abschweifungen verführt Karl die Staatsanwältin über Wochen zum Zuhören. Anfangs ist die Rede von einem zudringlichen Lehrer, den er als Schüler erschlagen haben will, und nach der verunglückten zweiten Ehefrau seines Vaters auch von seinen Eltern, die erst kürzlich ums Leben kamen und an deren Tod er sich die Schuld gibt. Suse Stein lässt sich immer mehr auf den sich selbst belastenden Faller ein, zumal seine Schilderungen Aufklärung "versprechen", da sie immer präziser und persönlicher werden.

Im Verlauf unzähliger Redeschwälle stellt sich heraus, dass der Sohn dem Vater nahe zu sein versuchte, indem er Kontakt zu dessen zahlreichen Liebschaften aufnahm. Damit ist der Erzähler bei einer neuen Geschichte, nämlich seinen eigenen Affären mit all diesen Frauen. Karl Faller fühlte sich nicht nur in der Kindheit vom Vater verlassen - sein Leben lang war dieser in der ganzen Welt unterwegs, um für seine Reiseführer "Fallers Stadtführer für Alleinreisende" zu recherchieren. Dem Sohn erscheinen nun die ebenfalls zurückgebliebenen Frauen als einzige Möglichkeit, die Verbindung zum Vater zu halten. Er will alles über Kristian wissen, um mehr über sich selbst zu erfahren.

Es ergeben sich immer mehr Blickwinkel und Perspektiven; nicht allein die Vergangenheit spricht in Kindheitserinnerungen zu Karl, sondern auch die Berichte der Geliebten sind vielstimmig. Leider bleiben die Frauenfiguren eindimensional, entstehen als Marionetten der konkurrierenden Männer nur klischeehaft. Dies lässt beide wie Angeber und Möchtegern-Sexgötter wirken.

Vielfach scheint Karl Faller der Staatsanwältin "eine Rede zu halten", das "Wort an sie zu richten", wie an ein grosses Auditorium. Interessanterweise grübelt er lange, wie er diese Frau "ansprechen" soll: Sie, Frau Stein, Frau Staatsanwältin oder gar Suse? Beide umgehen eine persönliche Anrede, auch als sie beginnen, schriftlich per Fax zu kommunizieren, nachdem Karl Faller, aus der Untersuchungshaft entlassen, mit den Stadtführern seines Vaters im Gepäck durch die Welt reist. Lange kommt es zu keiner "Verständigung", sie lässt ihn ausreden, er sie aber nicht zu Wort kommen; sie durchschaut ihn und die Geschichten nicht, er lässt sich nicht auf die Frau ein, "macht sich ihr lange nicht verständlich". Durch die vielen Wiederholungen und Abschweifungen wirkt das Buch streckenweise geschwätzig, und Suse Stein charakterisiert Karl Faller einmal treffend als "Aufschneider".

Eine dritte Geschichte ergibt sich aus der Odyssee auf den Spuren des Vaters, die von Marrakesch über Lissabon und Buenos Aires nach Mexico City führt - eine Fährte des Vaters, verfolgt vom Sohn und ebenfalls aufgenommen von Suse Stein. Vor allem die zitierten Reiseberichte, Streifzüge durch verwinkelte Gassen, Beschreibungen berühmter Plätze, Geheimnisse über das Leben in Lokalen und zwielichtigen Bars sowie "Klatsch und Tratsch" aus fremden Ländern machen den Roman lesenswert.

Karl Faller sagt von seinem Ich, dass es "eines Tages beschlossen hatte, seine Geschichte zu erzählen, oder die, aus der es hervorgegangen sein wollte". Wie viel ist also wahr an all den Erzählungen? Was ist Dichtung, was Wahrheit? Was ist reine Spekulation über den Vater? Oft muss der Leser erst ergründen, von wem überhaupt erzählt wird. Die Passagen wechseln ohne Vorwarnung - erst nach ein paar Seiten stellt sich heraus, dass Karl in den Notizen seines Vaters liest oder diese der Staatsanwältin vorliest, dass somit also Kristian spricht. Seine Stimme erklingt durch Textentwürfe, die der Sohn auf dem geerbten Laptop findet, und natürlich durch die Reiseführer.

Bodo Kirchhoff hat in einem Interview gesagt: "Die Grundidee des Romans war die Vorstellung, dass ich mit 17 einen Sohn gezeugt habe, [...] der sich nun mit mir beschäftigt. Um dieses Thema hat sich allmählich ein Stoff gruppiert, der um die Frage kreist, wie reagiert der Vater, wie denkt er - und wie denkt sein Sohn über ihn?" Der Sohn im Roman bewundert den Vater für den Erfolg mit den Reiseführern, für seine Erfolge bei Frauen und den Erfolg im Leben. Doch es ist ein weiter Weg, bis er erkennt, dass auch Kristian sich stets überfordert fühlte und selbst auf der Suche war.

Für Bodo Kirchhoff verbinden sich mit Reisen "Träume und Hoffnungen, auch wenn sie meistens nicht Wirklichkeit werden". Die Reiseführer bieten Kristian die Chance, eigene Sehnsüchte aufzuschreiben. Die intimsten Aussagen über ihn finden sich, wenn er von der "Stillsteherin" schreibt, einer Frauen, die sich auf den Plätzen der Städte ihr Geld durch stillstehen verdient. Diese "Fremde" ist in ihrer Rätselhaftigkeit und Verlockung ein Bild des Vaters für die Hoffnung, die "Suche" habe ihr Ende gefunden. Für Karl ist "sie" die einzige Geliebte des Vaters, die er selbst noch nicht erobert hat. In diesem "Irrbild" zeigt sich die Verblendung des Ich-Erzählers, der seinen Vater nur imitiert, sich in den vielen fremden Stimmen verloren hat und sich erst befreien muß.

Wie es sich bei der letzen Begegnung von Vater und Sohn schon andeutet, nimmt die Auseinandersetzung mit den Texten Kristians dem Erzähler den Zwang konkurrieren zu müssen, und Karl ist endlich bereit, sich mit Suse Stein zu "unterhalten". Zunächst "konferieren" sie am Telefon, sprechen dann von Angesicht zu Angesicht über Gemeinsames und finden zueinander. "Wer all die Stimmen in sich hat ausreden lassen, wird wohl am Ende die eigenen hören" - und das eigene Leben beginnen, mit einer Frau an seiner Seite, die nicht schon Teil des Lebens des eigenen Vaters war. "Das Herz ist ein Sammler" und Karl Faller macht sich daran, seine Erlebnisse zu einem Roman auszuformulieren.

Titelbild

Bodo Kirchhoff: Parlando. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2001.
550 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3627000846

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch