Berauschende Doppelfiktion

Javier Marías' 30 Jahre alter Roman "Die Reise über den Horizont"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei Javier Marías begegnen wir nun einem ähnlichen Phänomen wie bei Henning Mankell. Alle aktuellen Werke sind übersetzt, also greifen die Verlage, um den Boom kommerziell auszunutzen, auf "altes Material" zurück. Während sich bei Henning Mankells Wallander-Romanen durch die nicht chronologische Edition der Übersetzungen leichte Verwirrungen beim Leser einstellen konnten, machen wir bei Javier Marías eine völlig neue Erfahrung.

Sein nun erschienener dreißig Jahre alter Roman präsentiert uns eine bisher völlig unbekannte Facette - Marías als unterhaltsamer, am britischen Abenteuerroman (Joseph Conrad lässt grüßen!) geschulter Autor. Da ist noch nichts zu spüren von den philosophischen Gedankenspielen seiner später auch hierzulande erfolgreichen Romane "Mein Herz so weiß" oder "Morgen in der Schlacht denk an mich". Lediglich die langen, verschachtelten, sich oft über eine halbe Buchseite erstreckenden Sätze lassen Parallelen erkennen.

Doch auch der junge Marías war durchaus schon ein ambitionierter Autor, der dem Leser - trotz des rasanten Erzähltempos - einiges abverlangt. Der 1951 in Madrid geborene Autor hat in "Die Reise über den Horizont" ein raffiniertes literarisches Verwirrspiel inszeniert, dessen Handlung zwischen diversen Ebenen changiert und dem die altbewährte Roman-im-Roman-Konstruktion zugrunde liegt.

Es geht um den Nachlass eines unbekannten und früh verstorbenen Schriftstellers, der einen Roman über einen ebenfalls jung gestorbenen Schriftsteller namens Victor Arledge geschrieben hat. Das taktische Kalkül des damals gerade 21-jährigen Autors verdient Respekt. Er arbeitet mit einer komplizierten Mehrfachfiktion, die ihm alle erdenklichen künstlerischen Freiräume eröffnet.

Im Zentrum der Handlung steht der nachgelassene Roman über den Schriftsteller Victor Arledge, der mit einem illustren Personenkreis zu einer Weltreise aufbricht. Musiker, reichlich finanzstarke Snobs und vor allem viele Schriftsteller und Wissenschaftler bevölkern das Schiff, das Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Ziel Antarktis in See sticht. Ein kollektives Werk über diese Reise haben die Intellektuellen im Sinn. Doch es kommt ganz anders, denn schon in Tanger ist die Reise zu Ende. Wie es sich für die Parodie eines Abenteuerromans gehört, passieren spektakuläre Dinge: ein Offizier des Schiffs wird in Alexandria tot aus dem Meer gezogen, der zwielichtige Kapitän Kerrigan wirft eine Frau kurzerhand über Bord, und Victor Arledge vertieft sich immer mehr in das Privatleben des Musikers Bayham, der vor dem Reiseantritt gerade eine mysteriöse Entführung überstanden hatte.

Wie ein Detektiv heftet sich Arledge an die Fersen des Pianisten und dessen attraktiver Verlobter. So arrangiert Marías eine weitere Meta-Ebene, denn bei allen Vermutungen, Erinnerungen und Nachforschungen über Bayhams Entführung bleibt der Verdacht, dass er selbst die "Räuberpistole" erfunden haben könnte, um sich von seiner Frau zu trennen, oder dass er durch ihm verabreichte Narkotika zumindest Realität, Traum und Wahn bunt durcheinander mischt.

"Wissen Sie, ob Victor Arledge die Reise, von der das Manuskript berichtet, wirklich unternommen hat und ob die anderen Personen existiert haben?" Diese Frage stellt sich dem Nachlassverwalter und einer penibel forschenden Philologin.

Wahr oder unwahr? Dies spielt auf den diversen Erzählebenen in Javier Marías' Puzzlespiel überhaupt keine Rolle. Man springt mit ihm bereitwillig durch Raum und Zeit und ist von dem facettenreichen Figurenensemble und dem Anekdotenreichtum dieses Buches so berauscht, dass man dem Nachlassverwalter energisch widersprechen möchte, als er über das unveröffentlichte Werk seines verblichenen Freundes befand: "Der Roman ist letztlich nur mittelmäßig."

Marías war schon in jungen Jahren ein gerissener Stratege und hat sich ein Hintertürchen gebaut, durch das er aus der Autorenschaft hätte fliehen können. Doch das Misstrauen gegenüber dem eigenen Werk war unbegründet. Dieser frühe Roman ist mehr als nur eine Talentprobe; er zeigt Marías als Autor mit überbordender Fantasie und Fabulierlust. Davon möchte man mehr lesen.

Titelbild

Javier Marías: Die Reise über den Horizont. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Elke Wehr.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2002.
205 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3608932399

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