Man macht sich an den Menschen nur schmutzig

"Das Kalkwerk" als Hörwerk

Von Thomas HermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Hermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Konrads zogen in das Kalkwerk, gelegen am See, in den er, Konrad, sie werfen wollte, nach der Bluttat, dann aber doch davon absah, nach der Bluttat, die, wie Fro vermutet, oder Wieser, geschah, weil Konrad zum ersten Mal einen Hörverlust hatte, er, der eine Studie zu verfassen gedachte über das Gehör, das philosophischste aller Sinnesorgane, und für diese Studie missbrauchte er sie, die Konrad, seine verkrüppelte Frau, die ihm nicht auskam aus dem Kalkwerk, das er umbaute zu einem Labor, einem Zuchthaus, mit massiven Fenstergittern, in dem er seine Experimente an ihr trieb, im Wahn, täglich, stundenlang sprach er ihr Selbstlaute vor, oder Mitlaute, oder ganze Sätze, immer wieder, achtzigmal, hundertmal, als Gehörklangfarbenkontrolle, und sie musste kommentieren, sofort, bis sie zusammenbrach, bis er sie ermordete, und die Studie, und damit sich.

Ulrich Matthes spricht den Bernhard, und über Kopfhörer spricht er total, mit chronischer Präsenz. Matthes Stimme kommt von links hinten, von neben dem Ohr, die meisten Atempausen sind herausgeschnitten. Nach einer Pause, plötzlich, erfüllt das Gesprochene die Hirnmitte, bis zum Komma, dann bricht er von rechts ein, von schräg rechts vorne ungefähr, von über der rechten Nebenhöhle ungefähr, bis zum Komma, dann ist er wieder überall. So lotet die Technik das gesamte Hirnvolumen aus, das Hirn wird zum Raum, zum Kalkwerk, in dem er, Konrad, wie auf- und ab-, hin und herschreitend langsam verzweifelt. Matthes dekliniert diesen fortschreitenden Wahn - durch Empörung, mit leiser Grüblerei, voller Wut, in unschuldig dahin Gesagtem - durch sämtliche Gefühlszustände des hinwegdriftenden Konrad.

"Solange ich spreche, bin ich. Auch wenn man längst kannte, was da gesagt wurde - in ihrer Musikalität, in ihrer rhythmischen Gliederung, einer Endlos-Sinuskurve, waren die Texte unerreicht, musste man, selbst atemlos geworden, immer weiterlesen. So hat die Erfahrung des zuwenig Luft Kriegens den wüsten Atem des Sprechers erzeugt", schrieb Elfriede Jelinek in ihrem Nachruf auf Thomas Bernhard.

Wie kommt man Bernhard in einer Hörbuchbearbeitung bei, und wie seinen Sätzen? Regisseur Ulrich Gerhardt riss den unendlichen Satzbauten die handlungstreibenden Stücke heraus. Seite für Seite erwählte er einzelne Bruchteile und verband sie durch atemlose Schnitte. Aufgrund dieser Essenz darf der Hörer nie unaufmerksam sein. Das unmögliche Blättern und das unerbittliche Vorwärts des Vortrages verlangen höchste Konzentration. So bekommt das Rezipieren, in der Kombination von nahezu kompletter körperlicher Passivität und der unbedingt erforderlichen geistigen Agilität, einen meditativen Charakter.

Die Bernhard´sche Reflexion über das Schreiben und die Schwierigkeiten des Schreibens wird damit zur eigenen Reflexion über das Hören von Geschriebenem mit dem Thema des Schreibens über eine Studie des Hörens. Am Ende fehlte Konrad das Wichtigste: "Furchtlosigkeit vor Realisierung, vor Verwirklichung, Furchtlosigkeit einfach davor, seinen Kopf urplötzlich von einem Augenblick auf den andern auf das rücksichtsloseste um- und also die Studie auf das Papier zu kippen."

Titelbild

Thomas Bernhard: Das Kalkwerk. 2 CD.
Der Hörverlag, München 2002.
90 Minuten, 15,90 EUR.
ISBN-10: 3895849677

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