Biographie, kein Spiel

Erich Hackl rekonstruiert "Die Hochzeit von Auschwitz" mittels einer Polyphonie der Stimmen und Erinnerungen

Von Marcel AtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Atze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Das ganze Lager war angetreten, als die Kameraden aus dem Bunker kamen. Von der Desinfektion ließen wir als letzten Gruß die Dampfsirenen ertönen. Als sie an uns vorbeikamen, grüßten wir sie alle, indem wir unsere Mützen abnahmen. Sie hatten uns verstanden und grüßten wieder." So schildert Bruno Baum, ein stalinistischer Hardliner, in seinem Buch "Widerstand in Auschwitz" (1957) den 30. Dezember 1944. Die Evakuierung stand zwar kurz bevor, was die Lagerführung allerdings nicht daran hinderte, ein letztes Exempel zu statuieren. Das Urteil brüllte ein SS-Mann den 15.000 noch lebenden Männern entgegen, die fünf Todeskandidaten wurden einer nach dem anderen, wie es heißt, "unter die Schlinge" geführt. "Der letzte", liest man bei Bruno Baum weiter, "dessen Bild sich uns allen am unauslöschlichsten einprägte, war Viktor Wessely. Als stiege er auf eine Rednertribüne so frei und gelassen trat er auf den Schemel und rief mit seiner jugendlichen Stimme: ,Nieder mit der braunen Mordpest! Es lebe die Freiheit!'"

Nichts gegen die Gedächtnisleistung von Bruno Baum, doch mit der Erinnerung ist es bekanntlich so eine Sache. Bei den Hingerichteten handelte es sich um Piotr Piaty, Bernard Swierczyna, Ernst Burger, Rudolf Friemel und eben Ludwig Vesely. Sie waren wegen Fluchtversuchs und Zusammenarbeit mit Partisanen verurteilt worden, der Befehl kam direkt per Depesche aus Berlin, von keinem anderen als Heinrich Himmler. Die Mordszenerie gehört zu jenen Geschichten aus Auschwitz, die, weil sie vor aller Augen stattfand, auch von den Überlebenden häufig erzählt wird. Die letzten Worte von Vesely lauteten demnach: "Heute wir, morgen ihr." Obige Sätze, die Baum für Vesely überliefert, rief jedoch Rudolf Friemel in den beginnenden Tag. Unerwähnt bleibt bei Baum auch, in welcher Kleidung Friemel auf den Hocker stieg. Während die anderen Delinquenten die übliche Häftlingsmontur trugen, wurde er in einem mit Rosen bestickten Hochzeitshemd gehängt. Wie es zu dieser unerhörten Begebenheit kam, erfährt man in Erich Hackls "Die Hochzeit von Auschwitz".

Dem Lesepublikum ist Hackl seit jeher als ein Autor bekannt, der ausschließlich authentische Stoffe in kunstvoll erzählte Texte verpackt, dergestalt, dass die Grenze zwischen Fiktion und Dokumentation verwischt ist, ja manchem die beiden Gebiete sogar als ein vereinigtes Territorium erscheinen. Dass den Geschichten eine akribische Recherche vorausgegangen sein muss, kann sich zwar jeder denken, doch unmittelbar zu erkennen war Hackls detektivische Grundhaltung bislang nur selten. Anders verhält es sich beim soeben erschienenen Buch, das die Leser nach "Abschied von Sidonie" (1989) und "Entwurf einer Liebe auf den ersten Blick" (1999) erneut in Auschwitzlandschaften führt. Dieses Mal hinterläßt der Rechercheur Hackl einerseits absichtsvoll deutliche Spuren, indem etwa ausführlich von Archivreisen berichtet wird, andererseits erweist er sich als Arrangeur einer Vielzahl von Stimmen, die nur in ihrer Gesamtheit ein geschlossenes Bild liefern, ja einzeln nahezu wertlos sind. Der Spruch, den Alexander Kluge seinem aus dem Jahr 1962 stammenden Band "Lebensläufe" vorangestellt hat, besitzt auch für "Die Hochzeit von Auschwitz" uneingeschränkte Gültigkeit. Kluge warnte damals seine Leser, die jeweiligen biographischen Erzählungen seien "teils erfunden, teils nicht erfunden; zusammen ergeben sie eine traurige Geschichte. Es mag darauf hingewiesen werden, dass sich gelegentlich auch kurze dokumentarische Passagen und Einblendungen aus fremden Texten finden."

Hackl macht sich Kluges Prinzip zwar zu eigen, trotzdem ist für ihn die zu erzählende Biographie kein Spiel. Er collagiert die traurige Geschichte von Rudolf Friemel und dessen Frau Marga Ferrer aus nicht weniger als zwölf Perspektiven, was damit zu tun haben dürfte, dass die unterschiedlichen Gewährsleute nur einen bisweilen recht kleinen Teil des Gesamtgeschehens kennen. Über den Grad der Bearbeitung oder gar der Fiktionalisierung der Aussagen schweigt sich Hackl jedoch aus, was sein gutes Recht ist, denn schließlich wird das Buch ja als literarischer Text ausgewiesen. Ergänzt wird diese Form der Oral History durch allerlei Dokumente, die sich in einem Splitternachlaß Friemels fanden, der, so jedenfalls die Auskunft, in eine Schuhschachtel gepaßt hat. Diejenigen, die zum erzählerischen Mosaik beitragen, nennt Hackl in einer Nachbemerkung gar namentlich. Dazu zählt ein Polizeibeamter und Nazimitläufer, für den der Kommunist Friemel schon im Wien der 1930er Jahre nur "ein rotes Tuch" war. Ein österreichischer Spanienkämpfer gibt Zeugnis vom ehemaligen Frontkameraden Rudi. Und die Schwägerin Marina Ferrer berichtet davon, wie sich ihre Schwester und der Brigadist während des Bürgerkriegs ineinander verliebten. Marinas Beiträge gehören neben jenen der Stiefbrüder Norbert (ein Sohn Friemels aus erster Ehe) und Edouard (der gemeinsame Sohn von Rudi und Marga) zu den zentralen Erzählerparts. Diese sind in keinem Fall mit Namen gekennzeichnet und wechseln ständig filmschnittartig, was eine gewisse Aufmerksamkeit beim Leser voraussetzt. Marinas zu Beginn der Suche nach Friemel gestellte Frage beschreibt auch Hackls poetologisches Problem: "Soll ich seine Geschichte erzählen? Willst du sie hören? Ich warne dich: Da sind nur Bruchstücke seines Lebens, und in meinem Kopf ergeben sie kein klares Bild. Die Jahre vergehen wie im Flug, und wenn man Rückschau hält, ist es zu spät, Einbildung und Wirklichkeit auseinanderzuhalten."

Hackl wurde auf das Ereignis einer Hochzeit im Lager offenbar von Hermann Langbein (1912-1995) hingewiesen, der, wie Friemel, zur kommunistischen Kampfgruppe Auschwitz gehörte. Langbein hatte es sich als Überlebender der Lager Dachau, Auschwitz und Neuengamme auferlegt, das Wissen um die Todeslager mit seinen Büchern stets zu vermehren. Berühmt ist etwa der gemeinsam mit H. G. Adler und Ella Lingens herausgegebene Band "Auschwitz. Zeugnisse und Berichte", der 1962 erstmals erschien, bis heute mehrere Auflagen erlebte und auch Hackl als wertvolle Quelle dient. Zu erwähnen ist weiter seine zweibändige Dokumentation zum Auschwitz-Prozeß (1965). Denn schon vor vierzig Jahren wurden die von Hackl behandelten Ereignisse vor dem Frankfurter Schwurgericht thematisiert, wie man den im Fritz-Bauer-Institut befindlichen Tonbandprotokollen entnehmen kann. Die Zeugin Raya Kagan etwa, die im Standesamt Dienst tat, berichtete dem Vorsitzenden Richter: "Also es war in Auschwitz eine Heirat, ist vorgekommen, nämlich im Februar 1944. Das war der Reichsdeutsche Rudi Friemel. Der hatte seine spanische Frau heiraten müssen nach dem deutschen Gesetz. Und dieser arme Friemel wurde Ende 44 gehängt." Nachzulesen ist das Schicksal auch in Langbeins Standardwerk "Menschen in Auschwitz" (1972): "Der Wiener Rudolf Friemel hat in den Reihen der Internationalen Brigaden in Spanien gekämpft und in diesem Land eine Spanierin nach dem in der Republik geltenden Recht zivil geheiratet. Nach der Niederlage der Republik wurde Friemel wie die meisten seiner Genossen in Südfrankreich interniert. Schließlich landete er in Auschwitz. Seine Frau, die ebenfalls emigriert war und einem Sohn das Leben geschenkt hatte, zog zu Friemels Vater nach Wien. Da das Franco-Regime in der Republik geschlossene Zivilehen nicht anerkannte, war die Ehe Friemels auch für deutsche Behörden ungültig. Deswegen bemühten sich sowohl der Vater als auch die Frau Friemels hartnäckig darum, daß Rudi Friemel seine Frau nochmals nach deutschem Recht heiraten könne. Ein entsprechendes Gesuch landete schließlich auf dem Schreibtisch Himmlers. Himmler entschied das Gesuch positiv. Vater, Frau und der kleine Sohn erhielten die Erlaubnis, nach Auschwitz zu kommen, Rudi durfte sich die Haare wachsen lassen. In Zivilkleidern ging er am 18. März 1944 zum Standesamt von Auschwitz, wo sonst ausschließlich Todesbescheinigungen ausgestellt wurden, und die Ehe wurde nochmals nach deutschem Recht geschlossen. Da Himmler persönlich die Erlaubnis erteilt hatte, räumte die Lagerführung Friemel ungewöhnliche Rechte ein: Im Erkennungsdienst, wo sonst nur Aufnahmen gemacht wurden, die Verbrecheralben füllen, ist ein richtiges Hochzeitsbild aufgenommen worden. Im Bordell des Lagers wurde dem Paar für eine Nacht ein Zimmer zur Verfügung gestellt."

Soweit die Fakten. Freilich findet der Interessierte bei Hackl wesentlich mehr. Überliefert ist etwa das an das Reichssicherheitshauptamt gerichtete Heiratsgesuch. Überliefert ist genauso Himmlers Genehmigung. Überliefert sind die Briefe, die Rudi aus dem Bunker an seine Frau schicken konnte. Tatsächlich ist also eine Hochzeit in Auschwitz möglich gewesen: "Heiraten im KZ. Wo alle nur sterben", heißt ein von Hackl aufgezeichneter Satz. Doch so einfach entwickelt sich dieser Plot nicht aus den zu vernehmenden Stimmen. Denn Hackl nutzt in seiner Montage die sich nicht selten widerstreitenden Aussagen, um neben einer Polyphonie der Stimmen gewissermaßen auch eine Vielzahl von divergierenden Erinnerungen zuzulassen. So entsteht nicht eine auf Linie gebrachte glatte Biographie, sondern der Leser wird sich zuweilen ein eigenes Urteil darüber zu bilden haben, welche der mitgeteilten Versionen denn stimmig erscheint und welche nicht. So behauptet Marina, Rudis Vater sei Nazi gewesen: "Er hat seine eigene Frau denunziert, so muß es wohl gewesen sein, anders kann ich es mir nicht erklären, daß die Frau in ein Konzentrationslager gekommen ist. Dort wurde sie ermordet." Norbert, Friemels Sohn aus erster Ehe, hält dem entgegen: "Das ist absoluter Blödsinn. Ich kann mir nicht vorstellen, daß mein Vater solche Lügen verbreitet hat." Seine Großmutter sei in Wahrheit an Krebs gestorben. Diese ungewissen Erinnerungsspuren durchziehen die Erzählstrecken leitmotivisch. Die Befragten zeigen sich trotz aller Auskunftswilligkeit bei der Gedächtnisrekonstruktion verunsichert, die Erinnerung scheint mitunter unrettbar verschüttet. So ist das Berichten häufig vom Konjunktiv beherrscht, der Glaube an die "Zeitzeugenschaft", wie es an einer Stelle heißt, ist mehr als einmal erschüttert. Zudem will Hackl in Gestalt der kaum aktiv werdenden Erzählerinstanz nur eingeschränkt zur partiellen Erhellung dieser im Dunkeln liegenden Gedächtnisabschnitte beitragen, wenn er dokumentarisches Material, wie ein überliefertes Notizbuch Friemels, als Gerüst nutzt, um in mehreren Alternativen zu beschreiben, wie es gewesen sein könnte. Eine solche durch und durch fiktionale Passage leitet er mit "Gut möglich" ein, um sie mit "Oder auch nicht" um eine zweite und mit der Formulierung "Es ist nämlich auch denkbar" kurz darauf gar um eine dritte Möglichkeit zu bereichern. Gleichwohl bewegt sich alles in einem plausiblen Rahmen.

Der Erinnerungstopos bleibt auch in dem mit "Die Narbe" titulierten Teil des Buches präsent, in dem vor allem die beiden Söhne, die sich erst anläßlich der Buchpräsentation kürzlich in Wien kennengelernt haben, zu Wort kommen. Ohne Zweifel hat ihnen die Konfrontation mit Menschen, die den Vater kannten, bei dem Versuch geholfen, die verhüllte Erinnerung an ihn freizulegen, ganz so, wie es der Gedächtnistheoretiker Maurice Halbwachs in dem Klassiker "Das kollektive Gedächtnis" schildert, wenn dieser sich seinen früh verstorbenen Vater in Erinnerung rufen will. Alles Wissen der zeithistorischen Umstände, so meint Halbwachs, sei dafür unnütz: "Indessen, wenn ich jemanden treffe, der ihn gekannt hat und der mir Einzelheiten und Umstände über ihn mitteilt, von denen ich nichts wußte, wenn meine Mutter sein Lebensbild erweitert und vervollständigt und bestimmte Abschnitte erhellt, die mir dunkel geblieben waren - ist es dann nicht so, dass ich den Eindruck habe, in die Vergangenheit zurückzugehen und eine ganze Gruppe von Erinnerungen zu erweitern?" Aus dem blassen Schemen des vermeintlich Verlorenen kristallisiert sich für die Söhne Friemels allmählich ein brauchbares Bild. Edouard numeriert sogar die Erinnerungen von eins bis zwölf durch, eine davon ist die Zugfahrt nach Auschwitz zu seinem Vater. Für Norbert ist dieser Vater nach der Erinnerungserweiterung "ein Vorbild", obwohl ihm niemand habe beibringen können, "wie man einem Helden hinterherlebt".

Von Hackls Zeugen sind während der Arbeit an seinem Buch vier verstorben. In absehbarer Zeit wird es niemanden mehr geben, der den Holocaust überlebt hat. Welche Form der Überlieferung gibt es dann? Peter Weiss hat sich schon kurz vor seinem ersten Besuch im Auschwitz-Prozess (März 1964) Gedanken über diese Frage gemacht. "Zur Endlösung", steht in seinem Notizbuch: "es ist ja nur unsere Generation, die etwas davon weiß, die Generation nach uns kennt es schon nicht mehr. Wir müssen etwas darüber aussagen. Doch wir können es noch nicht. Wenn wir es versuchen, mißglückt es." Vielleicht hat Erich Hackl mit seiner Mischung aus fiktionaler und dokumentarischer Arbeit an einer Biographie ja gezeigt, wie ein geglückter Versuch in einer solch künftigen Erinnerungskultur aussehen kann. Eine endgültige Antwort freilich steht noch dahin.

Titelbild

Erich Hackl: Die Hochzeit von Auschwitz. Eine Begebenheit.
Diogenes Verlag, Zürich 2002.
192 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3257063245

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