Und immer dem Bache nach

Mit "Flußabwärts" schreibt Norbert Scheuer erneut ein Stück beunruhigender Regionalliteratur

Von Gunnar KaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunnar Kaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kall in der Eifel ist ein Ort, der schon bessere Zeiten gesehen hat. Bereits von Kelten und Römern wegen der Erzvorkommen geschätzt und früh besiedelt, erlebte Kall im 16. Jahrhundert wegen seiner Bergwerkshütten einen blühenden Aufschwung. Dann kam der Dreißigjährige Krieg, die Entdeckung billigerer Erzvorkommen in Übersee, die Zerstörungen im 2. Weltkrieg - Kall wurde zu dem, was es heute noch ist: ein vergessenes Städtchen am Rande der Welt, mitten in Europa.

Tragen wir nicht alle einen solchen Ort in uns herum? Leben wir nicht alle irgendwie in unserer eigenen unglücklich bezaubernden Eifel? Norbert Scheuer zeigt uns in den herben und nüchternen Bildern seines zweiten Romans diesen Landstrich in uns. Auch deshalb ist "Flußabwärts", das in der Eifel spielt, ein beunruhigendes Stück Regionalliteratur in ihrem besten Sinne. Das Genre der Dorfgeschichte, zu dem man den Roman zählen kann, umweht in der deutschsprachigen Literatur zumeist ein Hauch von sentimentalisierendem Kitsch, von harmoniebedürftiger Zivilisationskritik, die das einfache Leben in der Natur gegen die Verderbtheiten der Stadt ausspielt. Nichts von alledem ist hier zufinden. Viel zu beunruhigend bewegt sich die verhaltene Sprache zwischen den Schicksalsschlägen des Lebens hin und her. Viel zu präzise und gleichzeitig mitfühlend wird hier von den Menschen dieses Ortes erzählt. Da ist zum Beispiel die Mutter des Erzählers, die als Kellnerin arbeitet, um ihre Schulden abzubezahlen, und das in einer Gaststätte, die früher ihr gehörte. Dazu muss sie einen trunksüchtigen Mann aushalten, der nur zu ihr kommt, wenn er frische Wäsche braucht. Oder auch von Lia, deren Ehe scheitert und deren Tochter in den Fluten der Urft umkommt, während sie Job und Verstand zu verlieren droht. Von Leo, dem Erzähler, der im Zementwerk arbeitet, dauernd müde ist und ein Verhältnis mit der verheirateten Ingrid hat, und von all den anderen, die nie wegkommen und ihr Leben nicht in den Griff kriegen.

Viel zu beklemmend geschrieben sind all die kleinen Episoden und Szenen, in der schlecht gehenden Wirtschaft, in der Kantine, auf dem Parkplatz mit Tamaras Wohnwagen, auf dem verschneiten Sportplatz am Fluss. Überhaupt der Fluss. Scheuers Geschichte gelingt es, von einem alten Motiv unaufdringlich und lebendig Gebrauch zu machen, ohne dass es von ihr Gebrauch macht. Alles treibt dahin auf dieser Welt, wissen wir nicht erst seit Wilhelm Müller - "hinunter und immer weiter und immer dem Bache nach". Wenn man liest, wie hier die Figuren dem Strömen und Sprudeln nachlauschen, wie das Wasser in seiner elementarhaften Gleichgültigkeit gegenüber den Unbilden des Menschenlebens alles heranspült, mit sich trägt und fortreißt, kleine Gummientchen und eine Kindermütze, wie alles wie ein trunkenes Schiff abwärts drängt, dann weiß man, das der Fluss der heimliche Protagonist des Geschehens ist. Er tritt über die Ufer, bringt eine Menge Dreck zum Vorschein und zieht sich wieder in sein Bett zurück, als wäre nichts gewesen.

Aber ist denn wirklich was gewesen, fragt uns der Erzähler nach hundertfünfzig Seiten voller vom Fluss des Lebens unterspülter Schicksale. Etwas, was angesichts des teilnahmslosen Rauschens der Zeit noch erzählenswert wäre? "Niemand kann wirklich alles erzählen", lautet schließlich der Satz, mit dem der Roman uns in unser eigenes Eifeldorf voll kummervoller Schönheit entlässt.

Titelbild

Norbert Scheuer: Flußabwärts. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2002.
151 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3406493122

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