Aus den Jahrbüchern der Hölle

Mit "Tiere sehen dich an" erscheint der erste Band der Werkausgabe von Hans Wollschläger

Von Christoph JürgensenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Jürgensen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Werkbiographie Hans Wollschlägers ist einmal als "prekäres Äquilibrium" charakterisiert worden. 1975 machte ihn seine grandiose Übersetzung des "Ulysses" populär, und als 1982 der erste Band der "Herzgewächse oder der Fall Adams" erschien, lobte ihn die Kritik zwar vorsichtig, verschob das endgültige Urteil aber bis zur Publikation des zweiten Bandes. Seitdem hat Wollschläger sich der Edition der Werke von Karl May und Friedrich Rückert angenommen, ist als Musiker aufgetreten, hat aus seinen Essays und Reden rezitiert - aber der zweite Band der "Herzgewächse" steht noch immer aus. Nun ist bei Wallstein endlich der lange erwartete erste Band der "Schriften in Einzelausgaben" erschienen und verleiht Wollschlägers literarischer und publizistischer Produktion damit eine klassische Geschlossenheit, ohne dass das erzählerische Hauptwerk vorliegen würde.

Der erste Band dieser Werkausgabe, von der weitere nun in loser Folge veröffentlicht werden sollen, versammelt vier Essays und Reden aus den Jahren 1986 bis 2001. Im Zentrum des Bandes steht, allein schon auf Grund seines Umfangs sowie des brillanten rhetorischen Aufwandes, der titelgebende Essay "Tiere sehen dich an oder das Potential Mengele". Dieser erschien ursprünglich 1987 in der Zeitschrift "Die Republik" von Petra und Uwe Nettelbeck - eine Polemik, die durch Rinderwahn, Maul- und Klauenseuche und die kürzlich beschlossene Aufnahme des Tierschutzes ins Grundgesetz zu beträchtlicher Aktualität gelangt ist.

In "Tiere sehen dich an" widmet sich Wollschläger der grausamen, wirtschaftlich und wissenschaftlich begründeten Tierquälerei. Er skizziert die Bedingungen der Massentierhaltung, klagt das "kollektive Mitwissen" der Menschen am Massenmord an Tieren an und wirft der Wissenschaft vor, zu einer "Kategorie von Wirtschaft" verkümmert zu sein. Im Mittelpunkt der Streitschrift steht dabei eine entlarvende Kommentierung des Tierschutzgesetzes von 1986, in dem die Verantwortung des Menschen für seine "Mitgeschöpfe" zwar expressis verbis verankert ist, das aber für jede Schutzbestimmung zugleich eine Umgehungsmöglichkeit mitliefert.

Allerdings erweitert Wollschläger zugleich die Perspektive seiner Untersuchung, indem er die Tierquälerei in einen größeren Zusammenhang rückt. In seiner radikal-pessimistischen Weltsicht ist der Umgang des Menschen mit seinen Mitgeschöpfen nur ein, wenn auch bedeutsames Moment des "Großphänomens des Sadismus". Der Autor bedient sich hier des Instruments der Tiefenpsychologie für eine umfassende Analyse (vor allem) der deutschen Geschichte bzw. des deutschen Nationalcharakters, das sich im "Potential Mengele" personifiziert findet. Er konstruiert dabei eine zwangsneurotisch-sadistische Kontinuität von der Menschenquälerei der Nationalsozialisten bis hin zu den heutigen Tierquälereien und der Apparate- und Pillenmedizin, deren lebensfeindlich-mechanistisches Denken er jede Wissenschaftlichkeit abspricht und direkt für die Krankheiten der Menschen verantwortlich macht.

Die restlichen Texte des Bandes verstärken die Wirkung der Vorwürfe durch Wiederholung und Variation. Dennoch endet der abschließende Vortrag "Tiere - Rechte - Ethik" mit einer vorsichtigen Hoffnung auf das, was Goethe einmal als "Lebenswürde" bezeichnet hat: "Einen Augenblick lang immerhin lassen Sie uns, in aller Kindlichkeit, von dieser Vision berührt sein, die in den Anfang zurückkehrt; sie ist, dafür sorgt unser irdisches Realitätenkabinett, gleich wieder verflogen. Aber sie hinterlässt uns vielleicht Kräfte und Energie für neue Gedankengänge durch das alte Bild - und einen neuen Ratschlag gegen den Tod."

Titelbild

Hans Wollschläger: Tiere sehen dich an. Essays, Reden. Schriften in Einzelausgaben.
Wallstein Verlag, Göttingen 2002.
331 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-10: 3892445168

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