Krankheit als Metapher für eine untergehende Kultur

Yvan Golls Großstadtroman "Die Eurokokke" von 1927 als Faksimile

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieser kleine Großstadtroman Yvan Golls ist es wert, wieder gelesen zu werden. Er erschien 1927, im selben Jahr also wie die deutsche Übersetzung des "Ulysses", Heideggers "Sein und Zeit" oder auch der zweite Band von Hitlers "Mein Kampf". Das als Faksimile wieder aufgelegte Buch liest sich heute als ein vielschichtiges, über weite Strecken hochinteressantes und nach wie vor aktuelles Dokument jener kulturellen Krisenerfahrungen, Verfallsphantasien und angestrengten Selbstbehauptungsversuche, die sowohl für die literarische Moderne als auch für ihre Gegner prägend wurden.

Yvan Goll war im Paris der zwanziger Jahre einer der Wortführer der surrealistischen Bewegung. Dass deren enorme Nachwirkungen auch noch in die neuere französische Philosophie hineinreichen, gibt dem über sechzig Jahre alten Roman etwas von seiner gegenwärtigen Brisanz. Überhaupt nimmt sich der schmale Band wie ein stark verdichtetes Konglomerat von Themen und Motiven aus, die in der Literatur und Philosophie der letzten hundert Jahre, durch die Köpfe der schreibenden Subjekte hindurch, ein anonymes Eigenleben entfaltet haben.

Die Reflexionen dieses Paris-Romans über Angst und Tod erinnern an Rilkes "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge", die Konfrontation einer sterbenden Kultur mit der Vitalität amerikanischer Zivilisation könnte von Alfred Kubins apokalyptischem Roman "Die andere Seite" angeregt sein; was der Dichter über die sinnentleerte und gleichwohl existenzerhellende Krankheit der Langeweile schreibt, kann man als eine frühexistentialistische Entsprechung zu Sartres elf Jahre später erschienenem Roman "Der Ekel" lesen. Etliches gleicht Heideggers kulturkritischen Verdikten von der "Seinsvergessenheit" der Moderne oder Spenglers Spekulationen vom Untergang des Abendlandes. Und hinter allem stehen Nietzsches Nihilismusanalysen und Dekonstruktionen abendländischer Metaphysik.

Auf knappem Raum bündelt der Roman eine bunte Vielfalt großstädtischer Impressionen und Geschichten. Interesse und Sympathie des jüdischen Autors gehören vor allem den Außenseitern der Gesellschaft: Straßenmädchen, Bohemiens, Bettlern, Arbeitslosen, Kriminellen. Der Held identifiziert sich in seinem Verfolgungswahn mit einem von den Zeitungen genau beschriebenen Mörder. Die Stimmen der Menschen gehen jedoch unter in den lärmenden Stimmen der Stadt, werden "übertönt vom Eisen, vom Asphalt, von den Hupen, von den Schallplatten, von den Turbinen".

Alles spielt sich, wie in "Ulysses", an einem einzigen Tag ab. "Ich bin aufgewacht aus einem Traum, der sich hinter mir schloß wie ein vergoldetes Gittertor." So beginnt der Roman. Das Erwachen ist wie eine "Vertreibung aus dem Paradies", aus dem seligen "Schlummer der Taubheit, des Nichtwissens" in den Zwang zur Erkenntnis: "Ich kann nicht mehr schlafen, die Augenlider sind mir weggeschnitten. Ich muß die Augen hart, steif, gerade auf die Wahrheit richten, genau wie die toten, denen niemand sie schloß."

Die Wahrheit, die der Erzähler sehen muss, ist, dass es keine Wahrheit mehr gibt. Die Stadt besteht aus einer vielstimmigen Gleichzeitigkeit von Lügen, Fassaden, Verdrängungen und Simulationen, die alle eines verbergen: lähmende, sinnlose Leere. Sogar die Natur ist bloß noch "Staffage, Kulisse, Täuschung". Dafür stellt der Roman schon mit dem Titel jene surreale Metapher bereit, die schnell zum Zentrum des ganzen Textes wird: Eine furchtbare Krankheit hat Europa heimgesucht, ihr Erreger ist die "Eurokokke".

Entdeckt hat sie nicht zufällig ein amerikanischer Wissenschaftler, Repräsentant einer anderen Kultur, die jünger und vitaler als die Europas ist. Die "Eurokokke", erklärt er, "ist der Bazillus, der die europäische Kultur zerfrißt" und "einmal den Tod dieses Kontinents hervorrufen wird". Sie raubt den Dingen, Tieren und Menschen ihre innere Substanz, lässt sie jedoch äußerlich intakt. Sie tötet nicht, saugt aber die Kraft und den Geist aus. Zuerst hat der Amerikaner sie auf den Türmen von Notre Dame gefunden. Notre Dame sei heute "nur noch ein eingebildetes Gebäude, das der Realität nicht mehr dient, denn weder der Glaube noch Gott wohnen in ihm: die Eurokokke hat diese zerfressen".

Einige Jahre später entdeckte er den Bazillus an einem alten Buch. Es "war seines geistigen Gehaltes vollkommen entleert". Und zuletzt findet er die Eurokokke auch an einem menschlichen Wesen, in einem "dekadenten Cafe". Hier sitzt der Erzähler des Romans. Er selbst ist von dem Bazillus befallen, von der "Krankheit der Leere, auch Langeweile genannt", und er ist "der erste Europäer, auf dem die Eurokokke sich in sichtbarem Zustand entwickelt hat". Niemand hatte nämlich so wie er "den Atem und die Qualen der Stadt und dieser Zeit in sich eingesogen".

Was der einsame und verzweifelte Held noch als Verlust abendländischer Werte erleidet, beginnen andere Intellektuelle bereits als Gewinn einer anarchischen Freiheit zu schätzen. Der Freund des Erzählers predigt in der "Bar de l´Ennui" und später in der "Bar de la Mort" das Ideal der Ideallosigkeit. "Wir führen die okzidentale Kultur ad absurdum. Wir haben ihren Bankrott erklärt." Erst die Ideallosigkeit, die heroisch jeden metaphysischen Halt zurückweist, verschafft den Menschen ihr höchstes Gut: "Absolute Freiheit ist unser erstes und letztes Gesetz. Die Freiheit des Ich kommt vor der Moral, vor der Freundschaft, vor Gott. Wir haben ja nichts mehr zu verlieren. (...) Wir haben nichts mehr zu befürchten, wir haben unsere Geschichte hinter uns."

Axel Eggebrecht nannte das Buch 1929 in einer Besprechung "die Hymne des intellektuellen Nihilismus". Im instruktiven Nachwort zur Neuausgabe, die 1988 im Argon Verlag erschien, hat Joachim Sartorius dem widersprochen. Yvan Goll sei "mehr ein Mahner als ein Nihilist", der Agnostik und Trivialität seiner Zeit halte er eine neue (oder alte) Gläubigkeit entgegen. Beide Interpretationen verkennen, was die ästhetische Modernität dieses Romans ausmacht: die irritierende Standortlosigkeit eines Erzählers, der sich im permanenten Wechsel der Positionen und Perspektiven eindeutigen Fixierungen entzieht. Das Nachwort von Barbara Glauert-Hesse zur jetzt erschienenen Faksimile-Ausgabe informiert über Golls Versuche, die Fassung der Erstausgabe durch eine neue zu ersetzen. Für Goll war "Die Eurokokke" ein unabgeschlossenes, offenes Kunstwerk, ein Werk, "an dem ich mit meinem ganzen Erleben immer schreibe".

Über Paris ist in diesem so realistischen wie phantastischen Roman ein riesiges Plakat gespannt, das die nur an Reklame gewöhnten Passanten zutiefst verwirrt. In 28 Meter hohen Buchstaben steht da: "Wir wissen nicht". Das ist gegen jenen herrischen Willen zum Wissen gerichtet, durch den "alles entdeckt und alles technisch ermöglicht wird". Der Verzicht darauf wäre "ein neuer Anfang nach dieser Kultur".

In seiner programmatischen Skepsis unterscheidet sich Golls Roman von jenen kulturkritischen Entartungs- und Dekadenzverdikten, die schon immer gerne mit angsterregenden Krankheitsdiagnosen und verheißungsvollen Therapievorschlägen aufwarteten. Der in sich brüchige und widerspruchsvolle Text misstraut therapeutischen Rezepten und desillusioniert die Fluchtversuche in alte oder neue Gewissheiten. Sein Ende bleibt offen, das letzte Substantiv lautet: "Irrtum".

Titelbild

Yvan Goll: Die Eurokokke. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2002.
176 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 389244515X

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