Et in Kastalia nos

Hermann Hesses "Glasperlenspiel" als Hörbuch

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In memoriam Siegfried Unseld

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegensenden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden ...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

"Das Glasperlenspiel", an dem Hermann Hesse mehr als ein Jahrzehnt (1931-42) gearbeitet hatte, wurde nach der Veröffentlichung in der Schweiz und dem verspäteten Erscheinen in Deutschland (1946) als Summe aller bisherigen Texte des Autors gedeutet. Das Werk schien den in der Moderne verloren gegangenen scopus, das Versprechen umfassender Sinneinlösung, zu erfüllen. Einerseits lässt sich "Das Glasperlenspiel" zwischen Thomas Manns "Zauberberg" (1924) und "Doktor Faustus" (1947) einordnen, was die Gegenüberstellung einer geschlossenen Bildungswelt und einer bedrohlichen politischen Umwelt anbelangt. Andererseits wird die Totalität eines historisch-hermeneutischen Verweisungsgeflechts von Strömungen und Gegenströmungen, intellektuellen Transformationen und Wiederanknüpfungen selbst im Utopierahmen so entfaltet, dass sowohl der Vergleich mit der Möglichkeitsdialektik Robert Musils in "Der Mann ohne Eigenschaften" (1930-1943) als auch Hermann Brochs polyhistorischem Roman, etwa der "Schlafwandler"-Trilogie (1931-32), durchaus tragfähig erscheint. Die ästhetische Realisierung der Totalitätskategorie, aber ebenso das implizite Spiel mit Denkfiguren mehrerer Epochen verweist das "Glasperlenspiel" in eine solche Reihe großer frühmoderner Romane. Der Bruch mit jenen totalisierten Verweisungsgeflechten in der Nachkriegsliteratur hat ebenfalls dazu beigetragen, dass die Mischung klassizistischer und moderner Elemente im "Glasperlenspiel" nicht gesehen wurde.

Wesentliche Allegorie des Textes ist das Glasperlenspiel selbst, "ein Sichannähern an den über allen Bildern und Vielheiten in sich einigen Geist, also an Gott", das als hochpotenziertes und ausgeklügeltes "Spiel mit sämtlichen Inhalten und Werten unserer Kultur" zugleich die Entwicklung einer geistigen Elite planvoll fördert. Der fiktive Chronist der "kastalischen" Ordensgemeinschaft sieht die Geschichte dieser Spielidee in allen Kulturen vom alten China über die Antike und die Gnosis bis hin zu Scholastik und Humanismus wirksam. Als individuelle Vorläufer werden unter anderem Pythagoras, Leibniz, Hegel und Novalis genannt. Das Spiel verkörpert eine ewige Idee, den Drang des Geistes zur Einheit und Versöhnung: "Jeder Bewegung des Geistes gegen das ideale Ziel einer Universitas Litterarum hin [...] lag dieselbe ewige Idee zugrunde, welche für uns im Glasperlenspiel Gestalt angenommen hat." Es entstand in der Epoche des "feuilletonistischen Zeitalters", wie Hesse das 19. und 20. Jahrhundert kennzeichnet, einer vergangenen Geschichtsperiode, in der "der Geist eine unerhörte und ihm selbst nicht mehr erträgliche Freiheit genoß [...], eine echte neue Autoriät und Legitimität aber noch immer nicht gefunden hatte."

Der Begriff des "feuilletonistischen Zeitalters" ist Hesses Chiffre für einen Kulturbetrieb, der weder einem glaubwürdigen Anliegen seiner Manager noch einem Bedürfnis des Publikums entsprochen habe, sondern vor allem den modischen Zeitgeist in einer Medienwelt bediente, worin "namhafte Chemiker oder Klaviervirtuosen sich über Politik, beliebte Schauspieler, Sportler oder auch Dichter sich über Nutzen und Nachteile des Junggesellentums, über die mutmaßlichen Ursachen von Finanzkrisen und so weiter [äußerten]. Es kam dabei einzig darauf an, einen bekannten Namen mit einem gerade aktuellen Thema zusammenzubringen." Dieser Niedergang rief jedoch "eine heroisch-asketische Gegenbewegung hervor", die die Keimzelle des späteren kastalischen Ordens bildete. Sie wurde getragen von einzelnen gewissenhaften Gelehrten, vor allem Musikforschern, und dem "Bund der Morgenlandfahrer", einer Gemeinschaft von Männern, die "weniger eine intellektuelle als eine seelische Zucht, eine Pflege der Frömmigkeit und Ehrfurcht betrieben." Ihre Meditationspraxis und Musikpflege übernahm der elitäre Orden der Glasperlenspieler, um gegen die Gefahr des geistigen Hochmuts und der bloß artistischen Ausübung des Spiels gefeit zu sein. Die Notwendigkeit, in strenger Auswahl hoch begabte Knaben heranzubilden und sie, um Störungen zu vermeiden, in einem hierarchisch aufgebauten Orden auf den Dienst am Geist zu verpflichten, führte zur Gründung der Ordensprovinz Kastalien. Neben dem Dienst an der Wahrheit, der Meditation und der Verehrung des Schönen wird in Kastalien genau das herbeigeführt, was im kriegerischen 20. Jahrhundert bekämpft und bedroht war: die freie Entfaltung und Ausbildung des Menschen ohne staatliche Manipulation, die Unabhängigkeit der Wissenschaft und Kultur von profitorientierten und politischen Zwecken. Das dort geübte Glasperlenspiel fördert ein neues Bewusstsein der Einheit und Zusammengehörigkeit aller durch Spezialisierung, Nationalismen, Ideologien und Konfessionen auseinander entwickelten Bereiche der Wissenschaft und Künste und weckt ein zunehmendes Bedürfnis nach Orientierung des allgemeinen Verhaltens an den harmonikalen Gesetzen der Musik und mit den Proportionen des organischen Lebens in der Natur.

Volker Michels betont in seinem Beitrag für das Booklet, dass sich Hesse, anders als in seinen früheren Werken, "die zumeist autotherapeutische Versuche waren, individuelle Probleme klärend zu gestalten", im "Glasperlenspiel", vor allem in dem zweiten Hauptteil des Textes, der "Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht", dem Projekt einer zukunftsweisenden Erziehungsreform zuwendet. Der Schwerpunkt liege nun nicht mehr "auf der Selbstfindung und -entfaltung, sondern bei deren Nutzanwendung für die Gemeinschaft". Während das unmittelbar vorher gehende Werk Hesses, "Die Morgenlandfahrt", nach dem Bankrott des Ersten Weltkriegs einsetzt, ahnt Hesse, wie Michels ausführt, "bereits 1931 in den ersten Vorarbeiten zum 'Glasperlenspiel' den neuen Krieg voraus und setzt ihm eine in weiter Zukunft angesiedelte Utopie entgegen, die kommenden Katastrophen trotzen kann". Somit kann das "Glasperlenspiel" mit seinem "Akzent auf Maß und Ausgewogenheit" als Kontrastprogramm zur destruktiven Willkür der Vorgänge in Deutschland gelesen werden. Tatsächlich hat Hesse den antithetischen Bezug zur zeitgenössischen politischen Wirklichkeit in vielen Formeln festgehalten, vom totalisierenden Gegenentwurf zur Epoche ("Gegensatz zur gesamten Welt von heute", 1938) über die Charakteristik des Werkes als "Deckung gegen das Aktuelle" (1943) bis zu der Selbstdeutung in einem an Rudolf Pannwitz gerichteten Brief vom Januar von 1955, es sei ein "Widerstand des Geistes gegen die barbarischen Mächte" beabsichtigt gewesen: "Es galt für mich zweierlei: einen geistigen Raum aufzubauen, in dem ich atmen und leben könnte aller Vergiftung der Welt zum Trotz, eine Zuflucht und Burg, und zweitens den Widerstand des Geistes gegen die barbarischen Mächte zum Ausdruck zu bringen und womöglich meine Freunde drüben in Deutschland im Widerstand und Ausharren zu stärken. Um den Raum zu schaffen, in dem ich Zuflucht, Stärkung und Lebensmut finden könnte, genügte es nicht, irgend eine Vergangenheit zu beschwören. [...] ich mußte der grinsenden Gegenwart zum Trotz das Reich des Geistes und der Seele als existent und unüberwindlich sichtbar machen, so wurde meine Dichtung zur Utopie, das Bild wurde in die Zukunft projiziert, die üble Gegenwart in eine überstandene Vergangenheit gebannt. Und zu meiner eigenen Überraschung entstand die kastalische Welt wie von selbst. Sie war, ohne daß ich es gewußt hätte, längst in mir präformiert." Hesse hat keineswegs der äußeren Emigration eine innere nachgestellt, wie in der Forschung fälschlicher Weise immer wieder behauptet wird. Vielmehr sucht er in der enklavierten Welt des Bewusstseins nach einer epochenübergreifenden Konstruktion, die als ganze antithetischen Charakter hat. So muss er auch auf die dritte, die politische Fassung der Einführung in das "Glasperlenspiel" verzichten, in der Barbarei und Diktatur angeprangert werden.

Erstaunlich umfassend entspricht die Anlage des "Glasperlenspiels" in dieser Hinsicht vor allem der des "Doktor Faustus", der vier Jahre nach Hesses Text erschienen war. In das Exemplar, das Thomas Mann seinem Kollegen schickte, notierte er die Widmung: "Hermann Hesse - dies Glasperlenspiel mit schwarzen Perlen von seinem Freunde Thomas Mann". Schwarze Magie also im Pakt des modernen Faustus mit dem Teufel, weiße Magie im "Glasperlenspiel", dieser Versuchsanordnung zur künftigen Vermeidung solcher Teufeleien. Beide Texte zeigen in der Umsetzung der gleichen Epochenerfahrung eine besondere Symmetrie; sie kontrastieren die hermetische Geschichte eines Helden, der ausschließlich seiner geistigen Berufung folgt, von ihr gesteigert keinerlei menschliche Bindung eingeht, doch in seiner Absonderung ein intensives Traum- und Phantasieleben führt. Den Protagonisten der Romane (Josef Knecht, Adrian Leverkühn) ist jeweils als Antagonist der gegensätzliche "Kindheitsfreund" (Plinio Designori, Serenus Zeitblom) beigegeben, so dass die inneren Widersprüche des Geist- und Weltverlangens, der humanistischen und dämonischen Prägung auf zwei Figuren verteilt sind. Im "Glasperlenspiel" ist diese Figurenkonstellation noch differenzierter dargestellt, da die kastalische Provinz noch andere Teil-Ichs beherbergt, so den chinesischen Einsiedler in seinem Bambusgehölz oder den reizbaren Außenseiter Tegularius. Knecht wie Leverkühn leben in einer Spätzeit, die den Verlust der alten Autoritäten noch nicht kompensiert hat; die sterile Epoche zwingt den Geist zur Erkenntnis seiner Epigonenrolle. Kastalien macht aus der Not dieser Situation die Tugend des Glasperlenspiels, ein Ausschöpfen des geistigen Universums im Reproduzieren und Reflektieren. Im Gegensatz zur Rauschbereitschaft, zur Nietzsche-Aura des "Doktor Faustus" orientiert sich Kastalien an einem idealistisch aufgewerteten 18. Jahrhundert. Hinter der klassischen Universalität stehen Antike und Mittelalter, die römische Kirche mit der lateinischen Weltsprache und die christlichen Mönchsorden.

Kastalien sollte dem Terror der Macht nach 1933 das Beispiel eines unüberwindlichen geistigen Absolutums entgegenstellen. Interessant ist aber vor allem, dass der Text, indem er die Probe auf das Exempel macht und den Musterfall durchexerziert, gerade seine Relativität erweist. Diesen Nachweis erbringt nicht die Geschichtserfahrung des 18., sondern die des 19. und 20. Jahrhunderts. Der Geist, der seine Privilegien nur noch zur Introversion benutzt, vergreist im Elfenbeinturm, statt seine Funktion im Ganzen der "Welt" zu erfüllen. Begegnet anfangs der Ordensgeist als überpersönlich bestimmende und formende Macht, so ist eines Tages der Punkt der Entwicklung erreicht, an dem Kastalien wiederum der Bestimmung und Formung durch den ihm nunmehr entwachsenen, ihm überlegenen Einzelgeist bedarf. Da der Orden - an seine Abhängigkeit von der Außenwelt erinnert - nicht fähig ist, seine Verpflichtungen gegen diese zu erkennen, zieht der Mahner Josef Knecht die Konsequenzen mit dem "Durchbruch" zur Welt, den der "Doktor Faustus" als das Kernproblem deutscher Weltscheu, ihrer charakteristischen geistigen Hoffart bezeichnet. Der Glasperlenspielmeister Knecht stellt sein Amt zur Verfügung, um künftig als weltlicher Erzieher zu wirken. Hesse skizziert damit einmal mehr die Alternative zwischen Leben und Geist, vita activa und vita contemplativa, die seine ganze Poetik beherrscht. Die Ordensprovinz Kastalien, an die pädagogische Provinz in Goethes "Wilhelm Meister" erinnernd, hat das Ideal, den einzelnen im Dienst für die Gemeinschaft aufgehen zu lassen, worauf der Name "Knecht" hindeutet, der zugleich als Gegenbegriff zum "Meister" auf die Tradition des deutschen Bildungs- bzw. Entwicklungsromans hinweist. So wünschbar die Existenz des Ordens im lateinischen Motto des Textes genannt wird, so fragwürdig erscheint sie durch Knechts Ausscheiden, und sein kurzes Leben danach wird als "Legende" in die Sphäre des beinahe Heiligen gerückt und doch zugleich ironisch relativiert. In Verbindung mit dem pädagogischen Eros wird das Spiel insgesamt zum Sinnbild des Lebens: "Dieser sinnvoll-sinnlose Rundlauf von Meister und Schüler, dieses Werben der Weisheit um die Jugend, der Jugend um die Weisheit [...] war das Symbol Kastaliens, ja war das Spiel des Lebens überhaupt."

Die Legitimität des Glasperlenspiels beruht somit auf seiner prozessualen Durchführung dieses hermeneutischen Spiels mit zentralen Denkfiguren. Der Text erfüllt und vollzieht seine eigenen thematischen Voraussetzungen. Mit den Worten Hesses: "Es können Zeiten des Schreckens und des tiefsten Elends kommen. Wenn aber beim Elend noch ein Glück sein soll, so kann es nur ein geistiges sein, rückwärts gewandt zur heiteren und unverdrossenen Vertretung des Geistes in einer Zeit, die sonst gänzlich dem Stoff anheim fallen könnte." Noch im Oktober 1956 hat Hesse seinen Verleger Siegfried Unseld an das Ideal von Herders Humanitätsbriefen erinnert, das er in seinem Alterswerk zu aktualisieren versucht habe: "Die heutige Intelligenz, zumindest die deutsche, hat völlig vergessen, wie genau die alte Formulierung ist, die das Wahre, das Schöne und das Gute als die drei Erscheinungsformen des Ewigen bezeichnet." Bereits acht Jahre früher hatte Unseld in seiner kongenialen Besprechung des "Glasperlenspiels" für die Tübinger "Studentischen Blätter" bemerkt: "Hier spüren wir ganz deutlich die aktuelle Nähe dieses angeblich so wirklichkeitsfernen Werkes. Das Wissen um den Verlust der geistigen Einheit der abendländischen Kultur und der ihr deshalb drohenden Auflösung mag der Grundantrieb gewesen sein, der Hesse zu dieser Dichtung veranlaßte."

Hinter dem "Glasperlenspiel" steht eine umfassende, unendliche Vernetzung des Wissens in krisenhaften Zeiten. Der fiktive Ort Kastalien ist keine Fluchtburg der ästhetischen Harmlosigkeiten, sondern ein Stützpunkt lebensrettender Phantasie, ein hochmodernes Laboratorium, aus dessen Innerem pädagogische Heilmittel gegen die prometheische Hybris der menschlichen Selbstzerstörung erwachsen. So ist das "Glasperlenspiel" die Lektion des Lebens schlechthin. Hesse hat die unendliche Sinnsuche Josef Knechts als einen erst mit seinem Tod endenden meditativen Prozess beschrieben. Dabei scheint vor allem, vergleichbar wiederum mit Thomas Manns "Zauberberg", die Kategorie Zeit außer Kraft gesetzt zu sein. Dem Hörverlag ist es nun zu verdanken, in seiner Hörspielbearbeitung des "Glasperlenspiels", ein im Vergleich zum Buch um vier Fünftel gekürzter Text, mit äußerster Strenge und präziser Stimmführung diesen Prozess akustisch umgesetzt zu haben. Wahrlich kein leichtes Unterfangen. Geradezu genial ist der von den Bearbeitern gewählte Kunstgriff, Hesses essayistische Einleitung, den "Versuch einer allgemeinen Einführung ins Glasperlenspiel", den Fortgang des Erzählens intermittierend orchestrieren zu lassen, sodass Theorie und erzählerische Praxis, die im Text noch nebeneinander stehen, im Hörspiel miteinander ins Gespräch gebracht werden. Schließlich wird mit der Einführung einer weiblichen Stimme auch Hesses Antwort auf den - allerdings fälschlich erhobenen - Vorwurf Rechnung getragen, es fehle dem Text an weiblichen Gestalten. Barbara Nüsse sorgt mit ihrer begleitenden und strukturierenden Lesung der Einführungen dafür, den Elfenbeinturm Kastalien zum Klingen zu bringen, so dass aus dem mitunter hermetischen Text ein akustisches Meisterwerk wird. Die Hörer werden es dem Verlag einmal mehr zu danken wissen: Et in Kastalia nos.

Titelbild

Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel. 4 CD.
Der Hörverlag, München 2002.
42,00 EUR.
ISBN-10: 3895849790

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