Jede Lektüre eine Fehllektüre

Volker Dörr liest Moritz' und Goethes wechselseitige Verlesungen

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was passiert eigentlich, wenn ein Schriftsteller einen Schriftsteller liest? Er verfehlt vermutlich den Sinn des Gelesenen, jedenfalls wenn er versucht, einen poetischen Text diskursiv zu lesen, oder einen diskursiven Text poetisch. Jede Lektüre produziert Sinn, aber ist es auch der Sinn des Gelesenen? Nicht einmal der Literaturwissenschaftler vermag uns eindeutige Auskunft zu geben, denn auch er ist als diskursiver Leser angesichts der Polyvalenz des poetischen Texts von vornherein zu einem mehr oder minder kläglichen Scheitern verurteilt, so legt es uns Volker Dörr in seiner Studie über Moritz' und Goethes gegenseitige Verlesungen nahe, immerhin ein offengelegtes Scheitern, was der Vorteil einer wissenschaftlichen Studie vor den problemloses Verständnis prätendierenden Texten der behandelten Autoren sein mag.

"Remiscienzien" nannte Moritz die unerwünschte Präsenz von Goethes "Werther" in den Äußerungen seines Romanhelden Anton Reiser. Diversen Reminscienzien in verschiedenen Texten von Moritz und Goethe ist Volker Dörr nachgegangen. Leser können bei ihm im Einzelnen lernen, den wechselseitigen Bezug der beiden aufeinander, die sich trotz aller Gegenseitigkeit in Italien schätzen lernten, genauer einzustufen; im Allgemeinen können Leser lernen, dass Missverständnisse respektive gegensätzliches Kunstwollen literarisch produktiv werden können.

Dörr "bespricht" (dies Wort ist durchaus in seiner schillerndsten Bedeutung zu nehmen) vor allem folgende Texte: "Über die bildende Nachahmung des Schönen", "Anton Reiser", "Die neue Cecilia" von Moritz; "Die Leiden des jungen Werthers", "Torquato Tasso" und "Italiänische Reise" von Goethe. Nicht dem Gehalt dieser Texte an sich gilt seine Aufmerksamkeit, sondern ihren intertextuellen Verflechtungen. Diese werden vor allem auf der Folie von Gerard Genettes Intertextualitäts-Theorie verhandelt. Statt eines positivistischen Ausweises der intertextuellen Beziehung empfiehlt Dörr für den wissenschaftlichen Diskurs das Auslassungszeichen "[...]" als Signatur des Verfehlten. In einer literaturwissenschaftlichen Arbeit ist eine Leerstelle aber wenig tunlich, und Dörr füllt sie daher meistens mit Kunst-Begriffen einer terminologisch aufgestylten Literaturwissenschaft auf. "Diskurs" und "Poesie", "Dynamik" und "Statik", "Allegorie" und "Symbol" sind die Gegensatzpaare, auf deren Folie sich die Darstellung entwickelt.

Die historisch konkrete Darstellung von "Interdependenzen" zwischen den Texten von Moritz und Goethe gehört nicht zur Aufgabe der Untersuchung. Spuren des jeweils anderen Autors ließen sich in den Texten kaum nachweisen, behauptet Dörr. Trotzdem sei es produktiv, "bestimmte Spuren der Moritzschen Ästhetik in Texten Goethes als eine Auseinandersetzung mit den Konzepten Moritz' zu deuten"; dies geschieht vielleicht am überzeugendsten in Dörrs Lesart des "Torquato Tasso".

Auch sonst enthält das Buch manch interessante Beobachtung, aber man kann sich ihrer nicht erfreuen. Lessing ("Die größte Deutlichkeit war mir immer die größte Schönheit") hätte Dörrs Buch sicher nicht schön gefunden. Ob man von einer "fruchtbaren Dunkelheit" sprechen kann, die Goethe später den Unterhaltungen mit Moritz in Rom attestierte, die dem Aufsatz "Über die bildende Nachahmung des Schönen" zu Grunde lagen, wird sich herausstellen. Indes sind nicht alle Teile des Buchs in dem abschreckenden Jargon gehalten, der den Eingang und den Schluss auszeichnet; hier nur eine Kostprobe:

"Die scheinbare produktionsästhetische Paradoxie des Zusammenfallens von Statik und Poesie sowie von Dynamik und Diskurs wird in der Rezeption aufgelöst, denn in jeder Lektüre ist die Statik auf der Seite des diskursiven, die Dynamik auf der Seite des poetischen Textes angesiedelt. Während eine diskursive Lektüre einen diskursiven Text weitgehend festzuschreiben sucht und das auch muß, will sie selbst diskursiv sein, so betreibt der poetische Text in jeder Lektüre - und gegen sie - die Digression seines Sinns; und auch jeder Versuch, nicht 'den' Sinn des poetischen Textes, sondern gerade dessen Digression in den Griff zu bekommen, muß ihn notwendig verfehlen."

Einmal abgesehen davon, dass man dies auch viel schöner sagen könnte, ist auch fraglich, ob es stimmt. Doch gehört es zu den grundlegenden Prämissen des Buchs, dass der ganze Sinn eines poetischen Texts nicht erkannt werden könne, auch nicht sein wahrer Gehalt. Das ist ein romantischer Topos, den man wissenschaftlich meines Erachtens nicht reproduzieren muss. Fragwürdig auch die schon anfangs gemachte Behauptung, dass die Intention eines Autors grundsätzlich nicht erkennbar sei. Doch, das ist sie vermutlich schon; nur geht der Text darin nicht auf, weil dieser immer mehr weiß als sein Autor.

Ob auch Dörrs Text mehr weiß als sein Autor, bleibe einmal dahin gestellt. Dörr selbst stellt ihn als Glied in der endlosen Kette "diskursiv gefaßter Mißverständnisse" über poetische Texte aus, und als solches stellt sich das hochambitionierte Unternehmen einer Lektüre von Lektüren selbst wieder in Frage. Anfangs verspricht Dörr eine Studie, die mehr Fragen aufwerfe, als sie beantworten könne. Das Versprechen hat er gehalten; allein, ich hätte vielleicht doch auf mehr Antworten gehofft. Dass sie nicht gegeben oder wenigstens versucht werden könnten, weil das "Phänomen (Inter-) Textualität" dies schon von vorn herein ausschließe, halte ich für Unsinn. "Der Hauptfehler des Scharfsinns besteht nicht darin, nicht ans Ziel zu gelangen, sondern übers Ziel hinauszuschießen", meinte LaRochefoucault.

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Volker C. Dörr: Reminiscenzien. Goethe und Karl Philipp Moritz in intertextuellen Lektüren.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 1999.
305 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-10: 3826015959

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