Im Kraftfeld dreier Sprachen

Unterschiedliche Bewertung des Jiddischen in Ost und West

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu Beginn der zwanziger Jahre wurde Berlin durch jüdische Emigranten aus Russland und Galizien zur Metropole der hebräischen Kultur und Deutschland insgesamt zum Zentrum des hebräischen Verlagswesens. Doch die Zeit, in der Hebräisch und Jiddisch ihren Mittelpunkt zwischen Spree und Main fanden, fiel der Vergessenheit anheim. Erst seit wenigen Jahren bemühen sich Wissenschaftler um die systematische Rekonstruktion jener "anderen" jüdischen Geschichte in Deutschland, die man nie so recht hat wahrnehmen wollen, da sie offensichtlich nicht in das Bild einer Geschichtsauffassung passt, die bestimmt ist von den Koordinaten Assimilation und Emanzipation, Antisemitismus und "Beiträge" zur deutschen Kultur.

Von der Blütezeit der hebräischen und jiddischen Literatur in Berlin während der Kaiserzeit und der Weimarer Republik, zu der Dichter wie Uri Zwi Greenberg und Saul Tschernichowski, der Erzähler und spätere Nobelpreisträger Samuel Josef Agnon, der Wissenschaftler Simon Dubnow und der Philosoph Jakob Klatzkin beigetragen haben, berichtet der von Michael Brenner herausgebene Sammel- und Tagungsband. Ferner beleuchten Wissenschaftler von Rang die Entwicklung der hebräischen und jiddischen Sprachlandschaft in der neueren deutsch-jüdischen Geschichte und vermitteln einen Eindruck von seiner kulturellen und sprachlichen Vielfalt. Nils Roemer untersucht Sprachverhältnisse und Identität der Juden in Deutschland im 18. Jahrhundert, Uri Kaufmann hebräische Begriffe in der Umgangssprache der südwestdeutschen und elsässischen Juden im 19. und 20. Jahrhundert. Rachel Perets befasst sich mit der Vermittlung der hebräischen Sprache in Deutschland vor 1933. Barbara Schäfer skizziert einzelne Stationen der Rückkehr des Hebräischen nach Berlin, vom Ersten Weltkrieg bis zur Weimarer Republik, und zeigt, dass der Kampf um die hebräische Sprache ein vielschichtiger Prozess war.

Durch die Lektüre der Aufsätze erfahren wir bruchstückweise, dass der jiddischen Sprache im Verlauf der frühen Neuzeit eine immer gewichtigere Rolle zukam, da die Hebräischkenntnisse der meisten Juden ständig geringer geworden waren. Lange Zeit hatte man die Gebete, laut Barbara Schaefer, ohne Verständnis hergeleiert. Im Verlauf des 17. und frühen 18. Jahrhunderts aber konnte man sie nicht einmal mehr lesen. So erlangte Jiddisch in dieser Zeit als Schrift- und Unterrichtssprache einen neuen Status und erfreute sich als Kommunikationssprache wachsender Beliebtheit.

Andere wiederum - vor allem Gelehrte, Ärzte und Hofjuden -, die in einen engeren Kontakt zur christlichen Umwelt getreten waren, beherrschten schon früh die deutsche Sprache in Wort und Schrift. Deutsch zu sprechen und zu schreiben war nämlich gerade für Juden wichtig, die sich assimilieren wollten. Zur Zeit der europäischen und jüdischen Aufklärung, der Haskala, galt der jüdische Dialekt in den Augen der Aufklärer als minderwertig und wurde in die Nähe der Gaunersprache gerückt. Allerdings ist die jiddische Sprache niemals völlig verdrängt worden. Sie blieb in Resten des Landjudentums bestehen und wurde später von ostjüdischen Einwanderern wieder mit in den Westen gebracht. Zudem begannen im 19. Jahrhundert Wissenschaftler des Judentums - Isaak Jost, Moritz Güdeman und Matthias Mieses werden in diesem Zusammenhang genannt -, die jiddische Sprache als wesentliche Komponente jüdischer Kultur zu verstehen. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde es unter Sympathisanten des Zionismus sogar Mode, jiddische Ausdrücke zu verwenden, wie die Briefe von Betty Scholem an ihren Sohn Gershom belegen.

Kurz vor der Zerstörung des deutschen Judentums entdeckten dann viele seiner prominentesten Vertreter, wie etwa Arnold Zweig, Franz Kafka, Alfred Döblin, Franz Rosenzweig, Gershom Scholem und Walter Benjamin, die Welt des osteuropäischen Judentums und seiner jiddischen Kultur. Manche von ihnen versuchten sogar - wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg - die jiddische Sprache zu erlernen.

Nach 1945 begegnen wir bei ostjüdischen Überlebenden, den sogenannten Displaced Persons, erneut jener jiddischen und teilweise auch hebräischen Kultur, die immer wieder die deutsch-jüdische Geschichte mitgeformt hat. Denn Jahrhunderte lang war für die Juden im deutschen Raum die Mehrsprachigkeit von entscheidender Bedeutung gewesen. Die Sprache der Herkunft signalisierte Zugehörigkeit, die erworbene Sprache verhieß Aufstieg. Seit dem 18. Jahrhundert stand das Judentum dann im Kraftfeld dreier Sprachen: des Jiddischen, der Sprache der Herkunft, die im Ghetto und im Schtetl gesprochen wurde, des Hebräischen, der Sprache der geheiligten Überlieferung von Talmud und Tora, und des Deutschen, dessen Beherrschung ein Zeichen der Assimilation wurde.

Einige Autoren werfen auch einen Blick auf die Entwicklung des Jiddischen in Osteuropa. Während die Westjuden um 1890/1939 ihr jiddisches Idiom als deutschen Dialekt empfanden, betrachteten die Ostjuden ihres in ihrem slawischen Umfeld als eigene Sprache. Während in Westeuropa die Kenntnis des Hebräischen abnahm, entstand im Osten eine Anzahl hebräisch-wissenschaftlicher Publikationen. Der Lemberger Gelehrte und Begründer der Wissenschaft des Judentums in Osteuropa, Salomo Juda Rapoport (1790-1867), verfasste seine wissenschaftlichen Werke grundsätzlich auf hebräisch. Dagegen stand die Wissenschaft des Judentums in Deutschland von Beginn an unter anderen Vorzeichen als im östlichen Teil Europas, in dem die Bemühungen viel stärker auf die innerjüdische Gemeinschaft ausgerichtet waren, sei es, um diese zu reformieren und aufzuklären, sei es, um das jüdische Selbstverständnis zu stärken.

Da die Wissenschaft des Judentums in Deutschland auf deutsch produzierte, um ihr Publikum zu erreichen, konnte sie natürlich auch keine Renaissance des Hebräischen bewirken. Diese Leistung ist in erster Linie den kontinuierlichen literarischen Aktivitäten des osteuropäischen Judentums und den Idealen und Vorstellungen von Vertretern der nationaljüdischen Bewegung zuzurechnen. So hat das Hebräische im Osten äußerlich und innerlich zugenommen und hat, was es als Gebetssprache eingebüßt hatte, vielfältig als lebendige Sprache wiedergewonnen. In Galizien machte die Bewegung "die erste Station, um dann nach Russland überzugreifen und eine neue Blüte hebräischer Literatur vorzubereiten."

Auch Jacob Allerhand, emeritierter Professor für Judaistik und Hebraistik, weist in seinem Lehr- und Lesebuch auf die unterschiedliche Bewertung des deutsch-jüdischen Idioms in West- und Osteuropa hin. Während die Maskilim, die jüdischen Aufklärer, in Russland, insbesondere der Protagonist des Kulturzionismus, Achad Ha'am, das Jiddische durch Hebräisch ersetzen wollten, tendierte Moses Mendelssohn zur Landessprache (aber nicht nur er), da er das Jiddische als Hindernis auf dem Weg zur erwünschten Emanzipation und Humanisierung seiner Glaubensbrüder empfand. Ging es Moses Mendelssohn doch darum, die sprachliche Sonderstellung der deutschen Juden aufzuheben und die kulturellen Schranken zwischen den jüdischen und den nichtjüdischen Untertanen des Preußenkönigs Friedrich II. abzubauen, um auf diese Weise die rechtliche Gleichstellung der deutschen Juden voranzutreiben.

Allerhand macht deutlich, dass nach dem allmählichen Untergang der jiddischen Sprache in Deutschland, Jiddisch nur noch die Sprache der Ostjuden war, wobei sie nicht allein der Verständigung diente, sondern auch Ausdruck der Identität jener Menschen war, die sich ihrer bedienten. Diese aus dem Mittelhochdeutschen und Hebräischen entstandene Sprache sei, meint Allerhand, auch heute noch lebendig und nehme ständig neue Realitäten in ihren reichen Wortschatz auf. Obwohl der Klang des Jiddischen und über siebzig Prozent seines Vokabulars deutsch sind, ist seine Grundlage hebräisch. Die Klassiker des Jiddischen haben zunächst hebräisch geschrieben, bevor sie sich dieser Volkssprache zuwandten.

Im ersten Teil seines Buches gibt Allerhand einen fesselnden Überblick über die Entstehung und die geschichtliche Entwicklung der jiddischen Sprache, über ihre semantische Zusammensetzung sowie über den Sprachenstreit zwischen Hebräisch und Jiddisch. Vor dem Zweiten Weltkrieg wurde das Jiddische, führt der Autor aus, von mehr als zehn Millionen Menschen gesprochen, bis die Nazis dem ein grausames Ende bereiteten. Denn für die Mehrheit der sechs Millionen ermordeter Juden war Jiddisch die Muttersprache gewesen. Aber nicht nur das. Jiddisch war auch die Sprache der ostjüdischen Folklore und des ostjüdischen Volksliedes. Daraus entwickelte sich eine reichhaltige Romanliteratur als eigene Gattung, die der Wissenschaftler an spezifischen Beispielen erläutert.

Literatur im künstlerischen Sinne schufen Schalom Jakob Abramowicz (1835-1917), bekannt geworden unter dem Pseudonym Mendele Mojcher-Sforim, Scholem Rabinowicz alias Scholem Alechem (1859-1916), Jits'-chak Lejb Perets (1851-1915) und Scholem Asch (1881-1957). Allerhand geht dabei auch auf Leben, Werk und Wirkung der neueren jiddischen Erzähler ein: auf den jiddischsprachigen Dichter Itzig Manger (1901-1969), der Rumäniens größter Beitrag zur jiddischen Literatur war, auf Isaak Bashevis Singer (1901-1991), den Literatur-Nobelpreisträger der jiddischen Sprache, sowie auf Mordechaj Gebirtig (1877-1942) und Hirsch Glick (1922-1944). Sie alle gaben der jiddischen Sprache in Osteuropa eine Heimat, nachdem die westeuropäischen Sprachästheten sie eliminiert hatten.

Der zweite Teil des Bandes - immerhin haben wir es hier auch mit einem Sprachlehr- und Lesebuch zu tun - dient dem Selbststudium und dem Einüben der jiddischen Sprache. Er ist zweiteilig angelegt, entsprechend der unterschiedlichen Leserichtung des in lateinischer und in hebräischer Schrift geschriebenen Textes. Den deutschsprachigen Text liest man "von vorne", die Jiddischlektionen beginnt man richtig "von hinten" zu lesen. Natürlich fehlen weder ein ausführliches Glossar noch Literaturempfehlungen. Wem es indessen zum Erlernen der jiddischen Sprache an Zeit und Geduld mangelt, wird sich mit dem ersten Teil begnügen und seinen Inhalt mit Gewinn und Vergnügen zur Kenntnis nehmen.

Titelbild

Jacob Allerhand: Jiddisch. Ein Lehr- und Lesebuch.
Herausgegeben von Arne Opitz und Jakob Schleicher.
Mandelbaum Verlag, Wien 2001.
192 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3854760558

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Titelbild

Michael Brenner (Hg.): Jüdische Sprachen in deutscher Umwelt. Hebräisch und Jiddisch von der Aufklärung bis ins 20. Jahrhundert.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002.
134 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-10: 3525208227

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