Wie ein Bild sei dein Gedicht

Ernst-Wilhelm Händler hat einen Fantasy-Roman geschrieben

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein rätselhaftes Buch: Suttung, Computerspezialist aus New York, lernt in Neuengland zwei Frauen kennen, die Journalistin Mechthild und die Architektin Sieglinde. Die beiden Frauen überreden den deutschstämmigen Suttung, mit nach Europa zu gehen. Offenbar sind sie im Auftrag des deutschen Architekten Hant unterwegs, des erfolgreichsten und mächtigsten Architekten seiner Generation. Für Hant soll Suttung Einsatzmöglichkeiten des Computers am Bau entwickeln.

Ernst-Wilhelm Händlers Romane sind anspruchsvolle Erzählexperimente, in denen tendenziell versucht wird, alle Elemente so zu funktionalisieren, dass ihre Merkmale inhaltlicher und formaler Art ein gemeinsames System von Signifikanten bilden. Mehr als alles andere scheinen ihn dabei bestimmte Genres zu motivieren, die solche Zeichensysteme bereits ausgebildet haben, überdeutlich ausgebildet haben wie die Gattungen der Trivialliteratur. "Sturm", der neue Roman, scheint Merkmale der Fantasy-Literatur abzurufen, vielleicht auch der Fantasy-Comics, denn er ist in merkwürdig statischen Bildern erzählt.

Der Computerspezialist Suttung, als "Riese" eingeführt, gerät in eine Welt, die totalitäre Züge trägt. Hant, sein Auftraggeber, ist angetreten, das Gesicht der Welt neu zu gestalten. Überall entstehen seine Bauten, ganze Städte werden dem Erdboden gleichgemacht und neu errichtet. Hants Hintermänner scheinen auch vor Gewalt nicht zurückzuschrecken: Todeskommandos sind unterwegs, man spricht von "Säuberungen": über Nacht werden ganze Straßenzüge plattgewalzt und die Bewohner vertrieben. In der Hauptstadt zählt man 5.000 Tote per annum, ganze Städte brennen. Der Immobilienhai Arbogast, Hants Finanzier und ständiger Begleiter, tötet auch selbst. Arbogast ist eine Art Prediger des HErrn, er begreift sich, wie auch Suttung, als Werkzeug einer höheren Macht, die die Teilung der Gesellschaft überwinden will. Er ist, wie alle Figuren des Romans, durch zugleich archaische und modern-utopische Merkmale charakterisiert. Vermutlich soll er uns an den Comes Arbogast erinnern, den fränkischen Heermeister im Köln des vierten Jahrhunderts, diesen "Barbarenfürsten", dem Helmut Heißenbüttel 1979 einen seiner schönsten Texte gewidmet hat. Bis auf die Frauen (Mechthild, Sean, Sieglinde) tragen alle Figuren höchst seltsame Namen: Fjalar und Galar, Kvasir und Gilling, Hant und Hahl, Suttung und Arbogast. Nur Mechthild ist Hant in einer Art Nibelungentreue ergeben, während alle anderen Figuren eigensüchtige Ziele verfolgen.

Hant, der Architekt, ist Gott und Gottsucher zugleich. Er fordert freiwillige Unterwerfung. Seine hybride Architektur wird als eine Form der "Gottsuche" begriffen, als Versuch, die Welt zu erneuern und die Gewalt zu überwinden. Er ist ein Schöpfer, der - im Gegensatz zu Gott - zerstören muss: Nur durch Zerstörung kann er Raum für seine Schöpfungen schaffen. Wie alle Religionen besteht auch die seine aus Paradoxa: Indem er Gewalt sät, will Hant die Gewalt überwinden. Er will das Rechtssystem mit seinen Handlungen in Einklang bringen, nicht umgekehrt. Indem Hant seine Bauten errichtet, will er die Welt verlassen. Er will sie verlassen, ohne Spuren zu hinterlassen. Einst hat er auf einem Gerüst eine stürmische Nacht verbringen müssen und beschlossen, ein anderer zu werden: "Wenn er die Nacht überleben würde, dann wollte er sein bisheriges und sein zukünftiges Leben für alle verdunkeln. Er würde sich in völlige Unnahbarkeit zurückziehen." Die Todesnähe, so Hant, habe ihn so verändert, dass ihm die Wirklichkeit nichts mehr bedeute.

Suttung, der Computerspezialist, ist die Verkörperung des Wissens und der Vernunft. Er ist ein Selbstdenker im Lichtenbergschen Sinne. Schon bald hat er Systeme entwickelt, die schneller und effektiver arbeiten als selbst Hant. Suttung beweist die Überlegenheit des Cyberspace über Bleistift und Papier. Aber in dem Augenblick, in dem ihm seine Überlegenheit bewusst wird, beschliesst er, sich von Hant zu lösen. Er beginnt ein Verhältnis mit Sean, Hants Frau, die so alt ist wie das Jahrhundert. Als Liebhaber von Sean will er Hant lächerlich machen - der einzige Weg, sich aus seinem Bann zu befreien. Ob ihm das gelingen wird, bleibt bis zuletzt offen, denn Hants System regiert totalitär.

Ernst-Wilhelm Händlers Roman folgt fast durchweg Suttungs Perspektive. Es wird jedoch selten klar, ob das, was Suttung zu sehen glaubt, Ausdruck der Realität ist oder Fantasie. Oder Fantasy. Träume und Tagträume dominieren Suttungs Sinne. Seine Träume gerinnen zu Bildern, sind statisch, leblos und wirken bedeutungsschwanger. "Sturm" liest sich bisweilen wie ein Museumsführer, der vor allem allegorische Bilder beschreibt, die teils aus heidnischen, teils aus christlichen, teils aus utopischen Mythologien stammen. Dieser Museumsführer betreibt eine Art Allegores, doch seine Deutungen bleiben vage - so vage wie die Handlung des Romans, die im Grunde auf einigen wenigen Raumbewegungen der Figuren basiert. Das ohnehin statische Geschehen wird kaum jemals unvermittelt erzählt, ein Großteil der Rede wirkt zudem vorgefiltert und paraphrasiert. Die dargestellte Welt ist unerhört stilisiert, steif und papieren.

Ernst-Wilhelm Händlers Romane sind Zumutungen. So auch dieser. Nicht zum Vergnügen liest man sie, nicht zur Unterhaltung. Immer gibt es eine abstrahierbare Geschichte, aber was für eine; auch hier ist die äußere Handlung klar, doch die Frage offen, worum es Händlers Erzählexperiment diesmal geht.

Offenbar geht es um Beschreibung. Die deutsche Sprache, heißt es einmal, sei präziser als andere Sprachen. Sie tendiere dazu, "uneingeschränkt über die Menschen, über die Dinge, über die Ideen" zu herrschen. Wie, so scheint sich Händler zu fragen, kann man mit ihr genau erzählen und zugleich ihre "Unbestimmtheitsspielräume" nutzen. Eine Antwort liefern "Denkfiguren" wie Symbol, Metapher und Allegorie, in denen sich präzise Beschreibung und vage Bedeutung quasi zur Übereinstimmung bringen lassen. Schon der Titel des Romans "Sturm" eröffnet solch einen vagen Bedeutungsraum: Es werden genügend Stürme aufgeboten, kosmische Stürme, die stürmische Nacht auf dem Baugerüst, die Hants Leben verändert, sogar vom "Atemsturm" ist die Rede. Doch kein Bild drängt sich so nachdrücklich auf, dass es als titelgebend in Frage käme. Die zum Teil lautmalenden Interjektionen erinnern an die Sprache der Comics: "Ta-da! - Shhh - quiet" oder "ugh", "Goo", "Aggh", "Heyyy" und "Oops". Der Status dieser Wörter ist ungeklärt. Selbst die präzise bestimmbaren Farben, die holzschnittartig eingesetzt werden (quasi als farbige Holzschnitte), die entschiedenen Akkorde aus blau und gelb, rot und grün, blau und weiss, rot und gelb stiften keinen festen Kanon. Ähnlich wie Fantasy-Welten tendiert auch diese Realität dazu, archaisch und utopisch zugleich zu sein.

Händlers Roman ist durch seine Redundanz quälend und mühsam zu lesen. Alles, was erzählt wird, wird - so scheint es - mehrfach erzählt: Die Attribuierung der Figuren, der Räume und Bilder erfolgt immer gleich, nur um Nuancen verschoben. All das ist Absicht und Strategie, auf die sich Händler-Leser gern einlassen. Auch ein anstrengender Roman, der sich der derzeitigen Tendenz zur belanglosen Unterhaltungsware entzieht, ist selbstverständlich zu respektieren und zu diskutieren. Man darf gespannt sein, ob dieser Roman etwas auslösen wird, und wenn ja, was.

Titelbild

Ernst-Wilhelm Händler: Sturm. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 1999.
440 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3627000307

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