Gewalt ist nicht gleich Gewalt

Rainer Leschke führt in die Medienethik ein

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Medienethik ist so skandalgeil wie die Medien selbst. Exhibitionisten, eingesperrt in einem mit Kameras überwachten Wohncontainer, rufen sie genauso auf den Plan wie tote Prinzessinnen am Straßenrand oder, jüngstes Beispiel, computerspielgeschädigte Amokläufer. Psychologen, Politiker und Journalisten debattieren dann, aus aktuellem Anlass, ob dieser oder jener Auswuchs des Mediensystems nicht besser beschnitten werden sollte. So lange, bis wieder der mediale Alltag eingekehrt ist.

Dessen Erforschung aber wäre die eigentliche Aufgabe der Medienethik, zumindest wenn es nach dem Siegener Medienwissenschaftler Rainer Leschke ginge. Damit eng verknüpft ist der von Leschke geforderte Schritt weg von einer vorschreibenden Medienethik hin zu einer rein deskriptiven Analyse von Normativität im Bereich medialer Inhalte, Formen und Institutionen. Belohnt werden soll diese "Abstinenz vom normativen Urteil und moralisch aufgeplusterten Verbotsgelüsten" mit einem klareren Blick. Diesen wünscht sich der Leser freilich auch: Die abstrakte Wissenschaftsprosa von Leschkes "Einführung in die Medienethik" hätte noch einen Niklas Luhmann vor Neid erblassen lassen. Doch wer die Anstrengung der Lektüre auf sich nimmt, wird belohnt.

Jene Institutionen, die für die Einhaltung moralischer Standards in den Medien sorgen sollen, kommen bei Leschke nicht gut weg. Haben sie doch allein das Ziel, einer der jeweiligen Interessensgruppe unliebsamen juristischen Steuerung zuvorzukommen, eine These, die sich in der jüngsten Debatte um Computerspiele bestätigt haben dürfte. So genannte "Empfehlungen" von Einrichtungen wie der "Freiwilligen Selbstkontrolle" oder dem Presserat dienen einzig der "Verhinderung juristischer Eingriffe durch weiche, von der Interessengruppe selbst entworfene Konditionen". Entsprechend vage formuliert sind dann auch die der Öffentlichkeit präsentierten Verhaltensregeln.

Doch bedienen sich Medien nicht nur zur Legitimierung ihres Tuns der Normen und Werte. Auch die von ihnen angebotenen Inhalte sind immer schon normativ unterfüttert. Eingekapselt werden diese Werte in der jeweiligen medialen Form vor allem in (hochgradig standardisierten) Figuren, Handlungsverläufen und Themen. Medien sind "durch und durch moralisch, ohne es überhaupt zu wollen und ohne es vermeiden zu können". Ihre normative Macht liegt jedoch nicht in der Normsetzung, sondern in der Affirmation und Verstärkung bestimmter Normen, mit denen der Konsument dann etwa in Hollywoodfilmen von "Titanic" bis "James Bond" gefüttert wird.

Problematisch ist allerdings eine Unterscheidung, die Leschkes luziden Analysen des normativen Potenzials von Figurentypen, Handlungsverläufen und Themen zugrunde liegt: Die von "medienindustrieller Konfektionsware, die keinerlei Polyvalenzen zulassen können, da andernfalls die kalkulierten Reproduktionszyklen aus dem Gleis gerieten" einerseits und von ästhetischen Erzeugnissen im engeren Sinn. Jene lassen, um ein möglichst großes Publikum zu finden, dem Rezipienten mittels Standardisierung und Typisierung nur geringe Interpretationsspielräume; die normativen Effekte beim Publikum wurden von den Machern vorher festgelegt. Diesen soll dagegen aufgrund der für sie typischen Mehrdeutigkeit eine "normative Ambivalenz" zukommen, die erst vom jeweiligen Rezipienten vereindeutigt wird. "Polyvalente Texturen ertragen insofern eine Menge an Normen und hierin liegt ihre faszinierende historische Flexibilität. [...] Ästhetische Strukturen sind also allenfalls potentiell, nicht jedoch per se normativ valide. Damit entfällt quasi die Produzentenhaftung, d. h. die Zurechenbarkeit der normativen Zuschreibungen muß für die Produktion und ihr Produkt ausgesetzt werden." Auf deutsch: Während ein Kunstwerk dem Betrachter immer verschiedene Werte zugleich anbietet und es ihm überlässt, welche davon er aktualisiert, füttert die "Konfektionsware" ihr Massenpublikum mit übertragungsreifen normativen Modellen.

Auch wenn Leschke es so direkt nicht sagt, ist nicht schwer zu erraten, dass sich diese Konfektionsware vor allem im Kino und im Fernsehen, die polyvalente Kunst dagegen in der Literatur finden soll. Offensichtlich verbirgt sich hinter dieser Unterscheidung, deskriptive Analyse hin oder her, der traditionelle Gegensatz von hoher und niedriger, von schlechter U- und guter E-Kunst. Stellt man in Rechnung, dass Kinoproduktionen aufgrund ihres immensen Kapitalbedarfs einen entsprechenden Publikumserfolg benötigen und es sich daher nicht leisten können, größere Zuschauergruppen aufgrund allzu komplexer oder deutungsbedürftiger Handlungsverläufe abzuschrecken, gewinnt Leschkes Unterscheidung, gerade auch angesichts jüngster Kinokassenschlager wie, nomen est omen, "Angriff der Klonkrieger", einiges an Plausibilität. Andererseits zeigt die Geschichte der Medientheorie, dass seit Platon Medienkritiker immer das jeweils neueste Medium verdammen, dagegen das jeweils ältere loben. Dass Leschke auch noch die für die Kunst der Postmoderne charakteristische Idee einer "Mehrfachcodierung", die gerade in den 90er Jahren in einer Reihe interessanter amerikanischer Filme ("Matrix", "Pulp Fiction", "Mullholland Drive") erfolgreich realisiert wurde, ablehnt und dafür als positive Gegenbeispiele Brecht, Weil, Eco und Chaplin anführt, zeigt einmal mehr, wie sehr der eigene, limitierte Kunstgeschmack den analytischen Verstand eines Wissenschaftlers zu trüben vermag.

Ins Schwimmen gerät Leschkes "harte" Disjunktion von monovalenter Massenproduktion und polyvalenter Kunst aber noch aus anderen Gründen: Ob ein Werk ein- oder vieldeutig ist - hängt das nicht in hohem Maß vom kognitiv-emotionalen Input ab, den ein Rezipient mitbringt? Sind nicht viele der typischen Hollywoodproduktionen bei genauem Hinsehen durchaus interpretationsbedürftiger oder zumindest -fähiger, als es der deutsche Medientheoretiker wahrhaben will? Kommt es in der Kunst wirklich darauf an, dass der Rezipient alle Unbestimmtheit so oder so vereindeutigt? Ja stimmt überhaupt die These von der für Kunst charakteristischen normativen Polyvalenz? Ein nüchterner Blick z. B. auf den Kanon der deutschsprachigen Literatur weckt Skepsis.

Zu einer dennoch anregenden Lektüre wird Leschkes Einführung aufgrund der zahlreichen glänzenden Beobachtungen und klugen Hinweise für die Analyse des in Romanen und Filmen enthaltenen normativen Potenzials, aber auch des seit Erfurt wieder heftig diskutierte Phänomens der Gewalt in den Medien. Damit leistet Leschke auch einen wichtigen Beitrag für die Erhellung der in ihrer Bedeutung für die Lust an Literatur und Film meist unterschätzten "moralischen Lust". Wertvoll sind etwa die Beobachtungen zu der so beliebten Kopplung von Gewalt und Wahnsinn in Film und Fernsehen: Die Macher derartiger Produkte können sich dank dieser Verquickung einerseits der Faszination an spektakulärer Gewalt bedienen, ohne sich andererseits mit der "Komplexität faktischer Abweichungen" zu belasten: "die normativen Motive sind im Gegenteil zumeist hoch standardisiert und daher eingängig. [...] Insbesondere psychische Anomalien fungieren im wesentlichen als anerkannte Chiffren des Nichtverstehens. Ist der Wahnsinn attestiert, dann ist kein besonderer Motivierungsaufwand mehr von Nöten und nahezu alles erhält den Schein von Plausibilität. Die Einfachheit der Motivierungsstruktur und das gleichzeitig hohe Motivationspotential psychischer Anomalien macht diese Strategie gerade in der medialen Standardproduktion - etwa in Mysterie- und Krimiserien, aber auch massenwirksamer Kinoproduktion wie etwa 'Das Schweigen der Lämmer' etc. so beliebt: Es läßt sich so Ungeheures und daher für die mediale Form Attraktives mit denkbar geringem Aufwand motivieren. Im übrigen haben insbesondere soziale Krankheiten wie das ganze Ensemble der Süchte eine ähnliche Funktion: den von dieser Krankheit Betroffenen ist nahezu alles zuzutrauen und damit sind sie vielseitig in unterschiedlichen narrativen Konstellationen einsetzbar."

Wohltuend nüchtern, ohne erhobenen Zeigefinger konstatiert Leschke, warum Gewaltdarstellungen eher zu- als abnehmen: Die Aufmerksamkeit, die durch sie primär erzielt werden soll, verringert sich schnell, Reize nutzen sich ab. Die Strategien, mit denen Medienproduzenten den Zuschauer bei der Stange halten können, führen automatisch zu einer stetigen Aufladung der Gewaltdarstellung: quantitativ, qualitativ und ästhetisch.

Aufmerksamkeit erregt Gewalt dann wieder, wenn sich z. B. die Zahl der Opfer erhöht - weshalb serial killer wie Hannibal Lecter in der Filmindustrie so beliebt sind. Oder wenn die Bedeutung des Opfers hoch ist - weshalb in den 90ern in etlichen Hollywoodproduktionen der US-Präsident zum Ziel terroristischer Angriffe werden musste. Auch kann die Tat besonders spektakulär sein; die Spannweite reicht vom klinisch reinen Mord bis zum ausführlich dargestellten Gemetzel. Schließlich kann die Gewalt durch den Einsatz formaler Mittel (Kameraeinstellung, Wiederholungen, Verlangsamung usw.) ästhetisch aufgeladen werden. Nebenbei: Alle diese Faktoren wurden von Mohammed Atta und Co. mustergültig berücksichtigt; ein weiterer Beleg dafür, dass dem WTC-Anschlag auch medientheoretische Überlegungen zugrunde lagen.

Mit einigem Recht disqualifiziert Leschke das Beklagen von Mediengewalt, etwa in Form von "Leichenstatistiken", als "stets ideologisch". Und fordert eine differenzierte, primär deskriptive Analyse von Formen von medialer Gewalt in unterschiedlichen Kontexten und ihrer Wirkung. Gewalt ist nämlich nicht gleich Gewalt. Gern übersehen wird etwa, dass "auf der Ebene der Bestrafung der obligatorischen Widersacher [...] beinahe alles möglich ist, wenn der Angriff der Antagonisten auf das positiv gesetzte Wertesystem nur hinreichend anspruchsvoll ist. So ziemlich jede Tortur wird mit der pflichtschuldigen Genugtuung zur Kenntnis genommen, wenn sie nur verspricht, die Bedrohung des akzeptierten Wertesystems möglichst vollständig zu beseitigen." Gewaltdarstellungen, so Leschke, dürfen nicht isoliert betrachtet werden. Nicht nur was gezeigt wird, sollte bei der Analyse berücksichtigt werden. Den Anblick von Gewaltdarstellungen "genießen" zu können, hängt mehr noch davon ab, wie sie präsentiert werden, wer die Gewalt ausübt und gegen wen: Das haufenweise Dahinschlachten der bösen Orks im "Herrn der Ringe" kann deshalb vom Zielpublikum goutiert werden, weil es sich bei ihnen um gefühllose Bestien handelt. Würde nur einmal einem dieser Wesen ein Ich zugeschrieben werden, bräche die ganze Rezeption in sich zusammen.

Die Reichweite derartiger Einsichten wird erkennbar, wenn man nicht nur an "Spider-Man" oder "Star Wars" denkt, sondern auch an den, seien wir ehrlich, "mit pflichtschuldiger Genugtuung zur Kenntnis genommenen" War against Terrorism. Inzwischen bietet die US-Army als Werbung in eigener Sache und wohl auch zur virtuellen Vorausbildung zukünftiger Special Forces kostenlose Computersimulationen zum Downloaden an, in denen, wie in "Counterstrike", der Möchtegern-Elitesoldat Geiseln befreit und Terroristen bekämpft. Leschkes Studie, die vor dem 11. September geschrieben wurde, ruft nicht nur einmal jenes unbehagliche Gefühl hervor, in den Medien seit einiger Zeit anstelle der Realität einen Hollywoodfilm präsentiert zu bekommen.

Titelbild

Rainer Leschke: Einführung in die Medienethik.
Wilhelm Fink Verlag, München 2001.
383 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3825222500

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