Verstümmeltes Standardwerk

Michaela Wiesner-Bangards und Ursula Welschs Biographie von Lou Andreas-Salomé als Taschenbuch

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ob das der Tod ist? Ist ja schrecklich, ist ja schrecklich“, soll sie im Todeskampf gerufen haben. So berichtet zumindest die Pflegerin Maria Apel, die der schwer zuckerkranken Frau die notwendigen Insulinspritzen verabreichte. Ernst Pfeifer, der Vertraute ihrer letzten Jahre hingegen berichtet, dass sie ohne Angst gestorben sei. Jahre zuvor hatte sie in ihrem bekannten Buch „In der Schule bei Freud“ über den Tod geschrieben, dass er nur ein Vorurteil sei. Die Rede ist von Lou Andreas-Salomé, zurecht bekannt als Freundin, Geliebte, Schülerin und spätere Kollegin großer Männer, zu unrecht aber weithin vergessen als Autorin zahlreicher literarischer und theoretischer Werke.

Seit dem Tode Salomés 1937 erschienen verschiedene mal mehr, mal weniger geglückter Biographien, darunter 1988 aus der Feder von Michaela Wiesner und Ursula Welsch „Vom ‚Lebensurgrund‘ zur Psychoanalyse“, die nun unter dem Titel „Lou Andreas-Salomé – ‚Wie ich Dich liebe, Rätselleben“ als Taschenbuch vorliegt. Wurde die Erstausgabe noch als Standartwerk gerühmt, so darf die Taschenbuchausgabe wohl kaum noch auf ein derartiges Lob hoffen – zu einschneidend sind die vorgenommenen Kürzungen. So fehlt etwa das gesamte Kapitel „Die Psychoanalyse“ und im Anhang wurde das Verzeichnis der Werke von Lou Andreas-Salomé ebenso gestrichen wie dasjenige ihrer unveröffentlichten Autographen. Das gleiche Schicksal erlitt die Bibliographie der Sekundärliteratur. Und von den ursprünglich mehr als fünfzig „Kurzbiographien erwähnter Persönlichkeiten“ wurden gerade mal drei beibehalten. Am meisten vermisst man aber wohl die annähernd einhundert – oftmals seltenen – Abbildungen, welche die Erstausgabe ebenso schmückten wie auszeichneten. Dass der zwischenzeitlich publizierte Briefwechsel Salomés mit Anna Freud (vgl. literaturkritik.de 12/2001)für die Taschenbuchausgabe herangezogen werden konnte, kann für all diese Amputationen kaum entschädigen, zumal die Korrespondenz, die, wie die Autorinnen zu recht schreiben, aus der „intensivste[n] und beglückendste[n] Beziehung“ der großen alten Dame der Psychoanalyse erwuchs, nicht in dem Maße gewürdigt wurde, wie es der Relevanz des Briefwechsels entsprochen hätte.

Gleichwohl zählt die Biographie auch in der vorliegenden Fassung noch zu den Geglückteren. Erzählt sie doch im Unterschied zu manch anderer nicht mehr als sie wissen kann – in aller Regel zumindest. Auch muss man nur in wenigen Ausnahmefällen Belege oder Quellen vermissen. Dennoch bleibt auch über die Kürzungen hinaus einiges zu monieren, wie die gelegentliche unzulässige Vermischung von Erlebnissen der literarischen Figuren Salomés mit dem eigenen Leben der Autorin. Auch befremden einige Wertungen der Biographinnen. So etwa, wenn sie einen Vergewaltigungsversuch Friedrich C. Andreas‘, dessen sich Salomé nur erwehren konnte, indem sie ihn fast erwürgte, als „Überrumplungsversuch“ verharmlosen. Auch ist es nur schwer nachzuvollziehen, wenn die Verfasserinnen aus der Tatsache, dass Salomés Mutter „ihre eigene starke Persönlichkeit ihren Pflichten als Ehefrau und Mutter vorbehaltlos untergeordnet“ hat, schließen, sie habe „eine harmonische und glückliche Ehe“ geführt.

Titelbild

Michaela Wiesner-Bangard / Ursula Welsch (Hg.): Lou Andreas-Salomé. „… wie ich Dich liebe, Rätselleben“. Eine Biographie.
Reclam Verlag, Leipzig 2002.
296 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3379200395
ISBN-13: 9783379200394

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