Menschen sind keine Münzen

Die amerikanische Philosophin und Feministin Martha Nussbaum über die Konstruktion der Liebe, des Begehrens und der Fürsorge

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bundesdeutsche Körpertheoretikerinnen sparten im letzten Jahrzehnt nicht mit vehementer Kritik an Judith Butlers theoretischen Konzeptionen. Das rhetorische Niveau George W. Bushs zu erklimmen blieb jedoch einer amerikanischen Feministin vorbehalten. "Judith Butlers modischer Quietismus", giftete die Philosophin Martha Nussbaum vor einigen Jahren, "kollaboriert mit dem Bösen". Unter dem Titel "Konstruktion der Liebe, des Begehrens und der Fürsorge" liegt nun eine deutschsprachige Auswahl aus dem 1999 in den USA erschienenen Aufsatzband "Sex and Sozial Justice" vor, in der sich die liberale Feministin weitgehend einer argumentativeren Strategie befleißig. Der Band enthält drei philosophische Texte, in die Nussbaum durch eine Erläuterung ihres "besonderen Begriffs" des Feminismus einführt. Dieser ist durch "fünf hervorstechende Merkmale" gekennzeichnet: Er ist internationalistisch, humanistisch, im Kantischen Sinne liberal und er vertritt die Auffassung, dass Präferenzen und Wünsche sozial geformt sind. Allerdings, so betont die Autorin, würden die Menschen durch die Konventionen "nicht wie Münzen geprägt", sondern 'nur' durch deren "vielgestaltige" soziale Normen "eingeschränkt". Doch da Menschen nun einmal "krumme Wege" gehen, könnten die "realen" Männer und Frauen selbst in solchen Gesellschaften, die "fragwürdige Männer- und Frauenrollen" stärken, "Freiräume" finden, in denen es gelingen könne, deren Konventionen zu "unterlaufen" und "Möglichkeiten für Liebe und Freude" zu schaffen. Anders als Adorno ist sie also der Auffassung, dass es sehr wohl ein richtiges Leben im und gegen das Falsche gibt. Das fünfte Charakteristikum ihres liberalen Feminismus bezeichnet Nussbaum als "mitfühlendes Verstehen".

In den ersten beiden Aufsätzen zeigt die Autorin auf, welches "radikal-feministische Potential" dem Liberalismus "innewohnt", und untersucht die feministische Theorie der "Verdinglichung". Nussbaums einleitende Feststellung, dass das Wort "Verdinglichung" früher "eher ein Fachausdruck der feministischen Theorie" gewesen sei, wohingegen heute der "Begriff der sexuellen Verdinglichung" allgemein vertraut sei, ist dazu angetan, deutsche LeserInnen in Verwirrung zu stürzen; zumal, wenn sie mit der Studentenbewegung und so mit der Marxistischen Theorie in Berührung gekommen sind. Ist "Verdinglichung" doch ein Ausdruck, den sie in diesem Fall aus Marxens Frühschrift "Elend der Philosophie" oder aus dessen "Grundrissen" kennen dürften; und natürlich aus Georg Lukács' revolutionärem Bestseller "Geschichte und Klassenbewußtsein", in dem der ungarische Philosoph lange vor der Frauenbewegung eine - allerdings ganz anders geartete - Theorie der Verdinglichung entwickelte. In der DDR sozialisierte Sozialisten mögen hingegen über Nussbaums einleitende Bemerkung hinweglesen, denn Lukács' Ausführungen galten im realexistierenden Sozialismus als theoria non grata, so dass der Begriff "Verdinglichung" nicht einmal Eingang in das in der DDR maßgebliche "Philosophische Wörterbuch" von Georg Klaus und Manfred Buhr fand. Doch auch die Verwirrung ehemals spontaneistischer Altachtundsechziger mag dadurch gelindert werden, dass der Übersetzer (Joachim Schulte) in Klammern das von Nussbaum im Original verwandte Wort "objectivication" hinzusetzt. Denn der marxistisch verstandene Begriff der Verdinglichung wird gemeinhin mit "reification" ins Englische übersetzt. Jedenfalls meint der auf MacKinnon und Dworkin zurückgehende Begriff der "Verdinglichung" im amerikanischen Feminismus, "eine Person als ein Ding behandeln" insbesondere "die dingähnliche Behandlung von Frauen". Dass die beiden Feministinnen dabei ihrerseits auf Marx rekurrieren, soll hier unerwähnt bleiben, könnte dies doch neuerliche Verwirrung stiften.

Nussbaum listet sieben verschiedene Verhaltensweisen auf, die von dem "relativ unscharfen Clusterbegriff" "ins Spiel gebracht" werden, wie sie selbst etwas unscharf formuliert. Gemeint sind Instrumentalisierung, Leugnung der Autonomie, Austauschbarkeit, Besitzverhältnis, Leugnung der Subjektivität, Trägheit, worunter zu verstehen ist, dass der verdinglichten Person die Handlungsfähigkeit abgesprochen wird, und schließlich die Verletzung durch die verdinglichende Person. Anhand von fünf Zitaten aus fiktionalen Texten, darunter einem Hardcore-Porno, sowie einer Bildunterschrift aus dem Playboy geht Nussbaum der Frage nach, ob jeder dieser Aspekte der Verdinglichung unter allen Umständen zu verurteilen sei. Zur Beantwortung dieser Frage zieht sie den Königsberger Weltweisen Immanuel Kant heran, den sie allerdings in einem hier entscheidenden Punkt fehlinterpretiert. Denn für Kant ist die Instrumentalisierung des Partners in der Ehe nicht etwa darum legitim, weil diese Institution die "wechselseitige Achtung und Schätzung" garantiert, sondern weil sich die Ehepartner gegenseitig "als Sache erworben" haben und damit die beiderseitige Instrumentalisierung im "wechselseitigen Gebrauch ihrer Geschlechtseigenschaften" garantiert ist; so nachzulesen im "Eherecht" der "Metaphysik der Sitten". Nur auf Grund dieses Missverständnisses kann Nussbaum zu dem Resümee gelangen, dass es eine "zentrale", von Kant, MacKinnon und Dworkin geteilte "Einsicht" gibt, der die Autorin sich anschließt: Werden Menschen "instrumentalisiert und als Werkzeuge behandelt", um den Zwecken anderer zu dienen, so ist das "in moralischer Hinsicht immer fragwürdig". Hingegen, so Nussbaum weiter, ist keine andere auf ihrer Merkmals-Liste verdinglichenden Verhaltens verzeichnende Handlungsweise "unter allen Umständen moralisch verwerflich".

Im letzten, dem titelstiftenden Aufsatz widmet sich die Autorin der philosophischen Basis der These, dass Begierde und Sexualität sozial konstruiert seien. Die "historischen und institutionellen Kräften", welche das "Gebiet des Sexuellen" formen, sind Nussbaum zufolge durch "biologisch gegebene Rahmenbedingungen" begrenzt, wenn nicht gar bestimmt. Dabei ist die Philosophin der Auffassung, dass das Biologische vom Kulturellen zwar "derzeit" nicht geschieden werden kann, dennoch sei dies "grundsätzlich möglich". Auf philosophische Positionen, die diese Möglichkeit aus erkenntnistheoretischen oder anderen Gründen prinzipiell verneinen, geht sie allerdings nicht ein.

Ohne es ganz explizit zu machen, vertritt Nussbaum die These, dass Kultur von Natur prädominiert wird. So konstatiert sie zwar, dass Begehren gesellschaftlich geprägt sei, doch bestehe eine "biologische Basis für Unterschiede der sexuellen Begierde und Anziehung". Daher sollte man sich um "biologische Erklärungen" - etwa von Homosexualität - "energisch weiterbemühen", denn es gebe "offene Fragen, die nur eine solche Erklärung beantworten könnte". Der Theorie sozialer Konstruktion bleibt dabei nichts weiter als die Rolle, die ehedem der Philosophie im Verhältnis zur Theologie zugedacht war: die der dienstbaren Magd. Der Sozialkonstruktivismus, so Nussbaum, könne immerhin die "richtigen skeptischen Fragen" stellen, "indes die Forschung vorangeht", die - wie sich versteht - von der Biologie geleistet wird.

Überraschender Weise spricht Nussbaum dem Sozialkonstruktivismus ungeachtet all dessen eine befreiende Funktion zu. Denn im Gegensatz zum "einengend" wirkenden "Glaube an die unwandelbare 'Natur'" könne "die durch den Gedanken der sozialen Konstruktion gewonnene Freiheit" zu der Erkenntnis führen, dass die Tradition "in vieler Hinsicht töricht, drückend und schlecht" sei.

Titelbild

Martha Nussbaum: Konstruktionen der Liebe, des Begehrens und der Fürsorge. Drei philosophische Aufsätze.
Übersetzt aus dem Englischen von Joachim Schulte.
Reclam Verlag, Stuttgart 2002.
235 Seiten, 5,60 EUR.
ISBN-10: 3150181895

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