Das Zeitalter der Bekenntnisbücher

Nach Angot und Millet kommt Arcan

Von Stefanie PhilippRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Philipp

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die erste Auflage von Nelly Arcans Roman "Hure" ist nach zwei Wochen vergriffen gewesen, die zweite und dritte ebenfalls bereits verkauft und die vierte befindet sich in der Auslieferung. Es wird also Zeit, sich Gedanken zu machen, ob dieser Roman für den Weihnachtsbaum taugt.

Die 26-jährige Franko-Kanadierin Nelly Arcan liefert mit ihrem Debütroman einen Bericht: die Bekenntnisse einer Prostituierten gegenüber ihrem Psychoanalytiker. Die Heldin, eine junge Frau aus gutem Hause, zieht weg aus der kanadischen Provinz, um in der 'Großstadt' Literatur zu studieren. Mit recht nüchternen Worten bekommt der Leser mitgeteilt, dass sie den Namen ihrer kurz nach der Geburt verstorbenen Schwester 'Cynthia' angenommen hat und zwecks Finanzierung ihrer akademischen Laufbahn Prostituierte wird.

Der Vater, ein streng gläubiger Katholik, taucht immer wieder als potentieller Kunde vor der Tür oder im Bett der Ich-Erzählerin auf. Ihre Mutter hingegen geistert, wie anscheinend im wahren Leben auch, ausschließlich als die Figur einer Larve durch die Gedanken der jungen Frau. In ihren Augen hat die Mutter irgendwann aufgehört zu leben, schläft in ihrem Kokon und traumatisiert so nachhaltig das Leben der Heldin durch ihre Nicht-Existenz.

Nelly Arcan vermittelt ihre Geschichte in einer Form, die am ehesten vergleichbar ist mit dem Phänomen des 'stream of consciousness'. Der Leser sieht sich in der Position des Psychoanalytikers, der die Tagebucheinträge seiner Patientin kommentarlos hinzunehmen hat. Es wird nicht von ihm erwartet, dass er sich wertend äußert, er soll nur zuhören. Die Autorin stückelt vor den Augen der lesenden Instanz mit unendlich vielen aneinandergereihten Worten, Satzfetzen und Gedankengängen eine Collage ihrer Heldin. Eine Mixtur aus Kindheitserinnerungen, Berichten der erlebten, authentischen Welt der Studentin und der der Hure, Träume und Reflexionen, die alles verbinden und auch wieder zerreißen.

Eine Form, die an sich die Presse jubeln lässt: "Ein Roman von wuchtiger Konsequenz, sprachlich unendlich differenzierter als vergleichbare Bekenntnisbücher", so "Der Spiegel". Sogar von einem 'poetischen Befreiungsschlag' war zu lesen. Als Leserin von "Hure" empfinde ich teils zweieinhalb Seiten lange Sätze allerdings eher als Behinderung denn als Bereicherung. Was allerdings an der Kindersprache der Heldin so unendlich ausdifferenziert und poetisch sein soll, wenn sie ihre Mutter permanent als 'Larve' und sich selbst und anderen junge Frauen als 'Schlumpfinen' bezeichnet, das bleibt mir ein Geheimnis.

Einen Fauxpas muss man jedoch wohl den Übersetzern zu Lasten legen. Mir liegt die Vermutung nahe, dass diese mit dem Verb 'bumsen' versucht haben, der deutschen Variante des F-Wortes aus dem Wege zu gehen. Der moderne Leser stolpert, schmunzelt und findet bestenfalls, dass das antiquarisch anmutet.

"Ich habe dafür plädiert, Nelly Arcans Buch "Hure" ins Programm aufzunehmen, weil die Autorin mit ihrer präzisen, atemlosen Sprache die Maschinerie des Sexuellen, die unauflösliche Verstrickung der Geschlechter und des Geschlechtlichen darstellt, klug, analytisch und anschaulich. So äußert sich der Lektor Martin Hielscher über seine Gründe, "Hure" ins Programm aufzunehmen. Beim Lesen entsteht viel mehr der Eindruck, dass die Heldin sich mit ihren Persönlichkeitsproblemen, ihrer Magersucht und den Schwierigkeiten beim Erwachsenwerden doch lieber hätte ihrem Analytiker denn einem Verleger anvertrauen sollen. Brisant und interessant wird "Hure" erst, wenn der Leser bedenkt, dass es sich um einen Roman mit autobiographischen Zügen handelt . Hier wird der voyeuristisch veranlagte Leser möglicherweise enttäuscht, da es sich eindeutig nicht um pornographische Literatur handelt. Stoff für Kritiken bietet Nelly Arcan allemal - wenn die Redakteure auch vielmehr auf der Suche nach der subtilsten Methode sind, herauszufinden, was von der 'Beichte' wirklich erlebt sein kann, von einer so hübschen, medienwirksamen jungen Autorin.

Titelbild

Nelly Arcan: Hure. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2002.
191 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3406493181

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