Skepsis und Utopie

Eine neue Ausgabe der "Scheidewege"

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Sommer vollbringt die grellsten Spektakel, die Wahrheit aber kommt im Herbst. Jeden Oktober, wenn mit den Bäumen zugleich die sorgsam kultivierten Illusionen abblättern, die liebgewonnenen Gewissheiten vom Wind zerzaust werden und die rosarote Brille unschön beschlägt, dann ist die Zeit reif für die Neuausgabe der "Scheidewege".

Der "Jahresschrift für skeptisches Denken" und ihren Beiträgern sind die Heilsversprechen des zur Religion erhobenen Fortschritts ebenso fragwürdig geworden, wie die Glücksverheißungen der Globalisierung. Dabei zielen die "Scheidewege" in nuce auf eine Veränderung der eingeschliffenen Wahrnehmungsgewohnheiten, auf die kritische Zersetzung der zu Selbstverständlichkeiten zementierten Verhältnisse in Ökologie, Ökonomie, Medizin, Politik, Philosophie oder der eigenen Lebensführung. Und die Zeitschrift benennt die Folgekosten, die wir abzustottern haben, wenn wir unser Denken und Handeln nicht grundlegend ändern: Der Preis eines blindwütigen Machbarkeitswahns ist Naturzerstörung, Börsendiktatur, Manipulierung und Technifizierung des Lebens, manisches Getriebensein und anderes mehr.

Unter dem skeptischen Blick der Zustandsbeschreibung, der philosophischen Betrachtung und der geduldigen Analyse gedeiht in den "Scheidewegen" die Utopie: die Hoffnung auf einen unverfälschteren, weniger von Verwertungsinteressen geprägten Wirklichkeitskontakt. Wir müssen nicht zwangsläufig zerstören, was wir anfassen, sondern können mit der Natur, mit Menschen und Dingen auch behutsamer, komtemplativer und weniger zudringlich umgehen. Von dieser Art waren die Beiträge der beiden vorangegangenen Ausgaben, die sich mit der Anmutung von Bäumen, dem Leitbild der Nachhaltigkeit und der Phänomenologie des Wasser beschäftigen. Oder mit dem Universum von Wörtern und Sachen, wie es sich zwischen den Buchdeckeln einer achtbändigen Enzyklopädie der Warenwelt enfaltet.

In der aktuellen Ausgabe belehrt Ziad Mahaynis Beitrag "Altern in der Spaßgesellschaft" unter Rekurs auf Cicero und Platon darüber, dass das Schwinden der Leistungsfähigkeit, der Verlust der Sinnesfreuden und das Näherrücken des Todes nicht zwangsläufig als Verdammnis zu werten ist, sondern im Gegenteil eine Vielzahl von Chancen birgt. Anschließend sinniert Gernot Böhme über den "Moderne(n) Körperkult". Sein Befund: Durch die modernen Körperinszenierungen wie Bodybuilding und Schönheitsoperationen allein lässt sich Schönheit nicht herstellen. Schönheit sei stets "Atmosphäre" und spiele sich als "Ereignis" zwischen Personen ab. Als solche ist sie abhängig von Resonanz und Empfänglichkeit.

Reinbert Tabberts schön illustrierter Artikel zu den Märchenholzschnitten Peter Fetthauers ("Körperspiel und Körperschrecken") und Thomas Fuchs' an Walter Benjamin gemahnende Untersuchung zur "Sexualität im Zeitalter ihrer technischer Reproduzierbarkeit" führen das Körper-Thema fort. Weitere Beiträge in Auswahl: "Zur Herrschaft der Computermetapher" (Hans Dieter Mutschler), der naturphilosophische Essay "Zu viele Gäste" (Barbara von Wulffen), "Raum als Erlebnis und Erlösung" (Peter Cornelius Mayer-Tasch), "In Betrachtung einiger Brillenetuis" (Mins Minssen), "Vom Sinn, vom Zweck und vom ökologischen Ablaßhandel" (Till Bastian).

Beschlossen werden die aktuellen "Scheidewege" durch einem Nachruf auf Jürgen Dahl, der die Zeitschrift als Schriftleiter, Mitherausgeber und Autor seit ihren Anfängen entscheidend geprägt hat. Hielte die Ausgabe nicht wieder bis zum Oktober des kommenden Jahres (und noch weit darüber hinaus) vor, da man immer wieder vor das Bücherregal tritt, um in dem Band zu blättern und sich in einem Akt verzweifelter Selbstmedikamentierung eine Dosis kulturkritisches Gegengift zu verabreichen - man wünschte sich ein häufigeres Erscheinen der "Scheidewege".

Titelbild

Max-Himmelheber-Stiftung (Hg.): Scheidewege. Jahresschrift für skeptisches Denken. 32. Jahrgang 2002/2003.
Max-Himmelheber-Stiftung, Baiersbronn 2002.
424 Seiten, 19,50 EUR.
ISBN-10: 3925158189

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