Nimmersatte Lebenskünstler

Sabine Peters entwirft ein Portrait unserer Gesellschaft

Von Judith LechnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Judith Lechner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Sie stand auf, nahm eine Flasche Cola light, trank, drückte die Fernbedienung, Traumfabrik Hollywood lief als Wiederholung. Vor dem Schirm starrend, nicht sehend, nicht hörend, begann sie gymnastische Übungen. [...] Als Denkzettel heute statt Abendessen Liegestützenkur verschärft, das Fleisch muß willig sein, der Geist muß stark bleiben, die Konkurrenz schläft nicht, nie nachgeben, marktfähig sein, frei jeder gegen jeden. Da fühlt man, daß man lebt."

"Girlie", alias Janina Fischer, steht zwischen Pubertät und Anorexie. Sie ist eine von 32 Figuren aus Sabine Peters neuem Roman "Nimmersatt", der eine große Auswahl an Charakteren bietet, die uns jeden Tag auf der Straße begegnen könnten: Gestresste Mütter, Karrieretypen, Homosexuelle und sogar ein Kleinkind kommen zu Wort, sprechen im inneren Monolog oder sind in ihren Gedanken gefangen. Genauso vielfältig wie die Charaktere sind auch die Probleme, mit denen sich die Protagonisten herrumschlagen müssen: Ehen die nicht funktionieren, Frauen die sich verwirklichen wollen, Teenager, die die Sexualität entdecken und die wie "Girlie" einfach gar nichts mehr essen, weil sie ihren Körper nicht mögen. Eines jedoch haben sie alle gemeinsam, sie werden nicht satt (nimmersatt) vom Leben, können sich nicht durchsetzen gegen gesellschaftlichen Druck und visuelle Reizüberflutung. Es ist egal, ob es das Kleinkind Anton ist, das uns in seine Welt mitnimmt oder sein erfolgreicher Onkel Jan, hilflos sind sie alle auf ihre Weise.

Der Ton des Ganzen ist eher betrüblich als aufheiternd, die Geschehnisse sind komisch und erschütternd zugleich. Zu Beginn jedes Kapitels wird ein kurzer Absatz vorangeschickt, der den Leser in die Situation des nächsten Erzählers versetzt.

Einen übergeordneten Erzähler gibt es bei Sabine Peters nicht, und auch der Stil ist stets der erzählenden Person angepasst. Geschickt imitiert Peters den Jargon der einzelnen Charaktere. Jede Person lässt sie mit ihrer eigenen Stimme sprechen. Auf diese Weise gelingt es ihr, den Eindruck von Authenzität beim Leser zu wecken. Peters gewährt tiefe Einblicke in die menschliche Psyche und deren Abgründe. Man wird hineingezogen in die kleinen verschlossenen Welten menschlicher Gedanken und Ängste. Es sind alles repräsentative Zeitgenossen, die bei Peters zu Wort kommen. Die Autorin geht auf Distanz und lässt ihre Protagonisten selbst erzählen, ohne sie mit allwissender Erzählergeste zu kommentieren.

Was das Buch besonders macht ist die beeindruckende Einfühlungskraft und Beobachtungsgabe der Autorin. Sie schafft es, die Menschen und ihre Probleme realistisch wirken zu lassen, ohne sie dabei allzu ernst zu nehmen. Man findet Parallelen und Ähnlichkeiten wieder, ebenso wie Probleme und Gedanken, die schon durch den eigenen Kopf gegangen sind. Die Gedanken werden zum Gefängnis, die Ängste werden zur Qual. Peters Blick auf die Dinge des Lebens ist illusionslos, jedoch ohne das Mitleid des Lesers wecken zu wollen. Ihre Betrachtungen sind illusionslos und sie versucht nichts zu beschönigen. Sachlich zeigt Peters wie das Leben ist und was in den Menschen vorgeht, ohne sie dabei zu verurteilen oder zu kommentieren.

Peters Buch ist eine bewegende literarische Momentaufnahme. Treffender hätte man die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts nicht einfangen können.

Titelbild

Sabine Peters: Nimmersatt.
Wallstein Verlag, Göttingen 2000.
128 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 3892444064

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