Von der Raumfahrt und anderen Märchen

Ein Sammelband zum Verhältnis von Literatur und Wissenschaften in den Jahren 1890 bis 1935

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang war das Gedicht, das Lehrgedicht des Parmenides "Über die Natur". Dienten bislang Mythen zur Bewältigung unerklärlicher Phänomene, so kann in dem um 515 v. Ch. verfassten Werk der Übergang zu ihrer natürlichen Er- und Begründung gesehen werden. Es ist dies die Geburt von Philosophie und Wissenschaft aus der lyrischen Form. Im Laufe der Jahrtausende haben beide nicht nur ihre eigenen textlichen, durchaus auch literarischen Formen gefunden, dieses Verhältnis zu literarischen Texten ist selbst zum Untersuchungsgegenstand der Wissenschaften geworden. Der Vielfältigkeit, in der es sich zwischen 1890 und 1935 herausgebildet hat, spüren die Beitragenden eines von Christine Maillard und Michael Titzmann herausgegebenen Sammelbandes nach. Ein Zeitraum, der, wie die HerausgeberInnen hervorheben, in der Geschichte der deutschsprachigen Literatur ebenso wie in der Geschichte der Wissenschaften eine Phase "mehr oder minder revolutionärer Innovationen" und eines entsprechend "fundamentalen Strukturwandels" darstellt. Revolutionierten die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik das physikalische Weltbild, schufen Freud und Max Weber mit der Psychoanalyse und der Soziologie neue wissenschaftliche Disziplinen, so explodierte die Innovationskraft deutschsprachiger Literaten und Literatinnen um die Jahrhundertwende zu einem wahren Feuerwerk der Stilrichtungen. Der Naturalismus als initiatorische Kraft der literarischen Moderne hatte sich noch nicht überlebt, da brachen sich bereits Impressionismus und Jugendstil Bahn, bald begleitet und gefolgt von Expressionismus, Dadaismus und später der Neuen Sachlichkeit, womit nur einige wenige der wichtigsten Stile genannt sind.

In ihrem erhellenden Vorwort reißen Maillard und Titzmann die Problematik und die Vielfalt möglicher intertextueller Beziehungen zwischen fiktionalen wissenschaftlichen Texten bzw. zwischen Literatur und Wissen(schaften) sowie zwischen diesen und ihrer wissenschaftlichen Interpretation und Annäherung auf. "Hypothetisch", so die Herausgeberinnen, ließen sich literarische Texte etwa auch unter der Fragestellung interpretieren, wie sich 'Realität' für die Figuren der Texte konstituiert. Eine solche "Theoriestruktur" könne sodann mit den zeitgenössischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien verglichen werden. Ein faszinierender Gedanke. Allerdings verfolgte Franz Orlik mit seiner Dissertation "Das Sein im Text" bereits vor einigen Jahren eine ganz ähnliche Absicht, als er die "ontologischen Implikationen" der Werke Thomas Manns in den Blick nahm und den in ihnen behaupteten "Status von Wirklichkeit" analysierte.

Die Beiträge wurden ursprünglich auf dem Kolloquium "'Literatur und Wissen(schaften) in der frühen Moderne" gehalten, das im Oktober 2000 an der Strasbourger Université Marc Bloch stattfand. Werden in dem vorliegenden Buch zunächst die Bezugnahmen von Literaten auf die Naturwissenschaften, insbesondere die Physik thematisiert, so behandeln die AutorInnen der zweiten Hälfte die komplexen Beziehungen zu den Kulturwissenschaften. Hier beleuchtet Horst Thomé die Geschichtsspekulation in der "Weltanschauungsliteratur" Oswald Spenglers, Jean-Marie Paul wendet sich dem "Wissenschaftsaberglauben" und der "Gefährdung des Menschseins" in Karl Jaspers "Die geistige Situation unserer Zeit" zu und Thomas Anz beleuchtet die "Psychoanalyserezeption in der Literatur der Frühen Moderne".

Zuvor zeigt Carsten Könneker die "Vulgarisierung der Relativitätstheorie" im öffentlichen Diskurs während der ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auf und Hans Krah zeichnet den "Weg zu den Planetenräumen" nach, wie ihn sich Theorie und Literatur der Frühen Moderne vorstellten.

Zu den Autoren, die einen literarischen Weg zum Nachbarplaneten Mars fanden, gehörte auch der den Neukantianern nahestehende Physiker Kurd Laßwitz, der in seinem 1897 erschienenen Monumentalwerk "Auf zwei Planeten" die nach Kantischen Maximen errichtete Gesellschaft der Martianer entwarf. Der Roman erfreute sich nicht nur zahlreicher Neuauflagen, sondern brachte seinem Verfasser auch die Ehre ein, zum Namenspatron des jährlich verliehenen Preises für deutschsprachige Science-Fiction zu avancieren. Laßwitz, der die Auffassung vertrat, dass die Naturwissenschaften popularisiert werden könnten und sollten, schrieb darüber hinaus nicht nur einige philosophische Werke, sondern auch zahlreiche Märchen, die eben der Popularisierung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und Fragestellungen dienten. Ihnen gilt das Interesse Françoise Willmanns, die die These vertritt, dass die Märchen nicht nur "poetische Erholungspausen im Werk des popularisierenden Wissenschaftlers" waren, sondern auch an der "Erhöhung der Akzeptanz von Wissenschaft in der sozialen Sphäre" mitwirkten. Laßwitz, so die Autorin, stellt die durch die Naturwissenschaften entzauberte Welt auf dem "Umweg" des Märchens wieder als Ganzes dar. Hierbei schaffe er durch Witz, Selbstironie und dem Spiel mit Klischees eine unterhaltende Lektüre, die zwar leicht anmutet, es aber doch auf mehr abgesehen hat. Die von Willmann zur Illustration vorgelegten Kurzreferate einiger der Märchen geben ihr Recht und machen zudem Lust auf deren Lektüre.

Zwei der Beitragenden fassen den Geschlechter- und Sexualitätsdiskurs ins Auge. Während sich Marianne Wünsch mit "sexuellen Abweichungen" in der Literatur und im theoretischen Diskurs der frühen Moderne befasst, widmet sich Anne Masseran der "Erziehung der Frau" in populärwissenschaftlichen Zeitschriften für Frauen im Wien der Jahrhundertwende und wirft die Frage auf, wie die "'lebendige Fiktion' der Mutter und Hausfrau" im öffentlich geführten populärwissenschaftlichen Diskurs konstruiert wurde. Die analysierten Zeitschriften weisen Masseran zufolge "fast einstimmig" darauf hin, dass die Tätigkeit als Hausfrau und ihr Dasein als Mutter der "'Naturberuf' der Frau" sei. Eine natürliche Bestimmung, für welche die Frau sich jedoch über "das natürlich Gegebene" hinaus qualifizieren muss, indem sie sich die "neuen Erkenntnisse" der Wissenschaften - etwa in Hygiene und Pädagogik - aneignet und sie umsetzt, wofür die Autorin den passenden Terminus der "Verwissenschaftlichung des Mutterberufes" gefunden hat.

Marianne Wünschs Beitrag macht deutlich, dass der zu Beginn des 20. Jahrhunderts virulente Diskurs über Homosexualität und Sadomasochismus nicht nur breit geführt wurde, sondern auch ein weites Spektrum von Auffassungen, Meinungen und Stellungnahmen zeitigte, das von Hans Blüher, dem Homosexualität als mit der Heterosexualität "gleichwertig[e]" und somit nicht als "krankhafte Verhaltensweise" galt, bis zu Alfred Adler reichte, der nicht davor zurückschreckte einen "staatlichen Zwang zur Heilung" von Homosexualität zu propagieren. Gemeinsam war ihnen jedoch allen, dass sie eine sich als wissenschaftlich ausgebende "klassifikatorische Ordnung abweichenden Sexualverhaltens" herstellten, die "unzweideutig" durch die "Bedürfnisse der eigenen Kultur" bestimmt war. Unabhängig davon, "wie unterschiedlich" diese Theorien "in manchem" auch gewesen sein mögen, so lautet Wünschs bemerkenswertes Fazit, ging es "unausgesprochen" doch stets um die "Problematik" der "Abgrenzung der Geschlechterrollen voneinander". Selbst dort, wo sie - wie bei Otto Weiniger - vermeintlich aufgelöst wurden, galt das Unternehmen letztlich doch wieder der "Verteidigung der Grenzen zwischen den Geschlechtern". Für Weininger, der jedem Menschen 'männliche' und 'weibliche' Merkmale "in unterschiedlicher Kombination" zuschrieb, war zwar der Mann nicht mehr "selbstverständlich 'männlich'" und die Frau nicht mehr "selbstverständlich 'weiblich'", doch wusste er - und mit ihm das ganze Zeitalter - nur allzu genau, welches Verhalten, welche Emotionen, welche Haltungen etc. 'männlich' und welche 'weiblich' sind; und, wichtiger noch, dass diese "Merkmalskomplexe" "transkulturell invariant" sind. Eine Immunisierung der herkömmlichen Geschlechterrollen, die sich der Autorin zufolge durch den gesamten Geschlechterdiskurs der Frühen Moderne zog.

Titelbild

Christine Maillard / Michael Titzmann (Hg.): Literatur und Wissen(schaften). 1890-1935.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2002.
415 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 3476452824

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