Ein schöpferischer Akt

Abilio Estévez Roman "Dein ist das Reich"

Von Sandra SchäferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Schäfer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"So viel wurde und wird über die Insel erzählt, daß man verrückt werden würde, wollte man alles glauben, behauptet die Barfüßige Gräfin, die selbst verrückt ist". So lockt der erste Satz, sich auf die Atmosphäre dieser geheimnisvollen Insel einzulassen und ebenso auf ihre merkwürdigen Bewohner.

"Die Insel", das ist eine kleine Welt für sich am Rande der Ortschaft Marianao nahe Havanna. Durch ein ehemals prächtiges, doch nun verrostetes Tor und einen kühlen Vorhof gelangt man aus der Hitze der Straße ins "Diesseits" der Insel. Hier stehen die Häuser und Hütten der Bewohner, und hier ist auch der verwilderte Garten, der die nachgeahmten antiken Skulpturen beherbergt, von denen es heißt, sie seien "nicht weniger lebendig als die übrigen Bewohner". Der unwegsame Wald wird das "Jenseits" genannt. Es ist nur durch eine verfallene Holzpforte vom Diesseits getrennt und vom nahen Meer umschlossen.

"Die Insel wandele sich von Stunde zu Stunde, jede Zeit, jedes Licht habe seine eigene, eine andere Insel", so behauptet Professor Kingston, einer der sechzehn Inselbewohner. Sie alle sind in gewisser Weise Gescheiterte, die dennoch die Hoffnung auf bessere Zeiten nicht aufgeben wollen; sie alle sind Träumer.

Es ist ein Nachmittag Ende Oktober des Jahres 1958. Ein Unwetter zieht auf, es wird ungewöhnlich früh dunkel, es ist stürmisch und Regen kündigt sich an. Eine beunruhigende Stimmung legt sich über die Insel. Onkel Rolo, ein homosexueller Buchhändler, schließt seinen Laden. Er liebt den Regen und schläft doch in tiefer Trauer ein. Er ist nicht der Einzige, der auf die eine oder andere Weise verschwunden zu sein scheint. Denn Merengue, der Bäcker, ist auf der Suche nach seinem Sohn Chavito, von dem die wandelnden Statuen stammen und der ein Geheimnis haben muss, da er keine Geheimnisse mehr zu haben scheint. Casta Diva trauert den vergangenen Tagen als Opernsängerin hinterher. Die Witwe Irene stellt fest, dass sie sich nicht mehr erinnern kann, woher die Vase stammte, die der Sturm zerbrach, und sucht beängstigt die tief gläubige Senorita Berta auf, welche liebevoll ihre alte Mutter Dona Juana pflegt und sich von unsichtbaren Augen beobachtet fühlt. Die Barfüßige Gräfin wandelt prophezeiend und mit ihren Armreifen klingelnd über die Insel und verkündet apokalyptische Visionen. Lucio erscheint sein totes Ebenbild. Und dann ist da noch Scheherazade, die Geschichtenerzählerin aus "1001 Nacht", auf der Insel jedoch in Gestalt eines verwundeten Matrosen. Er wird vom jungen Sebastián gefunden und von Irene aufgenommen, die sich bald nicht einmal mehr an ihren Namen erinnern kann.

Dieser Roman erzählt die Geschichte von Lebendigkeit und Vergänglichkeit, von Hoffnungen und Bedrohungen der Inselbewohner und Estévez lädt den Leser ein, teilzuhaben an den Erlebnissen dieser Menschen. Er schildert farbenfroh und sinnlich die erotischen und tragischen und erschreckenden Episoden, die sie herausfordern und vielleicht auch entmutigen. Mit seiner Sprache vermag Estévez zu fesseln und in den Bann der Insel zu ziehen. Seine schriftstellerische Tätigkeit nahm in der Lyrik ihren Anfang, und so ist die Sprache dieses Romans geprägt von ausdrucksstarken Metaphern und üppigen Bildern. Der Hauptstrang des Romans verläuft nicht geradlinig oder chronologisch, sondern springt von einer Figur zur nächsten und lässt den Leser vorausschauen, dann wieder zurückkehren und umgekehrt. So zieht es ihn immer tiefer in das Geflecht der Beziehungen, wobei die Insel mit ihren Mythen und Geschichten gleichzeitig so fremdartig wie verlockend erscheint.

Am Silvestertag 1958 endet die Handlung des Romans mit einem tragischen Unfall, der auf der Insel einen Brand auslöst. Dieses Datum verweist direkt auf eine wichtige Zäsur in der Geschichte Kubas: Der Diktator Batista floh ins Exil und die Rebellen hielten Einzug in Havanna. Im Februar 1959 wurde Fidel Castro Ministerpräsident.

Trotz dieses Endes ist der Roman nicht im eigentlichen Sinne politisch. Im Epilog des Romans würdigt Estévez nicht nur die Großen der Weltliteratur und ihre Erzählkunst. "Es muss festgestellt werden, daß Flaubert falsch lag: Es ist nicht ratsam, daß der Autor in seinem Werk wie Gott in der Schöpfung sein soll: gegenwärtig, aber unsichtbar. Wir sehen ihn tagtäglich in den unterschiedlichsten Formen", so heißt es hier auch, womit Estévez die Frage nach den Möglichkeiten eines Schriftstellers diskutiert und die mehrmaligen Durchbrechungen der Handlungsebene auf die Metaebene innerhalb des Romans nachträglich legitimiert.

"Alles, was ich erzähle, ist autobiographisch", heißt es später. Demnach handelt es sich bei diesem Roman um die literarische Brechung privater und persönlicher Erinnerungen - wobei jedoch die politische Situation, nämlich der Untergang des vorrevolutionären Kuba, nicht unbetrachtet bleiben kann.

Estévez ist der Schöpfer einer Insel, die mythisierter Schauplatz dieser seiner Erinnerungen ist. Er schafft ein Reich, in dem sich Realität und Phantasie vermischen. In diesem Sinne kann wohl der Titel des Romans verstanden werden: "Dein ist das Reich" - diese Zeile aus dem Gebet "Vater Unser" verweist auf die kreative und schöpferische Kraft eines Schriftstellers ebenso, wie auch der Verweis auf Scheherazade, die Geschichtenerzählerin aus "1001 Nacht". Allgemein sind die Bibelzitate und Anspielungen darauf, die Estévez einstreut, natürlich nicht wörtlich aufzufassen. Sie stellen vielmehr die ironische, fast schon ketzerische Brechung ihres Kontextes dar; sie werden benutzt, um den schöpferischen Akt, der dem Erzählen innewohnt, noch weiter hervorzuheben. Und so endet der Roman rhetorisch, denn schließlich ist man längst Estévez Sprache und Erzählkunst erlegen: "Ist es etwa nicht richtig, ja sogar notwendig, daß am Anfang das Wort war, daß unsere vielgestaltige Welt mit einem einfachen Wort begann?"

Titelbild

Abilio Estévez: Dein ist das Reich. Roman.
Übersetzt aus dem kubanischen Spanisch von Susanne Lange.
Luchterhand Literaturverlag, München 2001.
472 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3630870384

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