Alles phantastisch, oder was?

Renate Lachmann über "Erzählte Phantastik"

Von Matthias AumüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Aumüller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Selten stösst man auf ein Buch, dessen Klappentext den Inhalt des Buches angemessen wiedergibt. Der Satz auf der Rückseite des neuen Buches der inzwischen emeritierten Konstanzer Slavistin Renate Lachmann lautet: "In der Phantastik wird die Begegnung der Kultur mit ihrem Vergessen erzählt." Zugegeben, dieser Satz reflektiert lediglich den theoretisch angelegten ersten Teil des Buches und weniger die Textanalysen der beiden folgenden Teile. Aber er fasst kongenial zusammen, worum es der Autorin geht: das phantastische Element in der Erzählliteratur auf ein kulturelles Abseits zu beziehen und als gegenläufige Tendenz zu einer anerkannten Weltanschauung zu deuten. Diesem Ansinnen kommt sie besonders in den kenntnisreichen und hintergrundhaltigen ersten Kapiteln nach.

Nach "Gedächtnis und Literatur" aus dem Jahre 1990 und "Die Zerstörung der schönen Rede" von 1994 hat Renate Lachmann also einen weiteren Band mit Aufsätzen zu einem übergeordneten Thema vorgelegt. Das sie einigende Band ist eben das Phantastische, das sie im ersten Teil in poetologischer und begriffsgeschichtlicher Hinsicht und in den folgenden beiden Teilen anhand von Textanalysen untersucht. Entstanden sind die einzelnen Kapitel in den letzten zehn Jahren. Durch einige Originalbeiträge ergänzt, sind sie überwiegend als erweiterte Versionen aus Aufsätzen hervorgegangen, die bereits in Zeitschriften und Sammelbänden publiziert wurden.

In den ersten begriffsgeschichtlichen Kapiteln erörtert Lachmann verschiedene für eine Poetik phantastischer Literatur zentrale Konzepte wie das des Trugbildes oder das des Phantasmas und des Wunderlichen und Wunderbaren. Besonders das zweite Kapitel, in dem Lachmann die Modifikationen des Phantasma-Begriffs von Platon bis zu Jean Paul nachzeichnet, ist sehr lehrreich. Wie in den anderen Kapiteln ist der Dreh- und Angelpunkt für Lachmann auch hier der Concettismus, den sie an anderer Stelle als "Vorstufe zu einer Kontingenzpoetik" bezeichnet, die sie ihrerseits als für die phantastische Literatur konstitutiv ansieht. Den Zufall beschreibt sie im letzten Kapitel des ersten Teils als lebensweltliches Moment phantastischer Texte und stellt dies den bis dahin erörterten figuralen Momenten, zu denen ausser den genannten auch das Paradoxon (vgl. das Kapitel "Rhetorik - Gegenrhetorik") zählt, gegenüber. Für Lachmann ist der Zufall ein Prinzip phantastischer Poetik, und sie kontrastiert es mit Valerys Überzeugung, wonach Kunst gerade in der Überwindung des Zufalls besteht. Sie setzt die bewusste Konstruktion von Zufällen in phantastischer Literatur dagegen, in der sie das concettistische acumen als Verfahren mit dem Effekt der Verwunderung wiederentdeckt.

Lachmann merkt selbst an, dass ihre These von der Parallele zwischen Zufall und concettistischem acumen nicht in narrativer Hinsicht, sondern rein verbal zu verstehen ist. Dieser Umstand lässt sich verallgemeinern und weist auf eine Eigenschaft ihres Buches insgesamt hin. Lachmann sieht überall Parallelen und Analogien. Das macht ihr Buch zu einer Fundgrube und lässt es reich an Überlegungen erscheinen. Man kann ihr allerdings nicht die kritische Frage ersparen, wo dieses Übermass an häufig disparaten Überlegungen hinführen soll. Lachmann selbst jedenfalls bietet hier keine Hilfestellung an. Der Reichtum, auch ihre imposanten Kenntnisse insbesondere der rhetorischen Tradition, verstellt zuweilen den Blick auf das eigentliche Thema. Ähnliche Kritik drängt sich auch bei ihren Textanalysen auf. Lachmann bietet neue überraschende Interpretationen an, aber man fragt sich mitunter, ob sie den Begriff des Phantastischen nicht überdehnt, so vor allem in dem Kapitel "Diskurs: Einbruch des Phantasmas in den realistischen Text - Goncarovs 'Oblomovs Traum'". Hier interpretiert sie die Idylle des Nichtstuns als Phantasma das in den realistischen Haupttext eingeschaltet wird. Sicher ist die Idylle allein schon aufgrund der Tatsache, dass sie als Traum präsentiert wird, etwas Unrealistisches, und auch vor dem Hintergrund von Lachmanns Erörterung der Funktion von Trugbildern in phantastischen Texten könnte man geneigt sein, hier von Phantasma zu sprechen; aber es bleibt die Frage, ob bei einer solchen Einschätzung nicht alles phantastisch ist, was in einem noch so oberflächlichen Sinne der Realität zu widersprechen scheint. Lachmann fällt hier hinter die begrifflich strengere Arbeit von Marianne Wünsch ("Die fantastische Literatur der Frühen Moderne", 1991) zurück.

Wer insbesondere bei den Textanalysen auf neue Untersuchungsgegenstände hofft, wird enttäuscht. Lachmann hält sich an den slavistischen Kanon und legt ihren Untersuchungen Texte u. a. von Gogol' und dem frühen Dostoevskij über den späten Turgenev bis zu Nabokov zugrunde. Darüber hinaus berücksichtigt sie aber auch englischsprachige Literatur von Poe, Hawthorne, Wells und Wilde. Dies dokumentiert die Eigenschaft des Bandes, sich nicht primär an die Gemeinde der Slavisten zu richten - was sich auch daran erkennen lässt, dass aus dem Russischen gleich in Übersetzung zitiert wird, während englische, französische und lateinische Zitate nur im Original ohne Übersetzung gegeben werden.

Die Zielgruppe des Buches steht einem deutlich vor Augen. Lachmann erwartet einen weiten Bildungshorizont auch in anderer Hinsicht, denn wie sie die literarischen Texte analysiert, scheint sie deren Kenntnis beim Leser vorauszusetzen. Sie macht sich kaum die Mühe, in wenigen Worten zu skizzieren, worum es in einem Text geht und warum er als phantastischer Text anzusehen ist. Statt dessen führt sie einen abstrakten Gedanken vor und steigt umgehend in die Analyse ein, und wenn es ihr angezeigt erscheint, reicht sie den Inhalt des gegebenen Textes nach, was es dem Leser nicht einfach macht, ihr zu folgen.

Ein Beispiel: Über Nabokovs Roman "Verzweiflung" heisst es zu Beginn eines der ersten Absätze der entsprechenden Abhandlung: "Die stellenweise als autobiographischer Bericht hervortretende Erzählung handelt von einer Betrugsidee, die sich aus einer offensichtlichen Verkennung der realen Verhältnisse herleitet." Damit kann nicht viel anfangen, wer den Roman nicht kennt. Und man wird wohl kaum verstehen, was Lachmann im folgenden erörtert, wenn man nicht weiss, dass Nabokovs (Anti-)held German einen Versicherungsbetrug plant, indem er einen Doppelgänger umzubringen beabsichtigt, um unter dessen Namen weiterzuleben und die Versicherungssumme für den eigenen ,Tod' mit Hilfe seiner Frau zu kassieren - und wenn man vor allem nicht weiss, dass diese von German gesehene Ähnlichkeit einem Wahn entspringt und in der dargestellten Realität keine Entsprechung hat. Ohne dieses Wissen ist es sehr schwer, Lachmanns Interpretation und Thesen mit dem zugrunde liegenden Text in Beziehung zu setzen.

Natürlich ist es kein Einwand gegen Lachmanns Methode, wenn sie viel Wissen voraussetzt. Man greift zu dem entsprechenden Beitrag über "Verzweiflung", wenn man sich mit diesem Roman beschäftigt hat und wissen möchte, wie Lachmanns Erkenntnisse dazu lauten. Es wird aber zu einem gewissen Einwand, wenn man sich die Konzeption des Buches vor Augen hält. Mit dieser Konzeption steht Lachmanns Methode im Widerspruch. Das Buch vermittelt den Anspruch auf Geschlossenheit. Auch wenn die meisten Texte als eigenständige Publikationen schon einmal erschienen sind, hat die Verfasserin nachträglich Verweise auf vorangegangene Kapitel eingefügt und das eine oder andere Mal für Anschlussformulierungen und Rückbezüge gesorgt. Doch verzichtet sie darauf, ein neues Kapitel mit wenigen Worten angemessen einzuleiten, um den Leser in freundlichem Entgegenkommen in die Problematik einzuführen. Ohne Umschweife beginnt sie ihre Interpretation und überlässt den Leser seinem Schicksal.

Schwerwiegender ist jedoch der Mangel an Systematik und begrifflicher Transparenz. Dies fängt schon in der Einleitung an, in der Lachmann eine Bestimmung des Phantastischen anstrebt, aber nicht mehr als Aufzählungen anbietet. Übrig bleibt eine eher triviale Bestimmung des Phantastischen. Sie weist darin der phantastischen Literatur zwei Aufgabenbereiche zu, die sie in einer Kultur auszufüllen habe und die sie ihr "kulturologisches" und ihr "anthropologisches Projekt" nennt. Kennzeichen der phantastischen Literatur - und darauf wird Lachmann immer wieder zurückkommen - seien das "Unerwartete" und das "Spekulative". (Dass diese auch auf Kriminalromane zutreffen, sei nur en passant erwähnt; diese Erkenntnis hätte Lachmann zwar zu einer schärferen Konturierung des Phantastikbegriffes verhelfen können, doch ist gerade das nicht ihre Stärke, zumindest nicht ihr Ziel.) Den anthropologischen Bereich zeichnet für Lachmann "ein Menschenbild der Exzentrik, Anomalie und beunruhigenden Devianz" aus, den kulturologischen "die Alternative des Ausgegrenzten, Vergessenen ebenso wie die Alternative des Fremden" und damit "die Kehrseite einer Kultur, ihr Anderes, Verleugnetes, Verbotenes, Begehrtes". Lachmann zählt auf, was sie unter dem einen und unter dem anderen versteht. Aber dem Leser stellt sich die Frage, wie diese Konzepte überhaupt unterschieden werden können und ob es wirklich zwei verschiedene Bereiche sind. Tatsächlich schliessen der kulturologische und der anthropologische Bereich einander gar nicht aus, sondern stehen in einem Wechselverhältnis zueinander. Lachmann aber berücksichtigt diese Möglichkeit nicht, und dies lässt ihre Einteilung infolge dessen beliebig erscheinen.

Problematisch für die Einschätzung literarischer Texte als phantastische ist die Bestimmung des Phantastischen selbst. Man kann gegenstandsbezogen argumentieren und all jene Texte für phantastisch halten, die z. B. von einem aufgeklärten Materialismus widersprechenden Ereignissen erzählen, von Geschehnissen, die man gemeinhin als Wunder bezeichnen würde. Damit würden aber auch Texte mit religiösem Hintergrund zu phantastischen Texten. Oftmals haben aber gerade solche Texte den Anspruch, nicht phantastisch zu sein. So gesehen, sind es nicht so sehr die Erzählgegenstände, die man für phantastisch erachten kann oder nicht, als vielmehr die Rezeptionsweise, die solche Texte provozieren oder fordern. Es scheint also darauf anzukommen, wieviel Rationalität ein Text zulässt oder fordert, um die erzählte Welt zu verstehen, und dabei stellt sich wiederum die Frage, ob ein Text nur dadurch phantastisch wird, dass er sich Rationalisierungsstrategien entzieht, bzw. umgekehrt um so weniger phantastisch wirkt, je überzeugendere rationale Deutungen er zulässt.

Aber dies ist nicht Lachmanns Vorgehensweise. Lachmanns grundlegende Bestimmung des Phantastischen als Gegenentwurf zum Standard, zum in einer Epoche als real Geltenden ist sehr weit, und es wäre interessant, etwas über die Grenzziehung bei dieser Bestimmung zu erfahren. Denn als phantastisch gilt nicht unweigerlich das, was von der Rückseite einer gegebenen Kultur handelt. In dem Kapitel "Jenseits: Das Faszinosum des Geheimwissens" fliessen in die Erörterung solche Themen wie Mesmerismus, Freimaurertum und Alchemie ein, und die Texte, die sie behandelt (u. a. Erzählungen von Puškin, Poe und Hoffmann), sind sicherlich alle hoch angereichert mit phantastischen Elementen. Aber sind es wirklich diese Themen, die diese Texte zu phantastischen machen? Lachmann scheint dies zunächst nahe zu legen, doch schreibt sie am Schluss resümierend, dass "die Phantastik die für die Standard-Fiktion geltenden Darstellungskriterien ausser acht lässt und das Kausaldenken irritiert oder zur Gänze entrechtet". So ist für Lachmann also nicht der Erzählgegenstand relevant für die Einschätzung des Textes als phantastisch, sondern die "Schreibweise", wie sie es in der Einleitung formuliert. Leider klärt sie nicht darüber auf, in welchem Zusammenhang genau Phantastik und Akausalität stehen. Streng genommen ist es gar nicht die Ausserkraftsetzung des Kausalprinzips, wie Lachmann annimmt, sondern lediglich die Etablierung alternativer, nämlich phantastischer Ursachen, die in phantastischen Texten eine Unterwanderung des Kausalverständnisses motivieren. Doch ist das Kausalitätsthema eher auf der Gegenstandsebene anzusiedeln, während die in Rede stehenden Darstellungskriterien tatsächlich die Schreibweise betreffen. Die Autorin lässt offen, welchen Kriterien die von ihr sogenannte Standard-Fiktion unterliegt und inwiefern sich die Phantastik davon abhebt.

Wer sich an Lachmanns intertextuellem Ansatz nicht stört, der wird in ihrem Buch viele Anstösse finden, die zum Weiterdenken und -forschen einladen. Er wird eine Fülle von Details, originellen Beobachtungen, aber auch gewagten Schlussfolgerungen entdecken, die in irgendeiner Weise in den unterschiedlichsten Kontexten die Semantik phantastischer Texte betreffen. Wer sich jedoch eine begrifflich wie systematisch strukturierte Untersuchung erhofft, in der philologisches Wissen, übersichtlich und gut begründet, vermittelt wird, kann nur enttäuscht werden. Man hat den Eindruck, dass für Lachmann fast alles phantastisch ist. Und wenn man diesen Gedanken weitertreibt, kommt man am Ende unweigerlich zu dem Eindruck, dass man in Lachmanns Text, der sich wissenschaftlichen Standards entzieht, ähnlich wie sich die literarische Phantastik Lachmann zufolge einigen weltanschaulichen Standards verweigert, selbst einen phantastischen Text vor sich hat.

Titelbild

Renate Lachmann: Erzählte Phantastik. Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
501 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3518291785

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