Es müssen Wurzeln ins Erdreich getrieben werden

Christian Meier reflektiert Geschichte "Von Athen bis Auschwitz" und darüber hinaus

Von Nils MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rund um die Ägäis, an der westlichen Peripherie Vorderasiens und seiner Großreiche, trieb - fast unbemerkt - ab dem achten vorchristlichen Jahrhundert eine neue regionale Kultur erste Knospen, die sich in mancherlei Hinsicht von ihren Nachbarn unterscheiden sollte: Die griechische Zivilisation entwickelte sich "ohne die prägende Kraft einer Monarchie", sondern getragen durch den Adel, und ohne das Bedürfnis, ihren Kulturraum in einem mächtigen Reich zu vereinen. Die Griechen, die bald um das gesamte Mittelmeer herum saßen wie "quakende Frösche um einen Teich" - so Platon - behielten ihre Siedlungsform der Polis bei, ganz im Sinne der Adligen als der maßgeblichen Schicht, die "nicht in großen Gebilden klein und abhängig sein wollten, sondern lieber in kleinen groß." Da man unter Wenigen blieb, gewann die Öffentlichkeit in der Polis eine große Bedeutung - durch den Handel mit den anderen kleinen Einheiten entstand ein öffentlicher Raum auch zwischen den Städten. Hinzu kam eine Radikalität im Fragen nach dem Grund der Dinge, die im Athen des fünften und vierten vorchristliche Jahrhunderts - der "Boomtown" ihrer Zeit - eingeübt wurde. Nach eigener Aussage "schwindelte" Platon, wenn er an das politische Leben seiner Stadt dachte, einem Ort rasanten gesellschaftlichen Wandels, an dem es angebracht war, auch öffentlich über die rechte Ordnung der Gesellschaft zu räsonnieren.

Die Griechen haben den Bürger erfunden, der - den neuen Verhältnissen angepasst - das Rückgrat der europäischen Moderne bilden und ihr geistiges Rüstzeug schmieden sollte, meint der Münchener Historiker Christian Meier. Jene Schöpfung sei zusammen mit dem römischen Recht nicht nur an Europa weitergegeben worden, sondern lege als conditio sine qua non der europäischen Moderne gleichsam Zeugnis darüber ab, dass die Antike als ihre Frühgeschichte bereits Teil einer europäischen Geschichte sei.

Die Indizien sind eindeutig: Man denke nur an die entscheidende Rolle der mittelalterlichen Stadt für Europa; an den moralischen Wert der Privatinitiative oder die Konkurrenz kleinerer politischer Einheiten, der wir übrigens durch die dauerhafte Vereitelung einer einheitlichen europäischen Zensur viel zu verdanken haben! Und letztlich war es das Fundament aus römischem Recht und griechischer Philosophie, das es dem neuzeitlichen Staat ermöglichte, auch ohne Souverän auszukommen.

Entlang dieser Gedankengänge zeigt Meier den Verlauf des - wie er ihn nennt - "europäischen Sonderweges" auf, wobei sich der Begriff aus zwei Gründen als problematisch erweist: Zum einen wird der Kultur-Begriff, den er verwendet, um die europäische von anderen Kulturen zu scheiden, nie so recht definiert, so dass dem Leser kaum mehr übrig bleibt, als ihn sich im Sinne seiner inflationären Verwendung seit Entdeckung der "Kulturwissenschaft" breit und verschwommen vorzustellen; Außerdem werden die USA einmal dazu gerechnet, einmal nicht. Diese europäische Kultur nimmt nun "von Athen bis Auschwitz einen von ALLEN andern sich gründlich unterscheidenden Weg", einen "Sonderweg" eben, charakterisiert dadurch, dass es seit Beginn der Neuzeit kaum einem Flecken Erde gelungen ist, sich ihrem Einfluss zu entziehen, "der schließlich die ganze Welt aufs Tiefste verändert hat." Doch was ist nun das Außergewöhnliche daran, von "allen" anderen verschieden zu sein? Sind denn beispielsweise zwischen Lebens- und Denkungsart der mittelamerikanischen und der chinesischen Hochkultur mehr Gemeinsamkeiten aufzuzeigen, als zwischen jenen und der europäischen? Kann ihr eigener Erfolg aber ein qualitatives Merkmal von Kultur sein? Zurecht spricht Meier davon, dass Europa im 20. Jahrhundert - nach Auschwitz - wieder "ins Glied zurückgetreten" sei. Nähmen wir uns einmal der vor allem in den Politikwissenschaften verhandelten These des unvermeidlichen Wiederaufstiegs Chinas als größtem globalen Akteur der Weltgeschichte an - und aus chinesischer Perspektive müssen die rund eineinhalb Jahrhunderte der Ohnmacht westlichen Mächten gegenüber nur als Episode erscheinen! -, so könnten wir damit rechnen, in nicht allzu ferner Zukunft eine Geschichte des "chinesischen Sonderwegs" zu schreiben. Die Unterschiede in der Art des Denkens und des Handelns behielten ihre Gültigkeit. Ereignisse, wie das für uns rätselhafte Abtakeln der gewaltigen chinesischen Hochseeflotte zu Beginn des 15. Jahrhunderts, noch bevor sich die Königreiche der iberischen Halbinsel mit vergleichsweise armseliger Technik daran machten, die Welt in Beschlag zu nehmen, mögen uns dann in anderem Licht erscheinen. Schade jedenfalls, dass Meier im Laufe seiner sehr prägnanten Ausarbeitung des spezifisch "Europäischen" in der europäischen Geschichte nicht von dieser schwer einsichtigen Hervorhebung lassen will; Ist er doch ansonsten konsequent in seiner Erkenntniskritik: "Allein, man kann nicht alles; so konzentriere ich mich hier nolens volens der Sache nach auf den europäischen Sonderweg [sic]."

Der vorliegende Band verdankt sein Entstehen einer Vorlesungsreihe, und so nimmt es nicht Wunder, dass die einzelnen Kapitel in sich sehr kompakt sind, untereinander aber nur durch ein dünnes Band verbunden. Grund dazu, sich über die Genese Europas auszubreiten, gibt es allemal, denn es "wächst mit der Europäischen Union zum ersten Mal in der Neuzeit [...] eine politische Einheit heran ohne das Bedürfnis nach einer eigenen Geschichte und historischen Orientierung." Das bleibt "Ländersache", sozusagen. Allgemein kann gar von einer "Abwesenheit der Geschichte" im öffentlichen Diskurs gesprochen werden. Dabei könnten uns die historischen Wissenschaften zumindest Orientierungshilfen an die Hand geben, in einer Zeit, die vor allem durch schnelle Veränderung der Lebensumstände gekennzeichnet ist, durch die Mischempfindung des Treibens wie Getrieben-Werdens, der Grunderfahrung des modernen Individuums. Derartige Empfindungen teilen wir beispielsweise mit dem Athen Platons, wo man erkannte, dass die ratio Orientierung geben muss, wenn die Erfahrung keinen Halt mehr bietet.

Womit sich die Frage nach der Berufung des Historikers stellt. Das Ereignis, mit dem Meier den Sonderweg Europas enden lässt, "Auschwitz" mit all den Konnotationen, die es als Metapher trägt, ist für diesen gewiss ein Prüfstein. Quasi als Verkörperung der Irrationalität versperrt es uns den Blick in die Vergangenheit. Im öffentlichen Diskurs ist man sich einig, dass Auschwitz nicht verstanden werden kann, eine Konvention, in der der Autor einen Reflex zum Schutze des modernen Individuums erkennt. Es zu "verstehen" hieße einzuräumen, jedes Individuum trage solche Barbarei als Kontingenz in sich. Niemand scheint auf Büchners Frage: "Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?" mehr eine Antwort wagen zu wollen. Damit würde uns aber der Boden der Zivilisation entrissen, auf dem wir uns so sicher zu bewegen wähnen. Hier muss der Historiker mutig vorangehen, nicht nur "Erklärungen" liefern, sondern sich auch stetig um Verständnis mühen, denn die Alternative hieße "Verdrängung, Betroffenheit und Ritual".

Kann denn auf eine Besserung der Verhältnisse gehofft werden? Was der Autor anbietet ist nicht zuletzt seine persönliche Geschichtsphilosophie, in ihrer Substanz angenehm nüchtern und ausgewogen, und ruhigem Ton vorgetragen. Es findet sich die aufklärerische Idee eines Progresses in der Geschichte, seine Richtung nicht dem Willen des Menschen, sondern den "Nebenwirkungen" menschlichen Handelns verdankend. Ein Fortschreiten zum Guten, zur Veredelung des "Menschengeschlechts" können wir heute aber schwerlich noch annehmen, nachdem Auschwitz alles bisher gewusste relativierte. Was bleibt? Die Zukunft ist ungewiss; Wichtig ist die Gegenwart, der einzige Punkt, an dem die Einzelgeschichten zusammen zu beobachten wären. Um moralisch handlungsfähig zu bleiben, respektive zu werden, um eine "Verantwortung" wahrnehmen zu können, darf der Geschichte nicht ausgewichen werden, auch Auschwitz nicht. Darauf möchte Meier uns verpflichten. Sapere aude!

Titelbild

Christian Meier: Von Athen bis Auschwitz.
Verlag C.H.Beck, München 2002.
235 Seiten, 23,60 EUR.
ISBN-10: 3406489826

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