Der Gedanke vom Kind als dem Vater des Menschen

Rainer Baginski erzählt "Das drittletzte Kind"

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was treibt einen Mann, der sein halbes Leben in PR-Jobs kreativ gewesen ist, dazu, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben - bzw. sie für ein Bekenntnisbuch neu zu erfinden?

Der Mann, Jahrgang 1939, heißt Rainer Baginski und gehört zur Frankfurter Gesellschaft, vielleicht nicht als Original (wie beispielsweise der Volksschauspieler Alfred Edel), aber doch als rundum neugieriger Zeitgenosse, der die Gunst der Nachkriegsstunde nutzte, alles Wissenswerte in sich aufzusaugen wie ein Schwamm. Schon etwas zu alt für die Revolte war er in den sechziger Jahren Redakteur beim Satiremagazin Pardon und verkehrte mit den Komikproduzenten Eckhard Henscheid, Hans Traxler und Robert Gernhardt. Später wurde er Werber und Graphiker in Wolf Rogoskys PR-Agentur GGK (die mit der Jägermeister-Reklame). Als Kunstfigur Rolf Rainer Roginski (gebildet aus Rainer Baginski und Wolf D. Rogosky) wurde er in Chlodwig Poths Zeichenroman "Fünfzig Jahre Überfluß" verewigt: als 'Werbefuzzi'.

Rainer Baginski ist ein vielseitiger, flexibler Mann; zahllose Wendepunkte markieren seinen Lebensweg und werden nicht selten als Rettung, ja als Lebenswechsel inszeniert. Seine Kindheit wird ebenso wie seine Studien- und Berufszeit in der Metaphorik der 'Verwandlung' gedacht - das 'Ich' wird ein 'Anderer', und der Erfolg kann dabei Triebfeder und "störendes Element" zugleich sein - besonders dann, wenn das Fortkommen des wiederum Anderen (und nicht des Erzählers) soziale Unterschiede generiert, die zuvor nicht da waren: Freundschaft wird dann Eifersucht, auf die Trennung folgt die Entfremdung.

Tochter Laura bildet im Leben des Erzählers mit seinen wechselnden Verhältnissen, Problemen und Variablen die Konstante. Sie ist der geheime Adressat seiner Erzählung, und ohne sie als Zentrum der Darstellung würde Baginskis Buch auseinander fallen. Denn letztlich ist Baginskis Erinnerungsbuch eine populär aufbereitete Realitätskonstruktion aus disparatesten Stoffen, ein Synkretismus trivialer Weltanschauungsliteratur und ein Konglomerat aus selektiv vermittelten, vielfach simplifizierten, in der Regel uminterpretierten allgemeinen Wissensbeständen, in der psychologische ebenso wie psychoanalytische, soziologische ebenso wie historische, physikalische wie chemische wie mathematische, biologische wie evolutionstheoretische, religiöse wie erkenntnistheoretische, okkulte wie gnostische Konzepte ihre Spuren hinterlassen haben. Baginski liest anscheinend wahllos, was ihm unter die Augen kommt und was den Anspruch erhebt, ganz oder teilweise die Welt zu erklären. Ob es Medientheoretiker wie Neil Postman sind, Sozio- und Psychogenetiker wie Norbert Elias, Chaos-Theoretiker wie Ilya Prigogine, Physiker wie Richard Phillips Feynman, Biologen wie J. B. S. Haldane, Buchkünstler, Typographen und Graphiker wie Jan Tschichold oder Otl Aicher, Pädagogen wie Maria Montessori - Baginski synthetisiert seine Lesefrüchte zu seinem ganz persönlichen Bekenntnissermon:

"Im vergangenen Herbst, im Oktober, da habe ich einmal mehr abends mit Laura zusammengesessen, eines der Wohnzimmerfenster war noch immer geöffnet. Und plötzlich haben wir etwas gehört, von ziemlich weit her: dieses unvergleichlich kühne inspirierte Trompeten, das belebte, gelassen animierte Geschnatter, zu dem nur Wildgänse fähig sind. [...] Es ist genau dieser Unterhaltungston, dieser familiäre Austausch der Tiere gewesen, [...] der Laura und mir einmal mehr das Gefühl eingab, dass unsere eigene menschliche Welt letztlich doch nur einen höchst begrenzten Ausschnitt aus dem großen Ganzen darstellt. Und im selben Moment wurde mir klar, warum Akka von Kebnekaise, die Leitgans in Nils Holgersons Reise mit den Wildgänsen, uns eine so nahegerückte literarische Figur ist: Es ist die mythische Nähe, die archaische Verbundenheit, der Appell an unsere alten, tief innen gespeicherten kollektiven Erfahrungen."

Das Zitat verdeutlicht recht schön, wie der Erzähler eine schlichte Beobachtung zur kuscheligen Erinnerung aufbauscht, in der sich das verlorene Subjekt ins sinnvolle Weltganze integrieren lässt. Wir erleben hier, analog gesprochen und gedacht, die Spätfolgen der Einsteinschen Relativitätstheorie, die auch kaum jemand verstanden, doch jedermann anzuwenden wusste, bis alles eins und relativ war und sich der Gesang der Zugvögel zur Phylogenetik verhielt wie eine Theaterkritik von Alfred Kerr zum Gelächter der "Budapester Hühner" - ein Bild, das sich Karl Kraus verdankt.

Wie Laura über diese bedenkliche Tendenz zum Analogieschluss denkt, erfahren wir nicht, doch erinnert sie in einzelnen Aspekten an Petrarcas Laura, insofern sie der geordnet-ungeordneten Rede des Erzählers immer neue Impulse gibt und ihr ein Zentrum stiftet, um dessentwillen man das Buch dann doch weiterliest. Laura, Jahrgang 1980, ist die Tochter von Rainer und Claudia. Der Leser sieht sie aufwachsen, er lernt mit ihr Neues, sie führt ihm andere Erfahrungen zu, sie überrascht ihn durch ihre Ansprüche und Reaktionen und durch die Entscheidungen, die sie trifft. Ermöglicht (und zugleich getrübt) wird dieser Blick auf Laura durch den Erzähler, der sich selbst das größte Faszinosum ist und für den die Familie das Erinnerungsreservoir bereitstellt: "Wozu haben wir das Vermögen, Bilder und Daten zu speichern, sie so lebendig zu speichern, dass wir uns auch an Sprache, an Geräusche und Gerüche zu solchen Bildern erinnern können? [...] An den Druck des Eherings eines wohlvertrauten Menschen, den man bei jeder Begrüßung immer wieder mit einer ganz bestimmten Stelle der eigenen Hand erfährt. An die tastende Berührung der Lippen und den Duft des Kusses einer ganz bestimmten Frau, an das Changieren der Schwarz-Braun-Töne des Haares an ihren Schläfen, an die Obertöne ihrer Stimme, dazu das Bild vor dem inneren Auge vom Verlauf der Schlagader auf ihrem olivfarbenen Unterarm und wie die sich in die Hand verzweigt."

Das Movens vivendi dieser Prosa stirbt den Tod der Aufzählung, die Bilderflut versandet im Kitsch, der nur zu ertragen ist, weil - quasi als Antidot - die Familie zerfällt und von Baginski ein entschlossenes Gegensteuern gegen die Unbill der Trennung erfordert. Als Laura fünf ist, geht Rainers Beziehung zu Claudia auseinander, das Kind kommt zum Vater nach Frankfurt. Elisabeth, seine neue Partnerin, ist bald auch Lauras beste Freundin. Doch Laura hält auch den Kontakt zur leiblichen Mutter und fährt mit ihr sogar ein-, zweimal im Jahr in die DDR, um die dort lebende Verwandtschaft zu besuchen. Sie hat früh gelernt, sich auf andere Menschen einzustellen: Sie hat sich an die Au-pair-Mädchen gewöhnt, die - meist aus den nördlichen Regionen Europas kommend - Mette, Siri oder Tove heißen und in Miesbach, Frankfurt oder an der Nordsee ihren Dienst versehen und das Chaos des "kunterbunten Haushaltes" regierbar machen. Sie bleiben, auch wenn sie längst wieder zu Hause leben, Teil der erweiterten Familie: Aus den eckig-zackigen jungen Mädchen werden junge Frauen, die selber Kinder bekommen, und wenn man sie nach Jahren wiedersieht, erinnert man noch jedes Detail ihrer Lebensverhältnisse.

Laura ist diejenige, die in der Genealogie mit all ihren "Verästelungen" den Überblick behält. Mit "Konsequenz und Systematik" widmet sie sich dem "wandelbaren Beziehungsgeflecht", das nur von mütterlicher Seite noch als quasi "kompletter familiärer Bausatz" existiert, eine Leistung des Kindes, die Baginski für einen Archaismus hält: "Ich kann es nicht beweisen, aber aus den frühen Jahren mit meinem Kind und seinen Freundinnen habe ich den Eindruck zurückbehalten, dass die Verzweigungen der Familie das bewußt erfahrene Ordnungssystem für die entstehende Welt darstellen."

Der Autor selber, in Schmargendorf geboren, ist erst in Nesselwang und dann mit Mutter und Stiefvater in Rüsselsheim aufgewachsen und im Frankfurter Raum hängen geblieben. Seine erste Frau Greta hat er noch in der Studienzeit kennengelernt und geheiratet. Durch die Partnerwahl und die bloß standesamtlich besiegelte Ehe wird Greta die familiäre Basis entzogen, die strenggläubig-katholisch im Raum Fulda lebt und Baginski für den Teufel persönlich hält. Der "Koinzidenzensammler" weiß in der Tat von merkwürdigen Zufällen zu berichten, bei denen es mit dem Teufel zuzugeht, was seiner Tendenz zur Esoterik entgegen kommt. Worüber Baginski häufig nachdenkt in seinem Buch, das ist die Zeit. Er verfasst es, als das aktive berufliche Leben vorbei ist, als bei seiner Partnerin die "Wirkung des Gelbkörperhormons" allmählich nachlässt und auch die eigene Reproduktionskraft rückläufig ist, als Laura längst erwachsen und flügge geworden ist. Baginski könnte sich also zurücklehnen, ruhiger werden. Dennoch hat seine Prosa etwas Drängendes und Mitreißendes, ist noch die alte Neugierde da, das Bedürfnis zu lernen und sich im Lernen zu begreifen. Es imponiert ihm Montessoris Pädagogik, weil sie ganz auf das "Prozeßhafte" der Menschwerdung abgestellt sei und die Möglichkeit biete, ganz den "eigenen Lebensrhythmen" zu folgen. Von Maria Montessori stammt auch der Satz: "Das Kind ist der Vater des Menschen", und Baginski deutet ihn sich so, dass wir in den "Eigenschaften des Kindes" erleben, "wofür wir Menschen überhaupt ausgelegt sind, unsere moralische Dimension".

Titelbild

Rainer Baginski: Das drittletzte Kind. Kein Roman.
Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 2002.
613 Seiten,
ISBN-10: 3861504286

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