Hell wie Lichtenberg

Materialien zur Kritik eines der bekanntesten Dichter und Schriftsteller der Gegenwart

Von Ulrich JoostRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Joost

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über einen lebenden Autor zu schreiben, wäre meine Sache nicht; das hat immer etwas Sterndeuterisches. Aber bei Robert Gernhardt mache ich sehr gern eine Ausnahme.

Wer heute Archäologie der deutschen Nachkriegssatire treibt, kennt ihn aus der Rubrik "Wims" - "Welt im Spiegel", und wer dann in den 70er Jahren die Wochenzeitung "Die Zeit" abonnierte, der bekam mit der Beilage, dem "Zeit-Magazin", die Neubearbeitung beziehungsweise Fortentwicklung als geballte Ladung der Neuen Frankfurter Schule zu kosten: erst F. K. Waechter, dann Robert Gernhardt: Ich komme gleich noch darauf zurück. Etwa um die gleiche Zeit nahm sich der Zweitausendeins Versand der "Drei" an - Deutschland bekam endlich weltliterarischen Anschluss in der Nonsense-Kultur und der Hochkomik, die beide bis dahin fast ganz in angelsächsischer Hand zu liegen schienen.
Aber dass ich hier mich beteiligen darf, verdanke ich eigentlich dem Dichter Henning Boetius, das kam so: Boethius hatte 1992 den Literaturwissenschaftler und Vorsitzenden der Lichtenberg-Gesellschaft Wolfgang Promies einmal (wenn auch in kleinstem Kreis) so heftig attackiert, dass jener eine schon zuvor angesetzte Podiumsdiskussion über dessen Lichtenberg-Roman "Der Gnom" (1989) am angesetzten Tag kurzerhand absagte. Die verzweifelten Frankfurter Veranstalter wandten sich an mich, und es gelang ihnen, mich zu beschwatzen, obgleich ich sofort merkte, dass sie lieber einen Bauchredner oder Äquilibristen dort gehabt hätten als einen Literaturwissenschaftler und Lichtenberg-Herausgeber. Schon während der Diskussion, die nicht zuletzt durch meine Eröffnung sich rasch polarisierte ("Henning, als Literaturwissenschaftler hast Du mir besser gefallen denn als Dichter"), was nebenbei am Tag drauf die "F.A.Z." sehr säuerlich quittieren sollte, war mir ein Mann in der ersten Reihe aufgefallen, der dauernd Notizen zu machen schien und mir bekannt vorkam. Da ich aber mich meines Kontrahenten zu erwehren hatte, kam ich nicht zum Nachdenken, woher. Wer er war, wurde mir nachher beim Versöhnungsbier rasch klar, als der nun auch schon verstorbene Schauspieler Alfred Edel in die Runde posaunte: "Und jetzt gründen wir eine kombinierte Lichtenberg-Robert Gernhardt-Gesellschaft". Freilich, das dämonische Lächeln aus dem Zweitausendeins-Katalog kannte man doch. Und die Kritzeleien waren keine Notizen, sondern Porträts der Diskutanden in der bekannten minimalistischen Art des Künstlers: Sehr treffend hatte er die aggressiven Kulturgebärden herausgearbeitet, auch das Krokodil auf meinem Pullover war unverwechselbar; die Gesichter sonst aufs allerwichtigste konzentriert (aber auch der Kragenbär würde sich sofort wiedererkennen, und vor allem: dies ist jedenfalls die erste und bisher einzige Porträtskizze, die von mir existiert).

Wir fanden rasch Gesprächsstoff, zunächst Göttingen, wo Gernhardt aufgewachsen ist, denn obgleich wir im Alter ein Jahrzehnt auseinander sind, ist doch Göttingen so klein, dass sich wenigstens ein halbes Dutzend Personen aus seinem Umkreis fand, die mir aus Erzählungen oder persönlich wohlbekannt sind: Sensationelles von allerlei Jugenderlebnissen und sehr ernsten Streichen des einstigen Mitschülers, dann Jurastudenten, nachmaligen Schriftstellers und Schauspielers Burkhard Driest, über Trauriges wie die Schusswechsel zwischen Schülern (einer war sogar in seiner Klasse) und Lehrern (den tödlich verwundeten Studienrat Adolf Kraus hat er streng und fair in seinen Erinnerungen charakterisiert) an Gernhardts Gymnasium bis hin zu seinen Familienangehörigen oder einigen weniger prominenten Schulbekannten.
Nostalgisierende Situationen wie diese hatte Gernhardt bereits 1984 anlässlich seines Verrisses von Walter Kempowskis Göttingen-Erinnerungsroman beschrieben: "Bei solchen Gesprächen wird meist viel gelacht oder doch innig geschmunzelt" und "ein Wort wie ,Dufflecoat' [ist] so komisch [...], daß alle begeistert auf den Tisch patschen und ,Genau!' rufen". Da ließ sich also wechselseitig manche Informationslücke füllen. Auch die mit Abstand schlechteste Tageszeitung Norddeutschlands samt umliegender Ortschaften mit ihrem hinreißenden Hang zu unfreiwilligem Humor, das "Göttinger Tageblatt", wurde ausführlich damals besprochen.

Bemerkenswerter war aber in diesem Gespräch ein literaturhistorischer Austausch, der mich zum Thema eines bald danach abgehaltenen Seminars anregte. Zu den frühesten Texten nämlich, die ich nach "WimS" von Robert Gernhardt zur Kenntnis genommen habe, gehören die legendären "Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs" von 1979; den Literaturskandal, den die Publikation damals auslöste, hat der Dichter selber in den Anmerkungen zu seinen "Gedichten 1954-94" (1996) skizziert und zuvor schon in dem Satirenband "Letzte Ölung" (1984) eingehend beschrieben. Was Gernhardt damals (wohl noch ganz ohne zu wissen, dass er sich damit in eine sehr alte und große Tradition stellte) gedichtet hat, wurde eins der besten Exemplare des metapoetologischen Sonetts.
Damals vor zehn Jahren im Frankfurter Mousonturm kannte ich mittlerweile ein knappes Dutzend; heute, nachdem ich ein Seminar zu diesem Thema veranstaltet habe, weiß ich, dass es in einem halben Dutzend Jahrhunderten und ungefähr ebenso vielen europäischen Sprachen wohl über dreihundert gibt, allein im Deutschen fast einhundert zwischen dem 17. Jahrhundert und der unmittelbaren Gegenwart. Eine Anthologie der herausragenden von ihnen ist fertig und sucht nur noch einen Verleger. Wie gesagt, Gernhardts ist eins der besten darunter, geradezu ein Exempel der Themengruppe, und übrigens zugleich auch formstreng gebaut. Es geht doch für angehende Dichter nichts über ein angefangenes Germanistikstudium - freischwimmen können sie sich nachher immer noch.

Einer Sparte muss hieran anschließend noch gedacht werden, in der Gernhardt auch zu Hause ist: Das ist die Literaturkritik im Verein mit der Literaturgeschichte. Letztere, wie schon in den "Materialien" und mindestens ebenso lakonisch seit frühen Werkphasen bewährt wie "Bin verreist / gez. Heinrich von Kleist", bedürfen keines Kommentars: Eine thematische Auswahl daraus sollte unbedingt in die Hand der reiferen Jugend gelegt beziehungsweise einem modernen Deutschunterricht, der diesen Namen verdient, zugrunde gelegt werden. Aber auch die spitze Feder des Kritikers weiß er meisterlich zu führen. Damals im Mousonturm skizzierte er knapp, warum eine geplante Rezension eines Romans von Heinrich Böll nicht zustande kam beziehungsweise damals nicht gedruckt worden ist. Die "Titanic"-Redaktion hatte den Plan einer Serie rasch wieder aufgegeben, man wäre einfach im Dschungel der unfreiwilligen Hochkomik dieses Gutmenschen und überschätzten Autors verloren gegangen. Gernhardt fand bei seinen Vorstudien allzu rasch heraus: "Wann immer bei Böll ein Auto besonders schnell und sportlich ist, ,springt die Tachometernadel auf hundert'. Und wenn sich zwei ruchlos der verbotenen Liebe körperlich (also bei Böll eo ipso verboten) hingeben, so ,taten sie beide das Unabänderliche'. Ich finde (fuhr Gernhardt fort) das gar nicht so unabänderlich, und Böll meint ja auch eigentlich ,unausweichlich' oder ,unvermeidlich' - schlimm genug, dass er das meint. Wir verzichteten, dem Armen das anzutun: ihn zu zitieren."

Stattdessen hat Gernhardt seine Abfertigung des Kölner Romanautors als Gedicht ausgearbeitet:

"Böll war als Typ wirklich Klasse.
Da stimmten Gesinnung und Kasse.
Er wär' überhaupt erste Sahne,
wären da nicht die Romane."

Meine Verehrung für Robert Gernhardt den Künstler, den philosophierenden Dichter und Verfasser ,gedachter' Gedichte, wurde nachgerade zügellos, als er mit seinen Lichtenberg-Illustrationen begann, die allesamt zumindest überraschende, nachdenkenswerte, oft aber überhaupt erst erhellende Lichtenberg-Interpretationen sind. Obgleich nicht "F.A.Z."-Abonnent, gelang es mir durch Freunde und die Redaktion selbst, aller Blätter habhaft zu werden, und eine Auswahl hat der Künstler dann ja noch zwischen zwei Buchdeckeln versammelt, eine Prüfung meiner Behauptung fällt also nicht schwer. Ich kenne vier oder fünf Zeichner, die etwas Ähnliches versucht haben: Mancher mag ihn in der graphischen Technik einholen, keiner, auf mein Wort, reicht in Vielseitigkeit und Beobachtungsenergie und Reflexionsstärke an ihn heran.
Gernhardt war zwar nicht der erste, aber der erste Göttinger, der Saul Steinbergs berühmte Titelseite der Zeitschrift "The New Yorker" (1964) provinzialisierte und seine Göttinger ("The Göttinger") damit zugleich entlarvte und ihres Pathos' beraubte. Wie Friedrich Torberg einmal über den Prager sagte, so hält eben jeder Göttinger (Darmstädter und Frankfurter, hab ich gehört, mutatis mutandis auch) Göttingen für den Nabel der Welt und sich selbst für den Nabel von Göttingen. Im Mousonturm war damals der Plan entstanden, Gernhardt vor der Lichtenberg-Gesellschaft über seine Kunst und sein Denkverfahren sprechen zu lassen, das wurde ein voller Erfolg. Die moderate Honorarforderung an die armen Verwandten in der Provinz und die bereitwillig erteilte Erlaubnis, den Text im Lichtenberg-Jahrbuch drucken zu lassen, erwähne ich hier rühmend und nicht nur, weil man bei Künstlers auch ganz Anderes erleben kann. Vielleicht gibt es ja einmal eine weitere Behandlung des Gegenstandes. Mir bleibt, dem Anlass entsprechend nur noch, dem Jubilar von ganzem Herzen alles Gute zu wünschen.

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Robert Gernhardt: Gernhardts Göttingen.
Herausgegeben von Thomas Schäfer.
Satzwerk Verlag, Göttingen 1997.
97 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3930333228

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