Eine nicht zu durchbrechende Sprachlosigkeit

Melitta Breznik erzählt die Geschichte ihrer Großmutter in "Das Umstellformat"

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Mutter der Erzählerin ist fast achtzig Jahre alt und hat seit fünfzig Jahren nicht mehr an die Vergangenheit gerührt. Die Vergangenheit, das ist in ihrem Fall vor allem die Geschichte ihrer Mutter, die kurz vor Beginn des zweiten Weltkrieges in eine Nervenklinik in Frankfurt gebracht wurde und 1943 in der Psychiatrie in Hadamar starb. Eine Vergangenheit, über die man seitdem in der Familie auch nicht mehr gesprochen hat, über die niemand mehr etwas weiß oder wissen will. Bis die Erzählerin selbst eines Tages herausfinden will, wie die Großmutter verschwunden war und warum niemand mehr etwas darüber sagen kann.

Nun macht sie sich mit ihrer Mutter auf von Österreich nach Deutschland, reist dort von Klinik zu Klinik, der Fährte der Verwandten folgend, die immer wieder verlegt wurde. Eine Spurensuche, eine Reise ins Gestern. Die beiden studieren Akten, lesen Krankenberichte. Sie lesen die verzweifelten, bittenden Briefe, die der Ehemann der an Schizophrenie Erkrankten immer wieder an die Klinikleitungen schrieb, um seine Frau wieder nach Hause zu holen, und die ablehnenden, steifen Antworten, die er daraufhin erhält, bis er aufgibt und die Scheidung beantragt.

Für die Mutter ist es auch eine Reise in die eigene Vergangenheit, in Vorstellungen von und Erinnerungen an damals, die für sie nur noch Schemen und Schatten darstellen. Für die Erzählerin selbst eine Reise ins eigene Ich - wer nicht weiß, was gestern gewesen ist, kann nicht sagen, was morgen sein wird.

Es ist keine einfache Geschichte, die hier erzählt wird. Und dementsprechend ist auch die Form nicht einfach. Die Geschichten sind ineinander verschachtelt, immer wieder gibt es zeitliche Brüche, Rück- und Vorgriffe, die dem Leser die Orientierung nicht einfach machen. Erfahrungsbericht reiht sich an Tonbandtranskript eines Interviews mit der Mutter, unterbrochen von der Beschreibung langer Gespräche mit dem ehemaligen Gastvater der Erzählerin in Norwegen, Briefen und Teilen der Krankenakten. Doch verbindet alle Teile das Suchen von Informationen, ein Suchen und Finden, das den Leser einbindet.

Ein Fragen-wollen und doch nicht Fragen-können zieht sich durch die Erzählung. Eine Situation, die viele der Nachgeborenen kennen mögen. Immer wieder hält die Erzählerin fest, wie gerne sie etwas gefragt, erfahren hätte: Den Großvater, wie es gewesen war, als die Frau aus seinem Leben gerissen wurde und er mit der Tochter allein zurückblieb. Doch der alte Mann starb, bevor seiner Enkelin die Situation überhaupt bewusst geworden war. Die Mutter hätte sie gern gefragt, wie viele ihrer Vorstellungen sie aus der Nazizeit mitgenommen hat, wie der Alltag damals gemeistert wurde. Doch es ist nie die richtige Zeit, der richtige Ort. So ist die Erzählerin auf ihre eigenen Vermutungen angewiesen. Das "Was wäre wenn?" entsteht dabei immer aus dem "Was war?". Sprachlosigkeit soll hier durchbrochen werden, ein Erstarren in Strukturen, einfaches Verharren und Vergessen verhindert werden.

Die Autorin wählt dabei einen unprätentiösen, nüchternen Stil, der kunstlos wirken könnte, wenn man nicht wüsste, wie viel Überlegung dahintersteckt. Die richtigen Worte zum richtigen Zeitpunkt zu finden ist schwer - und so ist es Melitta Breznik hoch anzurechnen, dass sie ihrer Erzählerin immer exakt in den Mund zu legen weiß, was dem Moment angemessen erscheint. Und dabei kein Wort zuviel verliert.

Titelbild

Melitta Breznik: Das Umstellformat. Erzählung.
Luchterhand Literaturverlag, München 2002.
137 Seiten, 15,50 EUR.
ISBN-10: 3630871283

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