Fußball spielende Elisabethaner

Andreas Mahlers fulminantes Lesebuch über das London um 1600

Von Stephan LandshuterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Landshuter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer sich über "Das elisabethanische Zeitalter" informieren möchte, hat eigentlich keinen Mangel an guten Büchern. Eines der besten liegt in Form von Ulrich Suerbaums gleichnamigem Reclam-Band vor. Dennoch ist es dem Münchner Anglisten Andreas Mahler gelungen, Büchern wie dem von Suerbaum etwas Innovatives und Substantielles hinzuzufügen. Das Prinzip ist so einfach wie wirkungsvoll: Mahler lässt, von einer kurzen Einführung abgesehen, in "Shakespeares Subkulturen" die Zeitgenossen einfach selbst sprechen. Er collagierte 84 Texte aus der Zeit zwischen circa 1550 und 1650 und übersetzte sie mit einem zwölfköpfigen, sehr fähigen Team zum größten Teil zum ersten Mal ins Deutsche. Als Ergebnis liegt ein ungemein spannendes, hübsches und dank der Verlagspolitik des Passauer Verlags Karl Stutz extrem preiswertes Buch vor, das den Leser in die oft sehr fremde Welt des Renaissance-London förmlich hineinzieht.

Im Vergleich zum heutigen Moloch war das London um 1600 überschaubar. Der ganze Westteil war damals noch nicht vorhanden, die heutige Einkaufsmeile im Herzen der Stadt, die Oxford Street, lag außerhalb der Stadt zwischen den Feldern. Das darf aber den Blick nicht dafür verstellen, dass London damals mit seinen 200.000 Einwohnern eine der ersten echten Großstädte war. Die nächstgrößte Stadt Englands Bristol war mit ihren 15.000 Bewohnern im Vergleich dazu ein Dorf. Wer Mahlers Collage gelesen hat, der ahnt, wie sehr das Leben in dem britischen Schmelztiegel pulsierte. Der absolutistische Hof, das frühkapitalistische, aufstrebende Bürgertum und die freiheitsdürstende Studentenschaft waren die drei Hauptsphären. Die kirchliche Sphäre spielte offensichtlich nur eine untergeordnete Rolle. Daneben gab es die im Titel des Buches erwähnten Subkulturen, die Welt der Bordelle und Wirtshäuser, der Gaukler, Trickser und Schauspieler.

Das Panoptikum in Mahlers Buch ist eindrucksvoll. An einer Stelle schimpft ein Frömmler sachkundig über die Huren, die schlimmer seien als alle Mörder dieser Welt, weil sie den Samen absterben ließen, zudem praktizierten diese unglaubliche, teuflische Stellungen. Man muss fast vermuten, der arme Mann weiß aus eigener Anschauung, wogegen er da glaubensfest wettert. Andere Texte berichten über die Unsitten im Theater, über Hahnenkämpfe oder über Wirtshausschlägereien. Grotesk sind auch die Ausführungen eines von der Humanität des Strafwesens seines Landes extrem überzeugten Zeitgenossen. Dieser beschreibt mit großem Ernst, wie wunderbar es doch sei, dass es in seinem Land keine hochnotpeinliche Befragung, d. h. Folter gebe. England sei schließlich ein modernes Land, so etwas habe man nicht nötig. Im weiteren Verlauf werden dann die offenbar als nicht besonders verwerflich beurteilten Bestrafungsmethoden des elisabethanischen England beschrieben: Vierteilung, Kastration, Gedärme-Herausreißen und In-Blei-Kochen scheinen nach der Vorstellung dieses Herrn aus dem Jahre 1587 höchst zivilisierte Maßnahmen im Kampf gegen das Verbrechen zu sein. In so einem Text, der vermutlich keine minoritäre Position der Zeit einnehmen dürfte, zeigt sich, wie fremd uns die frühe Neuzeit oft ist.

Manchmal darf man aber auch erstaunt sein, wie nah uns die Engländer um 1600 stehen. Fußball spielten sie nämlich zu jener Zeit auch schon, wie man einem Bericht aus dem Jahr 1583 erstaunt entnehmen darf: "Das Fußballspiel ist nun wahrlich eher eine harmlosere Form des Krieges als ein bloßes Spiel oder ein Zeitvertreib, mehr ein blutrünstiges, mörderisches Ritual als ein kameradschaftlicher Sport. Denn lauert dabei nicht jeder nur auf die Gelegenheit, seinen Gegner zu Boden zu werfen? Es ist ein beliebter Trick, zu zweit einen dritten Spieler in die Zange zu nehmen; dann boxt man ihm mit der Faust in die Magengrube, rammt ihm ein Knie in die Weichteile und schlägt ihm ins Genick; und sie beherrschen noch hundert andere solcher mörderischer Tricks." Wer hätte gedacht, dass sich das Zweikampfverhalten im elisabethanischen Fußball kaum von demjenigen heutiger Fußballspieler unterscheidet?

Titelbild

Andreas Mahler (Hg.): Shakespeares Subkulturen. Typen - Tricks - Topographien. Ein Lesebuch zu Alltag und Unterwelt.
Verlag Karl Stutz, Passau 2002.
206 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-10: 3888490987

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