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Gerhard Richters Malerei

Von Alexander MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit "Malerei" liegt endlich ein imposanter Querschnitt durch das Werk Gerhard Richters vor. Der mit mehr als 300 exquisiten Abbildungen opulent ausgestattete Band entstand im Kontext der großen Richter-Retrospektive, die das New Yorker Museum of Modern Art besorgte. Er umfasst alle Schaffensperioden im Werk des Malers, zeigt die Gleichzeitigkeit verschiedener Stilrichtungen, die Flexibilität, die Weitschweifigkeit, kurz gesagt, alles, was an Richters Gemälden faszinieren oder Ablehnung hervorrufen kann. Monochrome Bilder stehen neben der Landschaftsmalerei, Fotorealismus neben Pop Art und Abstraktion.

Robert Storr, Kurator der besagten Retrospektive und Autor eines Buches über den Zyklus ,18. Oktober 1977' von Richter, versucht in seinem ausführlichen Essay, in all das Durch- und Nebeneinander von Stilen eine gewisse Ordnung zu bringen. Dabei verrennt er sich zuerst in eine ermüdend langwierige Rechtfertigung der von ihm gestalteten Ausstellung, die mit einer quantitativen Wertung anderer Schauen die Kurzsichtigkeit der US-amerikanischen - insbesondere der New Yorker - Kunstszene belegen soll. Außerdem erhöht dies selbstredend das eigene Verdienst. In Deutschland liest sich so etwas befremdlich, da Richters Geltung hier nahezu unumstritten ist. Weitaus informativer und spannender wird es, wenn Storr chronologisch-biographisch über Richters künstlerischen Werdegang spricht. Da fehlen nicht die Stalinposter, die dieser in Diensten des staatlichen Propagandaapparates malte, um an der Dresdener Kunstakademie aufgenommen zu werden, noch die Erwähnung des Studienfaches Wandmalerei, das Richter mit seiner Diplomarbeit, einem Wandgemälde für das dortige Hygiene-Museum, beendete. Einen Wendepunkt scheint der Besuch der Documenta II in Kassel darzustellen, wo ihn, nach Storr, Bilder von Jackson Pollock und Lucio Fontana beeindruckten und wohl auch den Entschluss festigten, aus der DDR in die Bundesrepublik überzusiedeln.

1961 in Düsseldorf angekommen, fächert Storr die weiteren Einflüsse um Richter auf: das besondere Klima dieser Zeit, die Studienfreunde Konrad Lueg (später Konrad Fischer), Sigmar Polke und Blinky Palermo, das Wirken Joseph Beuys' an der Kunstakademie, die erste Ausstellung in der neuen Heimat, die Verabschiedung von der informellen Kunst und infolgedessen die Enstehung der ersten auf Fotografien basierenden Bilder. Storr versteht es, die prägenden Ereignisse der Kunstszene dieser Zeit ins Gedächtnis zu rufen und ihren Stellenwert für Richters Werk anzudeuten. Dieses wird prägnant in den zeitgeschichtlichen und persönlichen Kontext eingeordnet. Dabei spielen die RAF und die Auschwitzprozesse eine ebenso entscheidende Rolle wie kunsttheoretische Diskurse, Modeerscheinungen und private Familiengeschichten aus Richters Umfeld. So deutet Storr etwa Richters Portraitreihe von 1966 "Acht Lernschwestern", die Opfer des US-amerikanischen Serienmörders Richard Speck, als Antwort auf Andy Warhols "Thirteen Most Wanted Men". Ebenso schlüssig liest er "Ema (Akt auf einer Treppe) " als Bild, das Marcel Duchamps ikonoklastischen "Akt, die Treppe herabsteigend" (1912) konterkariert. Die Sphäre des Privaten entdeckt er schließlich in Bildern wie "Onkel Rudi", "Tante Marianne" oder "Herr Heyde": In Doktor Heyde entlarvt Storr den Mörder der an Schizophrenie leidenden Tante Marianne, die dem Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten zum Opfer fiel. Heyde hatte als Neurologe das Programm zur Vernichtung "unwerten Lebens" eingerichtet und in dieser Funktion als erster Vergasungstechniken angewandt; er wurde erst 1959 enttarnt. Bis dahin hatte er mit Wissen der Behörden in Schleswig Holstein unter falschem Namen als Arzt praktiziert.

So konzis in Storrs Essay das Werk Richters dargelegt wird, so unergründlich gibt sich der Meister im Interview selbst. Richters Ausweichmanöver unterlaufen Storrs Deutungsansätze immer wieder und zwingen ihn zu ausufernden Fragen, wohingegen Richters Antworten kürzer und kürzer werden. "Das klingt sehr gut", ist schon eines der weitergehenden Zugeständnisse Richters an Theoretisierung und Interpretation von Seiten Storrs. Häufiger aber fragt Richter zurück, "was soll ich da sagen?", oder bündelt seine ganze Selbststilisierung in dem Satz, "ich habe nie gewusst, was ich tue." Nur selten rutscht ihm, meistens indirekt, eine Selbstauslegung heraus, eine Stellungnahme, die man vielleicht ex negativo erschließt. Auf Storrs Behauptung, Richter benutze die Malerei dazu, "es den Leuten schwer zu machen, einfach das Bild zu lesen", entgegnet er, er wollte eigentlich immer das Gegenteil.

Glücklicherweise bietet der Katalog mit den hervorragenden Tafeln auch ausreichend Gelegenheit, Bilder einfach zu lesen. Dann bleibt es dem Betrachter selbst überlassen, ob er aus dem gründlichen Ausstellungsverzeichnis, der Auswahlbibliographie und der äußerst sorgfältigen Chronologie weitere Anregungen beziehen möchte. Lehrreich sind Aufsatz und Interview allemal, wenn man Richters Versteckspiel auf der Spur bleiben will. Allerdings sollte man nicht auf endgültige Erklärungsmuster hoffen, denn dann wäre das neugierige Sehen wohl am Ende. Trotzdem erfährt man nur hier, warum Georg Baselitz zu Richter sagte: "Du hast dein Vaterland verraten." Das ist wiederum eine ganz andere Geschichte, die auch mit Malerei zu tun hat und von Richter diesmal freiwillig erzählt wird.

Titelbild

Gerhard Richter: Malerei. Text und Interview von Robert Storr.
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2002.
340 Seiten, 78,00 EUR.
ISBN-10: 3775711694

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