Das Aquarium zum Hof

Thommie Bayer überrascht mit einem Erotikthriller

Von Julia SchusterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Schuster

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Toningenieur Barry hat die Stille gewählt. Alleine sitzt er in seiner abgedunkelten Wohnung und versucht zu verarbeiten, was passiert ist: bei einem tragischen Verkehrsunfall ist seine neue Liebe ums Leben gekommen. Er beschließt, seine Geschichte aufzuschreiben und wird erst auf andere Gedanken gebracht, als er seine neue Nachbarin bemerkt: In die Wohnung gegenüber, die Barry wegen seiner großen Fensterfront das "Aquarium" nennt, ist eine Frau eingezogen. Sie ist jung, schön und sie sitzt im Rollstuhl. Fasziniert beobachtet Barry, wie sie ihr Leben im sechsten Stock ohne fremde Hilfe meistert. Der Voyeur wähnt sich unbemerkt, doch eines Tages nimmt June Kontakt zu ihrem heimlichen Beobachter auf. In roten Buchstaben hat sie ihre E-Mail-Adresse an die Wand geschrieben. Barry meldet sich, und ihm wird klar, dass June die ganze Zeit von ihm wusste: "Als Frau spürt man Augen. Auch von hinten. Auch die unsichtbaren." Jetzt beginnt ein E-Mail-Ping-Pong zwischen den beiden. Nach und nach erzählen sie sich ihre Lebensgeschichte. Junes ist die einer erotischen Obsession, die ihr Leben aus der Bahn geworfen hat und durch die sie schließlich an den Rollstuhl gefesselt wurde. Doch plötzlich, als Junes E-Mail-Geständnisse bereits ein verlässlicher Faktor in Barrys Leben geworden ist, sieht er sie abends auf einer Party - tanzend.

Wer hätte Thommie Bayer so etwas zugetraut? Deftige Erotik (fast ohne Sex!) und überraschende Wenden zeichnen "Das Aquarium" aus. Sein bisheriges Werk bietet ein breites Spektrum von Lyrik über Fernsehdrehbücher bis zu seichter Unterhaltungsliteratur über heiteres Beziehungsgeplänkel ("Spatz in der Hand"). Sein neuester Roman ist ein ganzes Stück reifer, und auch die Umsetzung als Hörbuch ist größtenteils gelungen. Mit den Schauspielern Anna Thalbach und Bernd Michael Lade (bekannt aus dem Leipziger "Tatort") sind die Sprechrollen von June und Barry hervorragend besetzt. Zu bemängeln gibt es lediglich, dass trotz der Verfremdung der "Stimme" von Junes E-Mails vor dem inneren Auge des Hörers hin und wieder der Eindruck eines Telefonats oder eines Face-to-face-Gespräches entsteht. Immer wieder muss man sich ins Gedächtnis rufen, dass die beiden lange Zeit nur über ihren PC miteinander kommunizieren. Sicherlich sind auch die Sexszenen voyeuristischer Art nicht jedermanns Sache, denn die "Berührung" fehlt - nicht nur zwischen den Protagonisten, sondern auch die der Seele des romantischen Zuhörers. Trotz allem meistert es Bayer die Grenze zur Pornographie nicht zu überstreiten.

Die Warmherzigkeit und der "Ja! Genau so ist es!" - Effekt aus Bayers Roman "Das Herz ist eine miese Gegend" will sich beim "Aquarium" leider nicht einstellen. Die wahren Worte, die Bayer seinen Figuren in den Mund legt, das überraschende Ende und nicht zuletzt Thalbachs und Lades Umsetzung der Rollen von June und Barry machen "Das Aquarium" jedoch zu einem durchaus hörenswerten Stück deutscher Gegenwartsliteratur. Langeweile kommt bei den knapp 160 Minuten Hörzeit jedenfalls keinen Augenblick auf.


Titelbild

Thommie Bayer: Das Aquarium. 2 CD.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
160 min, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3821852003

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