Beschweigen und Bekennen

Zum Umgang der deutschen Nachkriegsgesellschaft mit dem Massenmord an den europäischen Juden

Von Matthias PrangelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Prangel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vom ersten Konzentrationslager Dachau aus nahm der faktische Mord an sechs Millionen europäischen Juden seinen Ausgang. Von dort, wo zwar nur ein relativ geringer Prozentsatz aller Juden das Leben verlor, mit dem Einmarsch der Amerikaner im Frühjahr 1945 jedoch die Greuel zum ersten Mal voll in die Sichtbarkeit traten, nahm auch die erst nur beschämend zögerliche und verzögernde, seit den 60er Jahren dann aber dennoch vorankommende Auseinandersetzung der deutschen Nachkriegsgesellschaft mit dem Holocaust ihren Anfang. An diesem Ort fand unter der maßgeblichen inhaltlichen Federführung einer Gruppe von Bochumer Historikern Anfang April 2000 das in diesem Band dokumentierte "1. Dachauer Symposium zur Zeitgeschichte" statt. Ziel des Symposiums war es, ohne damit die Frage nach den Verarbeitungsformen des Dritten Reiches von dessen Sachgeschichte separieren und so etwa auf die Linie einer reinen Diskursgeschichte einschwenken zu wollen, die unterschiedlichen Phasen, politisch-ideologischen Bedingungen, Gruppeninteressen und medialen Formen der Wahrnehmung, Erinnerung und Verdrängung des Holocaust in den Blick zu nehmen.

Paradigmatisch fast für die weitere Auseinandersetzung mit dem Holocaust in Deutschland lassen sich aus Sybille Steinbachers Eingangsbeitrag zu Dachau als dem Ort der Erstwahrnehmung des Mordes an den Juden eine ganze Reihe von charakteristischen Merkmalen ablesen: das immer wieder geleugnete, doch faktisch sehr wohl gegebene enge Beziehungsgeflecht zwischen Stadt/Bevölkerung und Lager; das primäre Bestreben von Bewohnern und Verwaltung, Schaden von der Stadt abzuwenden; die generelle Abwehr jeglicher Mitschuld an der Existenz des Lagers; die geradezu religiös überhöhte Rhetorik über das Lager, die die konkreten Ereignisse und Personen ausklammerte; die Selbststilisierung der Bewohner zu Opfern bis hin zur Konkurrenz um den Opferstatus mit den wirklichen Opfern; die Schwierigkeiten der Amerikaner, kommunale Posten oder auch die zur Aufdeckung der Verbrechen eingesetzte Spruchkammer mit geeigneten Personen zu besetzen, da viele als selbst in den Unrechtsstaat verstrickt enttarnt wurden. Das alles am Fall Dachau im Detail dargestellt zu bekommen, ist erhellend. Zu kurz greift die historische, auf Quellen bezogene Darstellung allerdings dort, wo es zu Schlüssen auf die emotionale Befindlichkeit derer kommt, die im Mai 1945 von den Amerikanern mit den Leichenbergen konfrontiert wurden, bzw. die Schlüsse der Quellen einfach kommentarlos übernommen werden. Aus äußerlicher Ausdruckslosigkeit, Sprachlosigkeit, erstarrter Gefasstheit, aus Wegsehen, Sich-abwenden etc. Emotionslosigkeit, Gleichgültigkeit, Ungerührtheit zu folgern, wie es seinerzeit amerikanische Reporter und Soldaten taten, das kann zwar stimmen und entsprach sicher dem damaligen Bedürfnis nach schlüssiger Erklärung der NS-Greuel durch allgemeine charaktertypische Grunddispositionen. Es muss aber nicht stimmen und reicht alleine keineswegs hin, die menschliche Psyche zu vermessen. Als sicher darf man annehmen, dass eine weniger triviale, elaboriertere psychologische Annäherung an das Verhältnis von Verhalten und innerer Befindlichkeit hier zu sehr viel differenzierteren Aussagen käme.

Mit den unterschiedlichen Phasen des publizistischen Umgangs mit dem Holocaust in der SBZ/DDR beschäftigt sich ein Beitrag von Karin Hartewig. Den unmittelbaren Nachkriegsjahren bis 1948, die sich mit ihrer Erinnerungsliteratur und ihren Darstellungen zu Antisemitismus und Rassismus als Jahre der Entideologisierung und Pluralität begreifen lassen, folgte nach der Staatsgründung in den 50er Jahren schnell eine Phase neuerlicher, diesmal kommunistischer ideologischer Abriegelung. In ihrem Zentrum stand die Auffassung vom Antisemitismus als Krisenzeichen des Imperialismus und den Konzentrationslagern als Orten vor allem der Eliminierung des politischen, kommunistischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Dem gegenüber wurde die Rolle der Juden in die Zweitrangigkeit abgedrängt. Die 60er Jahre, in der DDR wie der Bundesrepublik gleichermaßen geprägt durch die Zäsur von Eichmann- wie den Auschwitz-Prozess, dürfen zwar als Jahre der Aufklärung gelten, sind aber gleichzeitig dadurch gekennzeichnet, dass die DDR die Schuldfrage pauschal an die Bundesrepublik delegierte. In den 70er und 80er Jahren fand schließlich durch neuerliche biographische und autobiographische Publikationen sowie den Spielfilm eine späte Vermittlung jüdischer Erfahrung des Holocaust auch auf emotionaler Ebene statt. Doch sparten die Annäherungsversuche der Geschichtsschreibung jener Jahre abermals das Zentralereignis des Holocaust aus und hielten sich stattdessen vor allem an dessen Vorgeschichte.

Ein besonders peinliches Kapitel der Auseinandersetzung der deutschen Nachkriegsgesellschaft mit dem Holocaust beschreibt Marc Miquel in seinem Referat zur Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der Bundesrepublik der 60er Jahre. Das Aufgehen der Täter in der Nachkriegsgesellschaft und die Verquickung mit dem Unrechtsregime der Nazis, etwa über die zahreichen in ihren Ämtern belassenen Richter, führten zunächst dazu, dass seitens der Justiz jegliche Ahndungsaktivitäten abgeleht wurden und eine Verlängerung der Verjährungsfrist nicht einmal zur Diskussion stand. Als es dann 1957/58 zu den ersten Naziprozessen in Deutschland kam, und 1961 und 1963 in Jerusalem und Frankfurt der Eichmann- bzw. der Auschwitz-Prozess folgten, erlangten namentlich die letzten beiden eine ungeheuere Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit (bis zu 85 % der Bevölkerung verfolgten das Geschehen in den Medien). Was aber dennoch ausblieb, war ein grundsätzlicher Einstellungswandel der Bevölkerung. Die Ursache dafür erkennt Miquel vor allem darin, dass die Naziprozesse das Gesamtverbrechen des Nationalsozialismus in Einzeltaten mit bestialischen Einzeltätern auflösten, wobei der Aspekt der Mitverantwortung der deutschen Bevölkerung im Räderwerk der Mordmaschine ausgeblendet blieb. Dass es in den großen Bonner Verjährungsdebatten von 1965 und 1969 dann doch jeweils zur Verlängerung der Verjährungsfrist kam, wertet Miquel denn auch keineswegs als Resultat der innerdeutschen Debatte um den Holocaust. Vielmehr macht er den internationalen Druck fast aller westlicher Staaten, namentlich aber Frankreichs, der USA und Israels und die letztliche deutsche Entscheidung für die Einbindung in die westliche Werte- und Staatengemeinschaft dafür verantwortlich. Erst ganz am Ende der 60er und zu Beginn der 70er Jahre tritt die Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit unter dem Einfluss von zeitlicher Distanz, dem Heranwachsen einer selber nicht involvierten Nachkriegsgeneration und der Unruhe an den Hochschulen zumindest vorübergehend in das Stadium öffentlicher Diskussion ein.

Welche überragende Bedeutung für die bundesdeutsche Vergegenwärtigung des Holocaust dem Film zukommt, das handelt Matthias Weiß am Beispiel der NBC-Fernsehserie "Holocaust" (1978) und anhand von Spielbergs Film "Schindlers Liste" (1993) ab. Was politische, historische, psychologische Aufklärung allein nicht leisteten und auch nie zu leisten vermochten, gelingt hier. Auch wenn sie die tatsächlichen Erfahrungen der Opfer wohl kaum vermittelten, bringen sie (zumal die "Holocaust"-Serie in der noch wenig kommerzialisierten Fernsehlandschaft) eine Konfrontation der deutschen Bevölkerung mit den Naziverbrechen auf eine emphatisch und empatisch auf die Opfer bezogene Weise zustande, die von ganz neuer Dimension war. Und dies trotz aller großen Vorbehalte, die man zunächst gegenüber der audiovisuellen Ästhetisierung des Holocaust-Geschehens und hinsichtlich der möglichen Reaktionen des deutschen Publikums hatte. Doch erwies sich in der Praxis, dass solche Ästhetisierung das Publikum gegenüber der reinen Dokumentation eben keineswegs der realen Ereignisebene nur entfremdete, sondern gleichzeitig eine Betroffenheit herzustellen vermochte, die erhöhte emotionale Bereitschaft auslöste, sich dem Erinnerungsdiskurs zu stellen. Im Gefolge solcher Erfahrungen rückte, wie Weiß zeigt, die Frage nach dem Wie und der Form des Erinnerns von der Peripherie ins Zentrum der Debatte um den Umgang mit dem Holocaust.

Um das gleiche Thema des Verhältnisses von Realgeschichte und Erfahrung, Erforschung und Erinnerung, Historiographie und Zeugenschaft, rationaler und emotionaler Verarbeitung, geht es auch den letzten beiden Beiträgen des Bandes von Nicolas Berg und Raphael Gross, nun allerdings unter der Fragestellung nach der Orientierung der Geschichtswissenschaft. Und beide gelangen dabei zum gleichen Ergebnis: Nicht Polarisierung und entweder oder sei angezeigt - Vielmehr könne es Geschichtsschreibung ohne Erfahrung nicht geben, weshalb die sinnliche Präsenz als unersetzliche Kategorie der Wahrheitsfindung in die historische Darstellung des Holocaust eingehen und die empirische Forschung ergänzen müsse, andernfalls der Massenmord an den europäischen Juden mit zunehmender Forschungsaktivität immer unverständlicher würde.

So weit ein ausgewogener, die unterschiedlichen Bereiche von Politik, Gerichtsbarkeit, Kunst, Medien, Geschichtschreibung berücksichtigender material- und (er)kenntnisreicher Band. Dieser rundweg positive Befund wird allenfalls durch ein am Ende abgedrucktes, recht schwach, nämlich wenig pointiert moderiertes, schlecht redigiertes und dem Rest kein wirkliches Surplus hinzufügendes Podiumsgespräch abgeschlossen. Der Brauch, Symposien auf solche Weise abzurunden, liegt nach wie vor im Trend und ist ja auch verständlich. Doch sollte man das auch in jedem Falle drucken?

Titelbild

Norbert Frei / Sybille Steinbacher: Beschweigen und Bekennen. Die deutsche Nachkriegsgesellschaft und der Holocaust.
Wallstein Verlag, Göttingen 2001.
168 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3892444935

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