Familienväter

Literatur, Psychoanalyse und Kulturwissenschaft über einen mystifizierten Typus des Menschen

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte der Vaterfiguren in literarischen und wissenschaftlichen Texten des 20. Jahrhunderts war zu weiten Teilen eine Geschichte permanenter Mystifikationen, eine Geschichte von Symbolisierungen gleichsam göttlicher oder teuflischer Macht. Zahlreiche Neuerscheinungen der letzten Jahre können den Eindruck erwecken, dass diese Geschichte die Jahrhundert- und Jahrtausendwende bruchlos überdauert.

Dem scheinen die sich gegenwärtig häufenden Befunde, die, oft in Anknüpfung an Alexander Mitscherlichs 1963 entworfenes Bild von der "vaterlosen Gesellschaft", den Bedeutungsverlust des Vaters in Familie und Gesellschaft konstatieren, zu widersprechen. Die Zeitschrift "Kursbuch", die mit ihrer Themenauswahl nach wie vor ein wichtiger Indikator für die Problemfelder ist, mit denen unsere gegenwärtige Kultur dominant beschäftigt ist, gab ihrer Ausgabe im Juni 2000 den Titel "Die Väter". Als biologisches Faktum sei der Vater trotz Samenbanken, extrauteriner Fertilisationen und der Technik des Klonens zwar noch nicht verschwunden, meint hier der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann. "Auf der Ebene der sozialen Beziehungen und der gesellschaftlichen Reputation sind die Väter allerdings schon seit langem deutlich im Rückzug. Allein erziehende Mütter, rasche Scheidungen nach der Geburt eines Kindes, Ehen auf Distanz und die einerseits forcierte, andererseits gefürchtete Auflösung traditioneller Familienstrukturen haben den klassischen Vater zu einem Relikt werden lassen, das in der Realität kaum noch eine signifikante Rolle spielt, höchstens in Erinnerungen beschworen wird."

Im gleichen Heft hält Henryk M. Broder den Vorstellungen vom Judentum als Inbegriff patriarchaler Ordnung eine Realität entgegen, in der die Bedeutung des Vaters auf die des Samenspenders, Brotbeschaffers und Beters reduziert sei. "Der dominant-despotischen Rolle der Mutter in der jüdischen Familie hat der Vater nichts entgegenzusetzen. Seine Aufgabe ist es, sich täglich neu zu unterwerfen, für den Unterhalt der Familie zu sorgen und die Gebete zu sprechen, also die Verbindung zu dem Allmächtigen herzustellen, während die Frau die Kinder erzieht, den Haushalt führt und die Länge der Leine bestimmt, die der Mann um den Hals trägt. Während das Judentum nach außen hin als Patriarchat auftritt, ist es in Wirklichkeit ein Matriarchat."

In psychoanalytischen Publikationen häufen sich seit einigen Jahren die Reflexionen über Familienväter. Die "Väterforschung" etabliert sich hier zu einer eigens ausgewiesenen Disziplin. Im neuesten Prospekt des verdienstvollen "Psychosozial-Verlages" sind unter der Rubrik "Väter und Elternschaft" drei Bücher aus den Jahren 2001 und 2002 angezeigt, die über "Männer als Väter" oder über "Die Bedeutung des Vaters in der frühen Kindheit" handeln, wie zwei dieser Titel lauten. Der dritte verweist am deutlichsten auf die durchgängige Tendenz dieser Forschungen: "Der ferne Vater" (Josef Christian Aigner). Der gesellschaftliche Bedeutungsverlust des Vaters hatte auch in der psychoanalytischen Theorie und ihrer lange währenden Fixierung auf die frühe Mutter-Kind-Beziehung einen unübersehbaren Niederschlag gefunden. Dem wird inzwischen entgegengearbeitet. Die "Vaterlosigkeit", die "Vaterferne", "Das Drama der Vaterentbehrung" (Horst Petri) oder "Das Verschwinden der Väter" (Luigi Zoja) gilt inzwischen als Problem, das sich häufig in dramatisierenden Schilderungen der sozialen und psychischen Folgen jenen Mystifikationen angleicht, die schon das kulturelle Konstrukt des übermächtigen, gottgleichen Vaters geprägt hatten. Wofür die Vaterlosigkeit da nicht alles verantwortlich gemacht wird! Horst Petri, Autor der 1999 erschienenen und inzwischen auch als Taschenbuch vorliegenden Schrift über "Das Drama der Vaterentbehrung", reiht in seinem Beitrag zu dem erwähnten "Kursbuch" die Folgen eines traumatischen Vaterverlustes warnend so aneinander: "schwere seelische und psychosomatische Erkrankungen, Selbstmordgefährdung, Drogensucht, Verwahrlosung, Gewaltneigung und Kriminalität". Josef Christian Aigner beruft sich auf Matthias Matusseks "überfällige Anmerkungen zum Geschlechterkampf" (Untertitel des Buches "Die vaterlose Gesellschaft"), die 1998 großes Aufsehen erregten. Die "Brutalisierung der Jugend", so Matussek, ist eine "Folge ihrer Vaterlosigkeit". Im rechtsextremistischen Milieu suchen sich jugendliche Gewalttäter, die oft mit allein erziehenden Müttern aufgewachsen seien, "faschistische Ersatzväter". Als Kronzeuge für die katastrophalen Folgen der Vaterferne fungiert auch Volker Elis Pilgrims 1986 erschienenes Buch über jene "Muttersöhne", die zu den 'großen' Gewalttätern der Geschichte wurden, darunter Stalin und Hitler. Der Typus eines neuen Vaters und eine Psychoanalyse, die seine Notwendigkeit begründet, versprechen da Heilung für den Einzelnen und für die ganze Gesellschaft. Religiöse Heilslehren lassen sich daran leicht anschließen. Ausgerechnet am Muttertag predigte unlängst ein Pfarrer über die Frage "Wer zeigt uns den Weg aus der vaterlosen Gesellschaft?" Er stellte seine Worte ins Internet: "Die vaterlose Gesellschaft ist in Wirklichkeit die gottlose Gesellschaft, die den Menschen von seinem tragenden Wurzelgrund löst, ihn auf sich selbst gestellt sein läßt und ihm jegliche Geborgenheit raubt." (http://mitglied.lycos.de/standreas/texte/muttertag.htm)

Die Rede von der "vaterlosen Gesellschaft" geht auf den Psychoanalytiker Paul Federn zurück. Der hatte 1919, nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der Kaiserreiche, die Vaterlosigkeit zur Voraussetzung revolutionärer Veränderung erklärt. Heute ist die Diagnose der "Vaterlosigkeit" zu einer Formel mit unverkennbar restaurativen Tendenzen geworden. Sie zeigen sich selten so offen wie in den Beispielen, die Richard Herzinger im "Kursbuch" anführt - zum Beleg seiner These: "die einzigen, die zu ihren Vätern noch aufschauen und ihr Werk in Treue fest weiterführen wollen, sind die jungen Rechten." Von Busch junior und senior ist in dem Artikel nicht die Rede, doch von Jörg Haider, der von seinem Vater, einem "waschechten Nazi der ersten Stunde", einen Auftrag übernommen hat. Latenter machen sich die restaurativen Tendenzen des neuen Vater-Diskurses da bemerkbar, wo sie, ohne dass dies von den Autoren und ihren Lesern bemerkt wird, Vorstellungen aus dem 19. Jahrhundert fortschreiben, wie sie am prominentesten Johann Jakob Bachofen entwickelt hat.

"Der Fortschritt von der mütterlichen zu der väterlichen Auffassung des Menschen bildet den wichtigsten Wendepunkt in der Geschichte der Geschlechterverhältnisse." Dieser Satz aus Bachofens ungemein einflussreicher Schrift "Das Mutterrecht", die gelegentlich als Beginn kulturwissenschaftlicher Familienforschung angesehen wurde, zeigt unmissverständlich, wie der Autor den kulturgeschichtlichen Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat einschätzt: als "Fortschritt". Bachofen reproduziert dabei das zentrale kulturelle Deutungsmuster, wonach die Relation zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit der zwischen Natur und Kultur entspricht. Als Analogien dazu führt er die Gegensätze von Körper und Geist, Nacht und Tag, Erde und Sonne oder auch von Dionysischem und Apollinischem an. In der "Hervorhebung der Paternität" liege "die Losmachung des Geistes von den Erscheinungen der Natur, in ihrer siegreichen Durchführung eine Erhebung des menschlichen Daseins über die Gesetze des stofflichen Lebens." Über "das körperliche Dasein" erhebe sich "das geistige", wobei das "Muttertum" zur "leiblichen Seite des Menschen" gehöre, während "das väterlich-geistige Prinzip" den Menschen dazu befähige, "seinen Blick zu den höheren Regionen des Kosmos" zu erheben. Denn das "siegreiche Vatertum wird ebenso entschieden an das himmlische Licht angeknüpft als das gebärende Muttertum an die allgebärende Erde".

Die Bachofen-Rezeption im Umkreis der literarischen Moderne nach 1900 übernimmt diese dichotomischen Muster, kehrt die mit ihnen verbundenen Werthierarchien jedoch häufig um. Hier wie dort sind die Konstrukte des 'Vaters' mit Konstrukten 'männlicher' Geschlechtsidentität eng assoziiert. Diese Verknüpfungen sind im Blick auf literarische Texte und ihre Kontexte erst in jüngster Zeit eingehender untersucht worden (vgl. die Rezension in literaturkritik.de zu Walter Erharts "Familienmänner"). Als der Dadaist, literarische Anarchist und Sexualrevolutionär Raoul Hausmann um 1920 seinen profeministischen Kampf für "die Abdankung des männlichen Geistes" und "männlichen Ordnungstriebes" ausfocht, stützte er sich vor allem auf einen unorthodoxen, kulturrevolutionären Psychoanalytiker, der in den Bohemekreisen der Moderne, vor allem im Expressionismus und Dadaismus, einen ungeheuren Einfluss ausübte: auf Otto Gross. Dessen Kulturkritik verfocht in einer Synthese aus Bachofens Geschichtsschreibung, Nietzsches Philosophie, anarchistischen, psychiatrischen und vor allem psychoanalytischen Theorien eine Befreiung der individuellen, insbesondere sexuellen Bedürfnisse des Einzelnen von den entfremdenden Autoritäten einer patriarchalisch organisierten Gesellschaft. Der unter den bestehenden Verhältnissen pathogene Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft werde, vermittelt über die Familie, zum intrapersonellen "Konflikt des Eigenen und Fremden" verinnerlicht. Die Lösung, die Gross 1913 in der expressionistischen Zeitschrift Die Aktion propagierte, lautet: "Der Revolutionär von heute [....] kämpft gegen Vergewaltigung in ursprünglicher Form, gegen den Vater und gegen das Vaterrecht. Die kommende Revolution ist eine Revolution fürs Mutterrecht." Alle bisherigen Revolutionen seien in sich zusammengebrochen, "weil der Revolutionär von gestern die Autorität in sich selbst trug. Man kann erst jetzt erkennen, daß in der Familie der Herd aller Autorität liegt, daß die Verbindung von Sexualität und Autorität, wie sie sich in der Familie mit dem noch geltenden Vaterrecht zeigt, jede Individualität in Ketten schlägt."

Die meisten der von Otto Gross zwischen 1913 und 1920 publizierten Schriften wurden erstmals 1980 in einem von Kurt Kreiler herausgegebenen Band gesammelt und der Öffentlichkeit neu zugänglich gemacht. In Anlehnung an dieses längst vergriffene Buch wurden sie vor zwei Jahren von dem Gross-Experten Raimund Dehmlow neu herausgegeben. Die Ausgabe enthält einige Aufsätze, die in der von Kreiler noch nicht zugänglich waren, darunter den 1919 in einer "Räte-Zeitung" publizierten Entwurf "Zur funktionellen Geistesbildung des Revolutionärs". Mutterrecht und Kommunismus sind hier zu Synonymen geworden, Psychoanalyse und Familienpolitik zu Instrumenten kommunistischer Revolution. Es geht um die "Notwendigkeit der Zertrümmerung der Vaterrechtfamilie unter Errichtung des kommunistischen Mutterrechts."

Die etablierten Geschlechtscharaktere begreift Gross nicht als naturgegeben, sondern als familiengeschichtlich bedingt. Passivität und Masochismus der Frau sowie der tendenziell gewalttätige Machtwille des Mannes beruhen darauf, "daß die bestehende Familienordnung auf den Verzicht auf Freiheit der Frau gestellt ist." Während das Mutterrecht "der Frau die wirtschaftliche und damit die sexuelle und menschliche Unabhängigkeit vom einzelnen Mann" gewährte, ermögliche unter der "Ordnung des Vaterrechts" nur ein einzelner Mann einer einzelnen Frau die Mutterschaft, "und dies bedeutet die materielle und damit die universelle Abhängigkeit der Frau vom Manne um der Mutterschaft willen." Der Frau bleibe die "Alternative zwischen dem Verzicht auf das Muttersein und dem Verzicht auf die freie Selbstbetätigung". Im einen Fall muss sich das als "Verneinung der eigenen Weiblichkeit" und als "Wunsch nach Männlichkeit" manifestieren, im anderen in "einer menschlich und sexuell passiven Endeinstellung", in "einer masochistischen Triebkomponente".

Die historische Genealogie etablierter Vater- und Mutter-Rollen, verbreiteter Geschlechtscharaktere sowie bestehender Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Geschlechtern stellt dies alles zur Disposition, öffnet Spielräume für andere Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Im literarischen Expressionismus sind die permanenten Beschreibungen familiärer Kämpfe zwischen Vätern und Söhnen daran beteiligt. Es sind Kämpfe um alte und neue Konzepte von Männlichkeit, an der zur gleichen Zeit auch die psychoanalytischen Beschreibungen ödipaler Konflikte beteiligt sind. Jenes Konstrukt von Männlichkeit beispielsweise, das ökonomisch durch die Fähigkeit definiert ist, nicht nur den eigenen Lebensunterhalt, sondern auch den einer ganzen Familie zu bestreiten, ist permanenter Problemstoff in Kafkas Werken, insbesondere in den Erzählungen Das Urteil und Die Verwandlung sowie im Brief an den Vater. Kafkas Söhne leiden und scheitern an diesen Männlichkeitsnormen, gegen deren Autorität sie sich auflehnen, die sie jedoch in selbstdestruktiver Weise verinnerlicht haben. Erfolgreicher agieren die Söhne gegen ihre Väter in den einschlägigen 'Familiendramen' von Walter Hasenclever (Der Sohn) oder Franz Werfel (Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig). Anders als bei Kafka werden sie von den Vätern nicht überlebt, sondern sind am Ende von ihnen befreit. Ihr Sieg demonstriert dabei die Durchsetzung eigener Männlichkeit, die sich von der des Vaters unterscheiden will.

"Lieber Vater, Lieber Gott?" lautet der Titel einer kürzlich erschienenen Dissertation von Arno A. Gassmann über den Vater-Sohn-Konflikt bei den Prager Autoren Max Brod, Franz Kafka, Oskar Baum und Ludwig Winter. Ihr kommt das Verdienst zu, im Blick über Kafka hinaus diesem Konflikt vergleichend auch bei Autoren nachzugehen, die kaum noch bekannt sind oder zumindest unter dem Aspekt der Vater-Sohn-Beziehung noch nicht eingehender untersucht wurden. Anders als Kafka litt Brod eher unter der Schwäche als unter der Stärke seines Vaters. So ist denn auch das in Brods Werken entworfene Bild Gottes nicht das eines Allmächtigen. Dem Sohn ist damit die Möglichkeit entzogen, sich mit seinem Vater intensiv auseinander zu setzen und dabei eigene Stärke zu beweisen. Die Fähigkeit, gegen die Autorität des Vaters aufzubegehren, scheint spätestens seit der ersten literarischen Jugendbewegung des 'Sturm und Drang' als exklusiver Ausweis von Männlichkeit zu gelten. Die Jugendbewegungen bleiben, auch in der Literaturgeschichte, bis in die späten sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein von Männern dominiert.

In der literarischen Moderne werden im Namen der Söhne mit der Instanz des Vaters Attribute und Sphären der Männlichkeit in Frage gestellt, die über bloß private Familiendimensionen weit hinausreichen. Die Familie fungiert in den literarischen Darstellungen zugleich als Vermittlungsinstanz und als Modell patriarchaler Machtverhältnisse. In unverkennbarer Anlehnung an Otto Gross erhält der Sohn in Franz Werfels Novelle Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig auf seine Frage "Was versteht ihr unter - Herrschaft des Vaters?" von einem Anarchisten die Antwort "Alles! [...] Die Religion: denn Gott ist der Vater der Menschen. Der Staat: denn König oder Präsident ist der Vater der Bürger. Das Gericht: denn Richter und Aufseher sind die Väter von jenen, welche die menschliche Gesellschaft Verbrecher zu nennen beliebt. Die Armee: denn der Offizier ist der Vater der Soldaten. Die Industrie: denn der Unternehmer ist der Vater der Arbeiter!"

Dass der Vater im Umkreis des Expressionismus zur universalen Metapher sozialer Machtverhältnisse wird und dass diese Metaphorik zusammen mit den tradierten Stereotypen von Männlichkeit hier ins Zentrum der Machtkritik rückt, bleibt für die Kulturgeschichte antiautoritärer Bewegungen im 20. Jahrhundert wegweisend. Die Studien über Autorität und Familie, mit denen sich nach der nationalsozialistischen Machtergreifung im US-amerikanischen Exil die Kritische Theorie der Frankfurter Schule konstituierte und nach den Fundamenten jenes "autoritären Charakters" forschte, der den Nationalsozialismus ermöglichte, die antiautoritäre Studentenbewegung um 1968 und nicht zuletzt die Patriarchatskritik der feministischen Bewegungen partizipierten an diesen Impulsen der literarischen Moderne.

1971 erschien in London und ein Jahr später in deutscher Übersetzung das ungemein resonanzreiche Buch des Anti-Psychiaters David Cooper mit dem Titel Der Tod der Familie. Mit ihm erreichte die in Form der Familienkritik gefasste Gesellschaftskritik einen Kulminationspunkt. Die Familie "wiederholt sich", so Cooper, "ihrer Form nach in den Sozialstrukturen der Fabrik, der Gewerkschaft, der Volks- und Oberschule, der Universität, der Handelsgesellschaft, der Kirche, der politischen Parteien und des Regierungsapparats, der Streitkräfte, der Krankenhäuser im allgemeinen und der Nervenkliniken im besonderen usw." Die das Buch wie die ganze psychiatriekritische Bewegung damals leitende Differenz zwischen Vernunft und Wahnsinn, deren herkömmliche Bewertungen durch Umkehrung dekonstruiert wurden, machte in der Literatur der siebziger und achtziger Jahre Schule. Die für ihre vernunftkritische Stoßrichtung typischen Gegenüberstellungen von Geist und Natur, Rationalität und Sinnlichkeit, Kopf und Körper, zwanghafter Ordnung und anarchischer Unstrukturiertheit, Normalität und Wahnsinn ließen sich dabei, wenn auch in einer sich verkehrenden Wertschätzung, mit traditionellen Stereotypen von Männlichkeit und Weiblichkeit problemlos in Einklang bringen. Insbesondere die Hysterie konnte so im positiven Sinn als das weibliche Andere der männlichen Vernunft konzipiert werden. In der zeittypischen Schrift über Das Andere der Vernunft von Hartmut und Gernot Böhme stehen die für solche Einschätzungen symptomatischen Sätze: "Aufstieg und Sieg der Vernunft ist zugleich die Geschichte der Unterwerfung der Natur im Weib und des Weiblichen in der Natur: ein Sieg, der erst durch die strikte Trennung des männlich verpanzerten Subjekts von Frau und Natur möglich ist."

Die intellektuellen wie literarischen Auseinandersetzungen mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen werden in den siebziger Jahren dominant im Blick auf die Familien- und Geschlechterordnung reflektiert. Unter dem Motto "Das Politische ist das Private" verlegte die neusubjektive Literatur nach 1968 die vormals eher theoretisch-abstrakte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in den Raum familiärer Beziehungen. Schon in Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt war die Vater-Figur Inkarnation des Faschistoiden und einer Form von Männlichkeit, die für die Protagonistinnen auf diverse Arten tödlich ist. Im Rückgriff auch auf Bachmann reflektierte Christa Wolfs Kassandra noch in den achtziger Jahren politische Strukturen der damaligen DDR am Modell der trojanischen Familien- und Geschlechterordnung. Die "Väter-Literatur" der siebziger und achtziger Jahre wurde von Söhnen wie von Töchtern geschrieben. Wie die Söhne so üben auch die Töchter häufig Kritik am Vater als dem symbolischen Vertreter der Macht und des Gesetzes.

Die Väter-Bücher wie die vielen autobiographischen Familiengeschichten überhaupt verarbeiten seit den siebziger Jahren mit ähnlicher Intensität psychoanalytisches Wissen wie der akademische Feminismus. Juliet Mitchels grundlegende Abhandlung über Psychoanalyse und Feminismus aus den Anfängen der siebziger Jahre mündet in ein Schlusskapitel mit dem Titel "Die Heilige Familie und die Weiblichkeit". Die vorangehende Auseinandersetzung mit Freud, Wilhelm Reich und dem Anti-Psychiater Ronald D. Laing weitet sich hier in Ansätzen auch auf die mit Jacques Lacan aus. Dessen Konzepte des realen, imaginären und symbolischen Vaters haben die feministische Theoriebildung und ihre Reflexion männlicher und weiblicher Geschlechtsidentitäten immer wieder und höchst kontrovers herausgefordert. Wenn Lacan die "symbolische Ordnung" der Kultur dem Gesetz und dem Namen des Vaters unterstellte, reproduzierte und affirmierte er jene Familien- und Geschlechterkonstrukte, die das Männliche mit Kultur und das Weibliche mit einer präkulturellen Natur assoziieren. Judith Butlers Versuch, der Dominanz der Ödipus-Figur im psychoanalytischen Diskurs die Bedeutung Antigones gegenüberzustellen (vgl. die Rezension zu "Antigones Verlangen" in literaturkritik.de, https://literaturkritik.de/txt/2001-10/2001-10-0022.html), bezeichnete Lacans Vater-Konzept als eine "Mystifikation". Es ist eine Mystifikation in der Tradition Bachofens, die die Psychoanalyse auch noch in jenen jüngeren Konzepten fortschrieb, die den Vater in seiner Funktion neu auszuwerten versuchte, indem sie ihn zur befreienden Instanz aus der dyadischen, frühkindlichen Mutter-Kind-Symbiose erklärte. Der Vater bietet demnach, so formuliert es Horst Petri im "Kursbuch", "dem Kind den notwendigen Halt, wenn es bei der Ablösung von der Mutter durch seine Trennungsangst und Ambivalenz in die Krise gerät. Die Anlehnung an den Vater hilft ihm, seine Wünsche nach Symbiose mit der Mutter aufzugeben." Gebe die Mutter dem Kind "hauptsächlich durch ihre Emotionalität und durch sprachliche Kommunikation" Rückhalt, so vermittle "der Vater ihm die Welt durch aktive Konfrontation, Ermutigung, Förderung und gesellschaftlich vorgegebene Normensysteme." Erst der Vater ermöglicht in dieser Perspektive die Individuation und lenkt das Kind auf dem Weg aus einem ursprünglichen Naturzustand in den Bereich der öffentlichen Kultur und Zivilisation.

Der in Mailand praktizierende und in Zürich am C.G. Jung-Institut lehrende Psychotherapeut und Publizist Luigi Zoja erklärt: "an der Schnittstelle zwischen Natur und Kultur liegt der Ursprung des Prinzips Vater." Während die Mutter ihre Position schon im Tierreich eingenommen habe, sei Vaterschaft eine künstliche Konstruktion und setze evolutionsgeschichtlich ein vernünftiges Denken voraus, das dem Mann überhaupt erst verständlich macht, dass er an der Hervorbringung des Kindes seinen Anteil hat. In der Natur weiß man nichts von einem bestimmten Erzeuger dessen, was da von einer Mutter irgendwann sichtbar geboren wird. Vaterschaft ist eine kulturelle Leistung. Das "psychische Prinzip" oder die "Konstruktion" des Vaters ist eine "Überwindung" dessen, "was wir als Natur zu bezeichnen pflegen." Mit evolutionsgeschichtlich begründeten Zuschreibungen dieser Art geht es in dem Buch weiter. Vor der Evolutionsgeschichte sind alle historischen Veränderungen der letzten Jahrhunderte "wie Schaumkronen auf der gewaltigen Welle der Geschichte". Die Autorität des Vaters mag sich in der jüngeren Geschichte demokratisiert, seine Macht in vieler Hinsicht verflüchtigt haben. "Aber unser Unbewußtes", schreibt der Jungianer, "löscht nicht einfach innerhalb weniger Generation dasjenige, von dem es jahrtausendelang geprägt wurde, aus." Und dieses Unbewusste ist geprägt vom archaischen Bild des starken Vaters. Es akzeptiert eher einen ungerechten als einen schwachen Vater, es wünscht sich vor allem einen Vater, der sich in der Welt außerhalb der Familie siegreich behauptet. Denn in dieser Welt gilt das "Gesetz der Darwinschen Evolution, wonach das 'Gute' gleichbedeutend ist mit der Fähigkeit, sich und den Nachkommen das Überleben optimal zu sichern."

In Luigi Zojas viel gelobtem Buch artikuliert sich die kultur- und modernitätskritische Rede vom Verschwinden der Väter in einer ihrer derzeit wohl reaktionärsten Formen. Der angemahnte "Respekt für die Wirkungskraft der Tradition - für Symbole, Gebete und Riten", die genuin an intakte Vaterschaft gekoppelt sei, der Appell an die Männer, "zu ihrer kollektiven Funktion im Dienste der genetischen Selektion" zurückzukehren, sind dafür nur harmlose Indikatoren. Die dichotomischen Denkmuster, die hier den Umgang mit Begriffen von Väterlichkeit und Mütterlichkeit, Männlichkeit und Weiblichkeit, Natur und Kultur prägen, sind ungleich problematischer.

Josef Christian Aigners Buch "Der ferne Vater" ist in dieser Hinsicht völlig anders. Es zielt darauf, auch in der Psychoanalyse verbreitete Gegenüberstellungen von körperlicher Nähe in der frühen Mutter-Kind-Beziehung und körperloser Väterlichkeit aufzulösen. Im Rückgriff auf Freuds Beschreibung des "negativen Ödipuskomplexes", der die gleichgeschlechtliche Zärtlichkeit zwischen Eltern und Kindern sowie die gegengeschlechtlichen Rivalitäten im Blick hat, plädiert Aigner dafür, "verstärkt auch die körperliche Dimension väterlicher Zuneigung" in frühe Eltern-Kind-Beziehungen zu integrieren. Sie als "mütterlich" zu bezeichnen hieße nur wieder, die alten Dichotomien zwischen 'mütterlich' und 'väterlich' fortzuschreiben. Die homophob geprägte Körperferne und Körperabwehr, die für patriarchale Männlichkeitsentwürfe kennzeichnend sind, ist von vielen Theorien reproduziert und verfestigt worden. Mit der auch körperlichen Präsenz in der frühen Beziehung zum Kind ist der Vater dagegen nicht mehr schon aufgrund seines Geschlechtes Repräsentant einer Welt, die der "Mutter-Kind-Welt" entgegengesetzt ist, und nicht mehr die Instanz, die das Kind aus der engen symbiotischen Einheit mit der Mutter befreit. Und wenn umgekehrt Frauen als Mütter Verbindungen zu einer anderen als der häuslich-familiären Welt haben, ist diese enge Symbiose gar nicht erst vorhanden. In einer solchen Konstellation, so hofft Aigner, könnten "die Zuschreibung und Sozialisierung rigider Geschlechterrollen, die dann von Psychologie und auch Psychoanalyse wiederum als quasi-natürliche Geschlechtszuschreibungen festgeschrieben werden, Schritt für Schritt zurückgedrängt werden."

Aigners Hinweis auf Freuds Begriff des "negativen Ödipuskomplexes", der über die libidinöse Beziehung zwischen Mutter und Sohn oder Vater und Tochter auch die zwischen Vater und Sohn oder Mutter und Tochter im Auge hat, tangiert ein kulturelles Tabu besonderer Art. Es ist so tief verankert, dass es in der Kulturgeschichte des Inzestes und des Inzestverbotes so gut wie nicht zum Thema wurde. In dem von Bernd Wirkus herausgegebenen Band "Väter und Söhne", der sich einem wissenschaftlichen Symposium mit Teilnehmern vor allem aus dem Umkreis des Berliner Forschungszentrums für Historische Anthropologie verdankt, macht ein anregender Beitrag von Gert Mattenklott darauf aufmerksam. "Für die Liebe zwischen Vätern und Söhnen gibt es keine kulturell sanktionierte Form, geschweige denn eine erotische. Sie ist so gründlich in ein kulturelles Abseits und in eine Unterwelt verbracht worden, daß sie nicht einmal mit dem populären Diskurs des mißbrauchten Kindes hochgespült worden ist. [...] Die Angst vor Verletzung des Verbots scheint kulturell alle Aufklärung überstanden zu haben." Freuds Hinweise auf den Problemkomplex sind Mattenklott entgangen, obwohl sich der Aufsatz mit der Psychoanalyse und ihrem kulturellen Umfeld gut vertraut zeigt. Ausführlich geht er auf eine fundamentale Quelle von Freuds "Totem und Tabu" ein, auf das mythologische Kompendium "The Golden Bough" von James George Frazer, beiläufig auch auf die "skandalöse Räuberpistole um den Psychoanalytiker Otto Gross, den sein Vater, ein berühmter Kriminalist, mit Assistenz der Polizei entführen und in einer Irrenanstalt internieren ließ." Und was die unfreundlichen Ansichten, die Stephen Dedalus im "Ulysses" über Väter bekundet, mit James Joyce' Lektüre psychoanalytischer Schriften zu tun haben, ist hier gut belegt.

Psychoanalytisch inspiriert zeigt sich Mattenklott selbst schließlich in seiner überraschenden Deutung eines Bildes, das er zu den seltenen Zeugnissen des besagten Tabus rechnet: "Das einzige mir bekannte ikonographische Motiv, das einen ekstatisch erregten Vater zeigt, der sich über den nackten Sohn beugt, ist Abraham, mit dem gezückten Dolch über Isaak auf dem Opferstein. Neben der Sebastian-Ikonographie ist die Szene eine von ganz wenigen, die es in der christlich-jüdischen Tradition erlauben, einen schönen jugendlichen Männerakt zu zeigen. Die Lizenz ist daran gebunden, daß der begehrende Phallus zum Dolch wird. Mit dem Leib des Liebsten darf Abraham, der erwachsene Mann, nur verschmelzen um den Preis des Todes; in den Sohn nur dringen, indem er ihn opfert."

Der Band "Väter und Söhne", der gelegentlich auch von Müttern und Töchtern handelt, zeigt insgesamt, wie sich die Perspektiven ganz unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen unter thematischen Aspekten einer historischen Kulturanthropologie auf produktive Weise gegenseitig ergänzen können. Neben instruktiven Aufsätzen über die "Familienromane" in der literarischen Kolportage (Gert Ueding) oder in der neueren Kinderliteratur (Gundel Mattenklott) haben Philosophen, Sport- und Erziehungswissenschaftler dem Thema viele neue Gesichtspunkte abgewonnen. Der von Dieter Lenzen gleich zu Beginn eingeschlagen Tendenz, die europäische Kulturgeschichte als katastrophale "Demontage" eines vor langer Zeit einmal verbindlichen "Vaterkonzepts" zu erzählen, folgen die übrigen Beiträge zum Glück nicht. Der Erziehungswissenschaftler Lenzen, Autor des 1991 erschienen Buches "Vaterschaft. Vom Patriarchat zur Alimentation", macht hier im Namen des demontierten Vaters der Gesellschaft und Kultur der Moderne den Prozess. Ob Französische Revolution, der Marxismus des 19. Jahrhunderts, die 68er-Bewegung oder der Feminismus, sie alle haben in dieser Perspektive dazu beigetragen, Vaterschaft so zu demontieren, dass den armen, ausgebeuteten Vätern im Wesentlichen nur noch eine Funktion erhalten blieb: die "alimentatorische". Neuere Tendenzen zur Umgestaltung der Kind-Vater-Beziehung entwerten sich nach Lenzen dadurch, dass sie nur dem Entlastungsbedürfnis der Mütter dienen. Statt "Demontage" schreibt Lenzen gelegentlich auch "Liquidation", im Blick auf Kafka und die damalige Jugendbewegung spricht er von "Denunziation". Es ist schon frappierend, was sich gegenwärtig wieder im Namen eines guten alten Patriarchats an modernitäts- und aufklärungskritischen Ressentiments öffentlich verbreiten kann.

Anmerkung: Einige Passagen dieses Beitrags, die sich nicht auf die angegebenen Neuerscheinungen beziehen, sind wörtlich übernommen aus Christine Kanz / Thomas Anz: Familie und Geschlechterrollen in der neueren deutschen Literaturgeschichte. Fragestellungen, Forschungsergebnisse und Untersuchungsperspektiven (Teil I). In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 32, 2000, H. 1, S. 19-44.


Titelbild

Kursbuch. Die Väter. Nr. 140.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2000.
192 Seiten, 9,20 EUR.
ISBN-10: 3871341401

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Titelbild

Otto Gross: Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe. Mit einem Essay von Franz Jung zu Werk und Leben von Otto Gross.
Edition Nautilus, Hamburg 2000.
192 Seiten, 13,30 EUR.
ISBN-10: 3894013575

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Josef Christian Aigner: Der ferne Vater. Zur Psychoanalyse von Vatererfahrung, männlicher Entwicklung und negativem Ödipuskomplex.
Psychosozial-Verlag, Giessen 2001.
440 Seiten, 35,30 EUR.
ISBN-10: 3898060616

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Bernd Wirkus (Hg.): Väter und Söhne.
UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2001.
292 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3896699962

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Luigi Zoja: Das Verschwinden der Väter.
Übersetzt aus dem Italienischen von Rita Seuß.
Walter Verlag, Düsseldorf 2002.
294 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-10: 3530401382

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