Der Epiker des Augenblicks

Zu Walle Sayers staunenswerter "Beschaffenheit des Staunens”

Von Jürgen EgyptienRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Egyptien

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Walle Sayers jüngstes Buch "Von der Beschaffenheit des Staunens" führt seinem Charakter nach die beiden vorangegangenen, den Gedichtband "Irrläufer" und den Kurzprosaband "Kohlrabenweißes", zusammen. Das gilt zum einen und im doppelten Sinne hinsichtlich der Mischung der Gattungen, denn "Von der Beschaffenheit des Staunens" enthält nicht nur sowohl Kurzprosa als auch Gedichte, sondern auch in der dritten Abteilung "Zettelwirtschaft" zeilengebrochene Notate, die auf der Schwelle zwischen sentenzhaften Reflexionen und hochverdichteter Lyrik stehen. Als Beispiel mag folgender Vierzeiler dienen: "Habichtszeilen am Himmel, / gesplittertes Licht und / die Stämme, die dastehn, / in ihrer Mitte geknickt." Zum anderen besteht die angesprochene Kombination der vorangegangenen Bücher im thematischen Bereich und in der poetischen Verfahrensweise. Das neue Buch, gegliedert in die beiden Prosateile "Von der Beschaffenheit des Staunens" und "Guckloch", die zwitterhafte "Zettelwirtschaft" und den Gedichtzyklus "Panoptikum", setzt die Porträtminiaturen aus "Kohlrabenweißes" mit seinen Schattenrissen ländlicher Originale und Alltagsexistenzen fort. Sein Zugriff ist von einer ironischen Sympathie, die nicht die Augen vor der provinziellen Beschränktheit, vor der immer auch zu Gewaltausbrüchen fähigen 'Idiotie des Landlebens' (Marx) verschließt, dabei aber ebenso in den verschrobenen Käuzen und skurrilen Hintersassen eine Bastion des Individualismus erblickt, deren Schleifen den Chronisten mit Wehmut erfüllt.

Das Paradoxon ist denn auch Sayers rhetorische Lieblingsfigur, in dem er seine Erkenntnisse konzentriert. So deutet er etwa die heimatstolze Formel hinterwäldlerischer Identität zur Chiffre unauflösbarer Rätselhaftigkeit um: "Wir sind Wir: eine einfache Gleichung mit zwei Unbekannten." Das ist eine geniale Entstellung zur (Un-)Kenntlichkeit, die Sayer neben so großartige Aphoristiker wie Elazar Benyoëtz und Albrecht Fabri rückt. Der Zyklus "Guckloch" trägt ohnehin die Züge eines satirischen Zeitkommentars. Die Perspektive ist hier fast durchgehend diejenige eines kritischen Fernsehzuschauers, der die medial vermittelte Welt analytisch zerlegt. Die Autokolonnen des Urlaubsverkehrs erscheinen ihm als "Mobilmachungsbild", die Infantilisierung der Gesellschaft diagnostiziert er in der Funktion der "Babyrassel als Familienzepter" und über den ahnungslosen Passagieren des Traumschiffs, die auf ihrem "Touristenkreuzzug" die Pilgerstätten der Wohlstandsgesellschaft heimsuchen, sieht er "die Sterne zu Enterhaken gekrümmt." In dieser Vision drohender Buße verrät sich der Blick des Melancholikers Walle Sayer, der seine kritische Zeitdiagnose im Befund einer "Globabelisierung" auf den Begriff bringt.

Es gehört zu den konstitutiven Eigenschaften des Melancholikers, als Sammler des Ausrangierten und Überflüssigen zu agieren. Sayer verfügt über ein ausgeprägtes Sensorium für das "Verlorenheitsschimmern", das von diesem historischen Strandgut ausgeht. Er ist ein Wünschelrutengänger des Kruscht, ein Fährtenleser der Dingwelt, in der unverhofft "der richtige Dichtungsring" auftaucht, der seine Prosaminiaturen wie eine Gemme einfasst. Sammelobjekt ist auch die Sprache selbst, zumal das lokale und ländliche "Wortsammelsurium", das in Sayers Dichtung ein Asyl findet. Zu Beginn seiner "Zettelwirtschaft" stößt man auf das programmatische Notat: "Sie aufheben, / die Wortkrumen / des Dialekts." Ein Beispiel liefert etwa der Text "Im Dämmrigen": "Im Dämmrigen, an der Außenwand entlang, in die Länge getürmt, die Hausinnereien für die morgige Abfuhr. Ein Möbelstück steipert das nächste ab. Klappergestelle, der Kleinkruscht in den Ritzen dazwischen. Ein Sutterkrug, ein Dreifuß, ein Bremsschuh: Wortsammelsurium nur noch, Epistelzeile. Und obenauf der zusammengerollte Teppich, als hätt das unter ihn Gekehrte sich von selbst zersetzt." Ähnlich verfährt auch das Gedicht "Panoptikum 23" diesem Wahlspruch gemäß: "Ein angenagter Bleistiftstummel. / Eine krumme Lockenwicklernadel. / Flügelschrauben, Ohrenstöpsel. / Ein vergessner Schneuztuchknoten. / Mausekegel, eine leere Fadenspule. / Was für die Sägmehltante, den Gselzbär. / Ein Brotriebel, ein Obolusknopf. / Und etwas für euch Plappergoschen. / Etwas, das glänzige Augen macht." Das ist eine wunderbare Petrefaktensammlung von Worten, die weit über die Hutschnur jedes noch so aktuellen Trennungsprogramms geht. Es ist ein Inventarstil, der seine Poetizität aus der melancholischen Patina von Gegenständen bezieht, die aus dem Zwang zur Nützlichkeit entlassen sind.

Bei aller prinzipiellen Skepsis gegenüber den Segnungen der Moderne hat Sayer natürlich keinen Anteil am Ungeist des Provinzialismus. Wenn er den Heimatdichter als einen definiert, "dessen Verse es vermöchten, / Investoren zu vergraulen", so entspringt diese utopische Intention dem Ziel der Bewahrung von Identität. Sich ihrer mittels mosaikhafter Bilder zu versichern, ist Sayers Konzept einer Poetik des Augenblicks geschuldet. Sayers "Von der Beschaffenheit des Staunens" gleicht einer reich gefüllten Botanisiertrommel, in der Splitter der Vergangenheit mit Begegnungen und Beobachtungen im Jetzt durchmischt sind. Es sind Momentaufnahmen, deren Gemeinsamkeit in ihrem Erkenntiswert und poetischen Gehalt liegt und deren sprachliche Fixierung eine unverwechselbare Bildlichkeit besitzt. Sayer betreibt seine poetische Archäologie auch in eigener Sache. In "Panoptikum 33" gräbt er ein Schulheft des Drittklässlers aus, der eine ganze Seite mit dem Merksatz füllen mußte: "Ich soll den Rand einhalten." Der Entdecker macht die Beobachtung: "Und einer davon / hinausgeschrieben / über den Rand." Das ist ein verkapptes Selbstporträt des Dichters als randständige Existenz. Das kürzeste Notat in Sayers Buch lautet denn auch in großartiger Verknappung: "Mein Fremderhaltungstrieb." Präziser läßt sich der Unzugehörigkeit als Bedingung dichterischen Schaffens nicht Ausdruck verleihen.

In der Summe treten die Texte dieses Buchs zu einem dialektischen Bilderbogen zusammen. In ihm erfüllt sich Walle Sayers selbstgestellte Aufgabe: "Ein Epiker des Augenblicks sein" aufs Glänzendste.

Titelbild

Walle Sayer: Von der Beschaffenheit des Staunens. Miniaturen, Notate und ein Panoptikum.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2002.
150 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3421057435

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