Alles in allem ist Czeslaw Milosz ein Glückspilz

Bruchstücke aus einem wechselvollen Leben

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Czeslaw Milosz, 1911 in Litauen geboren und Literaturnobelpreisträger des Jahres 1980, blickt auf ein wechselvolles Leben zurück. Nach seinem Schulbesuch und Jurastudium in Wilna arbeitete er für den polnischen Rundfunk und war von 1945 bis 1951 polnischer Kulturattaché in New York, Washington und Paris. Gleichzeitig publizierte er in Polen zahlreiche Gedichte, Zeitungsartikel und Übersetzungen. Dem kommunistischen System fühlte er sich zunächst verbunden, später wurde er dessen schärfster Kritiker, wie sein 1953 veröffentlicher Band "Verführtes Denken" eindrucksvoll belegt. Er emigrierte nach Frankreich und siedelte 1956 in die USA über. Seit 1960 lehrte er als Professor für slawische Literatur an der Universität Berkeley. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostens ist ihm Krakau zur zweiten Bleibe geworden.

"Alles in allem", resümiert Milosz, "bin ich schon viel herumgekommen." Als er nach über einem halben Jahrhundert an seinen Geburtsort und nach Wilna zurückgekehrt sei, habe sich für ihn ein Kreis geschlossen. Dabei habe die Wucht und die Komplexität dieses Erlebnisses alle Möglichkeiten seiner Sprache überstiegen. Angesichts des Übermaßes an Emotionen sei er anfangs verstummt und sei dann zu einer indirekten Ausdrucksweise übergegangen. "Anstatt von mir zu sprechen, habe ich begonnen, eine Art Register mit vielen verschiedenen Lebensgeschichten und Begebenheiten anzulegen."

So erschienen 1997 und 1998 von Czeslaw Milosz, an Stelle einer chronologisch angelegten Lebensbeichte, zwei autobiografische Alphabete, in denen er sich in einer mosaikartigen Sammlung von Erfahrungen, Streiflichtern und Miniaturen an den Winkelzügen seines Gedächtnisses orientiert. Aus beiden Bänden wurde für die deutsche Ausgabe eine Auswahl zusammengestellt.

In Aphorismen, lyrischen Bilder, bizarren Szenen und kleinen episodischen Brocken berichtet der polnisch-litauische Dichter, in einer einfachen Sprache und einem schlichten Stil von seinen ästhetischen und politischen Metamorphosen und wirft in einer Vielzahl von Porträts und Begegnungen einen subjektiven Blick auf das gerade zu Ende gegangene 20. Jahrhundert, auf ein Jahrhundert, das durch soziale Umbrüche, Revolutionen, Kriege und Zusammenbrüche gekennzeichnet war. Indem sich Milosz von Assoziationen leiten lässt, reiht er Erinnerungsstücke alphabetisch aneinander und hält dabei Stationen seines Lebens, seines Denkens und Fühlens fest, bunte Bruchstücke aus einst komplexen Zusammenhängen. Bilanziert wird so ein reiches Leben mit einem leicht wehmütigen Unterton.

Nebenbei gestattet sich der Schriftsteller literatur- und kunstgeschichtliche Abschweifungen. Er mischt Leseeindrücke mit konkreten Erlebnissen und macht beide zum Ausgangspunkt philosophischer Erörterungen. Das Spektrum der Einträge reicht weit: Personen, Orte, menschliche Gefühle wie Angst, Bewunderung, Ehrgeiz oder Ekel kommen vor und werden schlaglichtartig beleuchtet, wobei auch Banalitäten aufgewertet werden, wie der Verfasser selbstkritisch bekennt.

Halten wir uns zuerst an die Namen von Landschaften und Städten. Amerika - "Was für eine Herrlichkeit! Was für ein Elend!" - wird erwähnt, ebenso Berkeley, wo Milosz als Literaturprofessor lehrte, auch litauische Dörfer und Städte, ferner Inverness und Los Angeles. In Frankreich sieht Milosz ein Synonym für westliche Kultur. Ein Abschnitt ist Ponary gewidmet. Um 1820 war Ponary, laut Milosz, ein beliebtes Ziel für Landpartien. Aber die Geschichte menschlicher Barbarei habe diesem Namen ein Stigma des Grauens zugefügt, denn die Deutschen hatten Ponary zum Ort von Massenexekutionen, hauptsächlich von Juden, auserkoren. Dieses Bild aus seiner Jugend sei schwer zu bewahren, da es den Assoziationen einer jüngeren Generation entgegenstehe.

Polnische und internationale Zeitgenossen, Freunde, Feinde, Kollegen tauchen auf, wobei der Dichter aus seinen Sympathien und Antipathien keinen Hehl macht. Simone de Beauvoir mochte er ebenso wenig wie Sartre, der dem an den Segnungen des Kommunismus zweifelnden Camus die Freundschaft aufgekündigt und ihn befehdet hatte. Für ihn selbst sei die Freundschaft mit Camus, schreibt Milosz, "ein Geschenk" gewesen.

Schopenhauer wird ausführlich gewürdigt, denn auf die Lektüre seiner Werke hatte sich Milosz in Amerika zurückgezogen - nachdem er sich vom begeisterten Hegelianer zu einem christlichen Skeptiker gewandelt hatte. Die beiden christlichen Pessimisten, Simone Weil und Lew Schestow, die der Welt jeglichen Sinn absprachen und sich die Grausamkeiten in der Welt sehr zu Herzen nahmen, werden genannt, ebenso Robert Frost, der "die grausamen Wahrheiten über das Leben ungeschminkt" beschrieb, Arthur Koestler, den Milosz 1951 in Paris kennen gelernt hatte, Manès Sperber und viele andere. Nebenbei verrät der Schriftsteller, warum er nie daran gedacht hat, ein Buch über Dostojewski zu schreiben. Ihm fallen aber auch andere Personen ein, die keiner kennt und die dennoch für ihn wichtig waren, zum Beispiel das Flüchtlingskind Lena, dem er mit sechs Jahren begegnet war - "es war meine erste Faszination" oder seine erste Liebe zwei Jahre später zu einem kleinen Mädchen, das nicht viel älter war als er selbst damals.

Hin und wieder nimmt der Dichter philosophische, soziologische und andere Stichwörter unter die Lupe wie Hass, Ruhm, Wahrheit, Zeit, Vorurteile und Fanatismus. Unter dem Stichwort "Angst" beleuchtet er Varianten der Angst. Die Biologie hält er für die dämonischste aller Wissenschaften, weil sie unseren Glauben daran untergräbt, dass der Mensch zu Höherem bestimmt sei. Er geißelt das Herdendenken der Linken, aber auch Dummheit und eingeschränkte Vorstellungskraft des Westens, für den lange Zeit die östlichen Völker gar nicht existierten. Dann wieder preist er die Schönheit des Daseins und rät, Distanz zu bewahren gegenüber der Welt des Willens, gegenüber irdischen Dingen, gegenüber dem eigenen Schicksal und gegenüber sich selbst. Denn: "Distanz ist die Seele der Schönheit".

Unter dem Terminus "Ekel" stellt Milosz Überlegungen über das Unerträgliche der menschlichen Existenz an und meint, man solle Menschen in einen Kokon aus Illusionen verpacken. Melvilles "Bartley" beispielsweise habe der allgegenwärtige Existenzkampf derartig angewidert, dass er es vorgezogen habe zu sterben.

Doch unter dem Begriff "Illusion" fragt er sich, ob Liebe am Ende nur etwas sei, was man sich ebenso einredet wie vielleicht den Glauben an eine Fahne, eine Ideologie oder einen Führer. Immerhin sei es deprimierend, dass sich der Mensch ständig in eingebildeten Wirklichkeiten verfängt.

Unter "Ehrgeiz" gesteht Milosz, dass er sich auf der Erfolgsleiter sowohl ganz oben als auch schon ganz unten befunden habe, und verrät einige Seiten weiter, dass er zuerst als Lyrik-Übersetzer und gegen Ende der siebziger Jahre auch als Dichter langsam Berühmtheit erlangt habe.

Als der Schriftsteller sein ABC zu entwerfen begann, wollte er echte Menschen und reale Fakten darstellen und sich dabei an die Wahrheit halten und ehrlich sein. Doch erkannte er bald, dass der gute Wille allein nicht ausreicht. Selbst wenn wir uns noch so bemühten, könnten wir nie mit Sicherheit sagen, wie es wirklich war.

Bruchstückhaft und farbig enthüllt sich dem Leser nach und nach Milosz' Leben in seiner Kohärenz. Über seine Vorfahren, schreibt er, diese hätten Geld gehabt, weil sie Bauern für sich arbeiten ließen. Sein Vater allerdings sei finanziell glücklos gewesen, so dass in seiner Wilnaer Schulzeit er eher arm als wohlhabend gewesen sei. Scham über die eigene Abstammung von einer Familie, die seit Generationen von der Arbeit anderer gelebt hatte, hatte 1945 zu Milosz' "Links-Orientierung" geführt. Letztlich jedoch habe ihm weder das kapitalistische System in Amerika noch der Kommunismus im Osten gefallen. Auf dem Uni-Campus entdeckte der Autor sein Talent als Lehrer. Erst dann kamen die Ehrungen und Preise, die er wohl nie bekommen hätte, wenn er in Europa geblieben wäre. Oft staune er selber über sein Glück, "denn ich bin wie eine Katze immer auf allen vier Pfoten gelandet." Sein Lebenslauf, der merkwürdigste, der ihm begegnet sei, habe eine gewisse Ähnlichkeit mit dem des "Hans im Glück" aus dem Märchen. Auch er, Czeslaw Milosz, sei ein "Glückspilz", der, wie manche seiner Feinde behaupten, die Heimat gegen einen Koffer eingetauscht habe, angeblich sei er auch ein hartnäckiger Nonkonformist, ein Widerspenstiger, obwohl eigentlich noch immer der brave Bub und Pfadfinder in ihm stecke. Zudem betrachte er es als großes Glück, nie in die Fänge der Polizei geraten zu sein, in denen viele zerbrachen. Über die rätselhaften Launen des Schicksals könne er nur schmunzeln, gleichzeitig frage er sich, ob er auch ohne Verletzungen und Groll kreativ tätig gewesen wäre. Wie dem auch sei, man müsse auf jeden Fall versuchen, das Leid in Grenzen zu halten. In diesem Zusammenhang erinnert Milosz an die anhaltende Aktualität Hiobs und kommt zu dem Schluss, dass man dem Unglück Kraft und Aufmerksamkeit schenken solle. Das einzige, was man zur eigenen Verteidigung hervorbringen könne, sei dies: "Ich will leben."

Außerdem stellt der Dichter lakonisch fest: "Das Leben mag den Tod nicht", und: "Das Gegenteil von Neugierde ist Langeweile." Nur wer glaubt, dass es nichts mehr zu entdecken gibt, leidet an Langeweile und merkt nicht, dass er sich irrt. An einigen Stellen macht er sich Gedanken über Vergänglichkeit und Sterblichkeit, über das Verschwinden von Zeit, Menschen, Tieren, Bäumen, Landschaften und anderen Dingen. Vielleicht muss man so alt und weise wie Milosz werden, um ausrufen zu können: "Als Mensch unter Menschen zu leben ist etwas Wunderbares." Wir wüssten zwar, zu welchen Gemeinheiten und Verbrechen der Mensch imstande ist, aber da Widersprüchlichkeit offensichtlich zum Menschsein gehöre, sei auch Wunderbares entstanden. Zwischendurch schimmert es immer wieder durch, dass Milosz sein Leben lang am Gottesglauben festgehalten hat, auch wenn es heute, laut Milosz, üblich geworden sei, Gott mit den schlimmsten Worten zu schmähen. Doch "der Anstand gebietet es, dass ich, der all diese Prüfungen, die eigentlich über meine Kräfte gegangen waren, heil überstanden habe, an Gott glaube. Aus Dankbarkeit."

Titelbild

Czeslaw Milosz: Mein ABC. Von Adam und Eva bis Zentrum und Peripherie.
Übersetzt aus dem Polnischen von Doreen Daume.
Carl Hanser Verlag, München 2002.
180 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-10: 3446201335

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