Ruhiger, weiter, traumtief

Der zweite Erzählband von Judith Hermann

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Judith Hermann hat ihr zweites Buch veröffentlicht. "Nichts als Gespenster" besteht erneut aus Erzählungen, im Schnitt jedoch doppelt so lang wie die in "Sommerhaus, später". Keine Besprechung wird darum herum kommen, den außergewöhnlichen Erstling vergleichend mitzulesen. Daher die Essenz des Vergleichs gleich vorweg: weiter, die Erzählungen sind weiter geworden. Nicht nur im Umfang, auch in der Sprache, die weniger verdichtet ist. Dabei verringert die Ruhe vielleicht die Dramatik, nicht jedoch die Intensität. Und ein wenig ernster sind die neuen Erzählungen, auf dezentere Weise skurril als zuvor die Bali-Frau oder Markus Werner, aber nicht weniger humorvoll.

Deutlich erkennt man die unverwechselbare Stimme der Autorin wieder: "... sie hätte ihm durch den Spalt der Jalousie hinterhergesehen, sie hätte das Motorgeräusch hören können, leiser und leiser, dann wäre es wieder still gewesen. Er ist nicht ohne sie losgefahren und all das ist nicht wichtig, aber Ellen weiß es noch, sie sieht es in scharfen, hellen Bildern vor sich, so, als hätte in Austin, Nevada, alles eine Bedeutung gehabt, aber so ist es nicht gewesen, nicht ganz." - Die traumtief versunkene Erzählhaltung ahnt mehr als sie tatsächlich weiß und gibt sich dem Sog dieser Ahnung hin.

Stilbewusste Abweichungen von normaler Sprache finden sich fast gar nicht mehr ("Ellen sagt später gerne, sie sei einmal in Amerika gewesen..."), dagegen noch häufiger das, was Moritz Baßler in seinen Studien zur jüngsten deutschen Literatur mit je ne sais quoi charakterisierte: "Ich wußte nicht, was ich machen soll, mit mir, mit dem Kleid, mit Johannes, mit allem. Ich wußte nicht, ob das traurig war oder nicht traurig oder gar nichts."

Das hat in Judith Hermanns Erzählwelt noch immer seinen Platz, genauso wie der tiefe Blick ins Innere ihrer Heldinnen. Die Autorin widmet sich den kleinen, unmerklichen und doch existentiellen Veränderungen und Einschnitten im Lebensweg, die, will man sie aussprechen, zur "lächerlichen Erkenntnis" werden, "daß man nichts erzwingen kann, am allerwenigsten so etwas wie die Liebe". Aber sie vermag den Unterschied einsichtig und spürbar zu machen zwischen einer Figur, die den notwendigen Vollzug einer "lächerlichen Erkenntnis" erlebt, und der Erkenntnis selbst.

Die meist scheiternde Suche nach "so etwas wie Liebe" ist auch in "Nichts als Gespenster" der Hintergrund, der virtuos variiert wird. Und nach wie vor ist es das einzigartige Talent der Autorin, die Gefühlslagen der Figuren - seien sie vage, ambivalent, zerrissen, sehnsüchtig, hoffend, winselnd oder gleichgültig - nuanciert, bestechend klar und plastisch darzustellen, ohne sie dabei zu interpretieren oder gar mit Begriffen zu etikettieren und zu überdecken.

Mit 'Liebe' ist das Thema der Geschichten jedoch nur unzureichend benannt. Die Sehnsucht lässt Judith Hermanns Figuren zwar auf die Suche, meist auch auf Reisen gehen; die Geschichten selbst aber handeln von Verrat, von den Generationen, vom Sich-Einrichten, auch dem Einrichten der Liebe in einem vergänglichen Leben. Und eine Geschichte porträtiert so zärtlich wie klarsichtig eine Eltern-Kind-Beziehung, an deren Ende die Eltern als sterblich erkannt werden. Solche Themen werden von der Autorin jedoch nicht plakatiert, sie ergeben sich vielmehr so sacht wie nachhaltig aus dem Erzählen heraus, "leicht wie eine Feder, eindeutig und ohne Schmerz, das ist das Schrecklichste, absolut schmerzlos".

Die Heldinnen in "Nichts als Gespenster" sind ausschließlich junge Frauen. Figuren wie Koberling und Hunter Tompson aus Erzählungen, die zu den eindrucksvollsten in "Sommerhaus, später" gehören, fehlen; das macht die Geschichten gleichförmiger, das Blickfeld des Buches in dieser Hinsicht enger.

Dann ist da noch die ausschließliche Privatheit der Freundeswelten, in denen sich die Figuren bewegen: Was ist das für eine Wohngemeinschaft, in der ein leer gewordenes Zimmer nicht weitervermietet werden muss, sondern mit einem nostalgischen Super-8-Projektor besetzt werden kann? Wie lebt eine Frau, die es sich "oft" leisten kann, eine "orientierungslose, zähe Woche lang" in einer fremden Stadt herumzulaufen? Für den Mangel an sozialer Eingebundenheit wurde bereits "Sommerhaus, später" kritisiert. Nun, da die Geschichten umfangreicher und die Heldinnen erwachsener geworden sind, erscheint er tatsächlich bisweilen, wenn auch selten, als unwirkliche Leerstelle.

In der Titelgeschichte "Nichts als Gespenster" erlebt Ellen nach Wochen der Trostlosigkeit mit ihrem Geliebten einen Abend, an dem sie das erste Mal wieder einen Halt finden. Am nächsten Tag scheint die "übelkeitserregende Zigarette" von dieser Veränderung nicht mehr übrig zu lassen als "Kopfschmerzen". Also doch wieder nur schrecklich schöne und vergebliche Sehnsucht... Doch dann, gleichsam aus dem Nichts, erfährt man, dass mehr als eine Erinnerung ("du weißt nicht - an was?") geblieben ist, dass es vielmehr einen "silbrigen Streifen", eine Spur gibt, die - wie? - zu einem Kind führt, das mit seinen Eltern gemeinsam zu Abend isst. Die Autorin hat das Buch ihrem Kind gewidmet.

"Nichts als Gespenster" steht nicht im Schatten des Erfolgs. Das Buch grenzt sich gegen "Sommerhaus, später" glücklicherweise weder ab, noch ist es gleichartig. Es ist, schlicht gesagt, das überzeugende, wiederum eindringliche, nun weitere Buch einer hervorragenden Autorin.

Titelbild

Judith Hermann: Nichts als Gespenster.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
256 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 310033180X

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