Aus Charons Schatten oder Wie übersetzt man den 'senecanischen Komparativ'?

Durs Grünbeins grandiose Übertragung von Senecas "Thyestes"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Durs Grünbein hat in seinen Gedichten wiederholt, vor allem in denen, die er 1999 in dem Band "Nach den Satiren" versammelt hat, antike Themen behandelt. Dabei hat er mit geschichtsphilosophischem Anspruch und in ernüchternder Diktion in erster Linie auf die römische Geschichte zurückgegriffen. In mehreren Gedichten auf die Kaiserzeit zwischen Tiberius und Julian Apostata reflektiert er über die Sinnlosigkeit und Grausamkeit von Krieg und Politik, sieht Rom als Modell für die verfallende Gesellschaft. Er bezieht sich auf kynisches und frühchristliches Gedankengut sowie auf die nachklassische römische Literatur. Im titelgebenden Abschnitt "Nach den Satiren" hat sich Grünbein expressis verbis in die Nachfolge Juvenals gestellt, was er in einem Interview unterstreicht: "Für mich sind Dichter wie Horaz und Juvenal nicht irgendwelche lateinischen Klassiker, sondern sie haben mir direkt etwas zu sagen."

Vor einem Jahr wagte Grünbein einen Ausflug in die Welt der griechischen Tragödie, als er eine viel beachtete und zu Recht gerühmte Übertragung der "Perser" des Aischylos vorlegte. Er brachte den konzentrierten kleinen Text unter Verzicht auf beflissene Aktualisierung oder 'modernen' Jargon kräftig zum Klingen und evozierte die 'Wahrheit' der Poesie. Aus guten Gründen zwang er dem antiken Text keine Reimform auf, sondern übersetzte glücklich in rhythmisierter Form, die nichts Gesuchtes hat. Diese Übertragung ist weder populistisch noch hermetisch verschlossen, sondern erinnert in ihrer Nüchternheit, die ohne didaktisches Gerassel auskommt, an die hohe Kunst von Heiner Müllers Sophokles-Arbeiten. Das ist ein bewunderungswürdiger, gleichwohl schwer nachzuahmender Umgang mit alten Texten. Heiner Müller hatte einst "dem Westen" vorgeworfen, er habe "für die tragische Dimension der Geschichte" "keinen Blick, nur den sentimentalen". Grünbein, daran besteht kein Zweifel, hat den Blick für das Tragische.

Das belegt nun die jüngst erschienene metrische Übertragung von Senecas "Thyestes" (die erste seit Ludwig Uhland) in ein heutiges Idiom, das frei ist von allen Aktualismen. Mit der gleichzeitigen Mannheimer Aufführung der Tragödie widerspricht Grünbein auch der Wertung des "Thyestes" als reinem Lesedrama. In dem oben erwähnten Gespräch mit Thomas Irmer hebt er hervor, Seneca baue wie ein moderner Dramatiker seine essayistischen Gedanken in den Dramentext ein, so dass das Stück zum "Transportmittel stoischer Propaganda" wurde: "Und warum sollte er, was er sonst in Briefen formulierte, in die Tragödie einbringen, wenn es nicht für Aufführungen bestimmt war?"

Dabei hat es der Stoff zweifelsohne in sich, gehört der Machtkampf der beiden Brüder Atreus und Thyestes, den Seneca zum Gegenstand seiner Tragödie gemacht hat, zu den großen Stoffen der griechischen und römischen Literatur. Er ist Mittelstück der unheilvollen Geschichte des Atridenhauses, die nach fünf Generationen mit der von Pallas Athene bewirkten Freisprechung des Orest vor dem Areopag in Athen endet. In der peloponnesischen Sage töten Thyestes und Atreus den Stiefbruder Chrysippus. Von Pelops vertrieben, kommen die beiden nach Mykenai. Der dortige Streit führt dazu, dass Thyestes sich des goldwolligen Widders als Herrschaftssymbol bemächtigt. Thyestes wird jedoch aufgrund eines von Zeus bewirkten Zeichens entdeckt und mit seinen Söhnen verbannt. Atreus' Rachegelüste - an dieser Stelle setzt das senecanische Stück ein - sind jedoch nicht gestillt. Er lockt den Bruder unter dem Vorwand, er sei bereit, die Herrschaftsmacht mit ihm zu teilen, nach Mykenai zurück. Bei der berüchtigten cena Thyestea, die Atreus dem Bruder aus Rache bereitet, isst Thyestes seine eigenen, vorher von Atreus getöteten Kinder. Die lange Reihe der griechischen Autoren, die den Stoff bearbeitet haben, reicht von Sophokles, für den gleich drei "Thyestes"-Dramen bezeugt sind, über Euripides, auf dessen Bearbeitung wahrscheinlich Senecas Stück zurückgeht, und Agathon bis zu den Autoren der nachklassischen Tragödie, zu Apollodoros, Kleophon und Diogenes von Sinope. Bei den römischen Tragikern hat diese monströse Geschichte um Ehebruch und Bruderkampf, Kindermord und Kannibalismus offenbar noch größeren Anklang gefunden, die Kette der Bearbeiter reicht von den beiden großen republikanischen Tragikern, Ennius und Accius, über Varius und Gracchus in augusteischer Zeit bis zu Aemilius Scaurus und Pomponius Secundus, Curiatus Maternus und schließlich Bassus, Ligurinus und Rubrenus Lappa in der frühen Kaiserzeit. Erhalten ist aus dieser langen Reihe der griechischen und römischen Tragödien allerdings nur der "Thyestes" des Seneca, alle anderen Stücke sind verloren.

Seneca ist der einzige römische Autor, dem die Nachwelt sowohl Dichtungen als auch Prosatexte verdankt. Er hat sich in Wortwahl, Wortstellung und Syntax an die für einen jeden Bereich maßgeblichen Konventionen gehalten; die Sprache seiner Tragödien unterscheidet sich demgemäß deutlich von der seiner philosophischen Schriften. Dennoch verbietet es sich, eine eindeutige Trennung zwischen Seneca philosophus und Seneca tragicus vorzunehmen, zumal Poesie und Prosa schon in augusteischer Zeit begannen, einander näher zu kommen. Dahinter stand als prägende Instanz die Rhetorenschule; ihre Entwicklung zum Affektierten und Pathetischen, zum Pointierten und Manieristischen färbte auf die gesamte Literatur ab, die damals entstand. Sie vermittelte einen Standard des Sprachlichen, dem ein hohes Maß an Künstlichkeit eignete, sie brachte einen Zeitstil hervor, der schon durch die geistreiche Form imponieren wollte. Daneben enthalten die Tragödien Senecas stoische Lobgesänge auf die Genügsamkeit, gewürzt mit heftiger Kritik am Übermaß der zivilisatorischen Genüsse. Sie erschöpfen sich nicht, wie Manfred Fuhrmann bereits bemerkte, in der Illustration philosophischer Lehrsätze, sondern besitzen eine dichterische, symbolische Kraft, die weit darüber hinausgeht. Gleichwohl sind sie kein für sich stehender Teil von Senecas Gesamtwerk. Sie wollen in höherem Maße belehren und erziehen als fesseln und unterhalten. Die Querverbindungen zwischen den beiden Corpora sind allerdings offenkundig: Der Zorn und das Rasen der Tragödienfiguren lassen sich durch die Erkenntnisse der Schrift "De ira" (zwischen 41 und 52 n.Chr.) erläutern und umgekehrt, der Fürstenspiegel "De clementia" (55/56) oder die "Epistulae ad Lucilium" (zwischen 62 und 64) enthalten Maximen in Fülle, die sich auch in den Tragödien wieder finden.

Als Bindeglied zwischen dem mythischen Geschehen und der philosophischen Reflexion dient vor allem der Chor, der in seiner überlieferten Form dem Dichter-Philosophen ein ausgezeichnetes Vehikel bot, seinen Überzeugungen in kaum verhüllter Direktheit Ausdruck zu verleihen. Deutlich wird dies im 2. Chorlied (V. 336-403) des "Thyestes", in dem der Chor über die wahre Königsherrschaft sinniert. Prägnant ist die stoische Färbung des Lieds: das gilt für die Definition des wahren Königs als desjenigen, der Macht und Reichtum verachtet und so Herr ist über sich selbst und seine Begierden. Grünbein übersetzt hier: "Welcher Furor treibt euch von alters her,/ Einer des andern Blut zu vergießen,/ Ums Szepter zu ringen, gewaltsam?/ Wißt ihr nicht, gierig nach Burgen,/ Worin wahre Herrschaft besteht?/ Nicht Reichtum macht einen König,/ Nicht die Robe in tyrischen Farben,/ Auf der Stirn die Insignien der Macht,/ Nicht mit goldenem Prunk die Paläste:/ König ist, wer von Angst befreit hat,/ Von Bosheit sein grausames Herz. [...] König ist, wer vor nichts sich fürchtet./ König ist, wer nichts Fremdes begehrt./ Königsmacht wächst ihm zu von allein./ Wers braucht, steige, berstend vor Kraft,/ Hoch auf schlüpfrigen Gipfel hinauf./ Ich aber wünsche mir süße Ruhe./ Geboren im Dunkeln und ohne Ansehn,/ Ist ein ruhiges Leben mir, ein geringes, lieb."

Neben der Herrschaftsethik sind deren größte Gefahr, die Leidenschaften, ein Hauptthema der Tragödie Senecas. Der Mitvollzug des Wütens der Affekte, wie es die Dramenfiguren vorführen, soll den Leser oder Zuschauer gleichsam immunisieren, er soll ihm durch die Betrachtung abstoßenden Fehlhandelns dem stoischen Ideal der Apathie näher bringen. Als Schilderer der Leidenschaften und grausamer, abstoßender, widerlicher Schilderungen (etwa die Einbeziehung der Entleibung, der Verstümmelung und Zerstückelung in die Bühnenhandlung) ist Seneca Nachfolger des Euripides. Er hat indes ins Kolossalische gesteigert, was er dort vorfand. Bernd Seidensticker spricht in seinem kundigen Nachwort zu Grünbeins Übertragung zu Recht davon, dass Seneca "die Leidenschaft seiner Geschöpfe für das maius solito et amplius, für das, was 'größer ist und kühner als das Normale' teile. Immer sei er auf der Suche nach einer Pointe oder überraschenden Paradoxie, nach einer knappen Sentenz. Hier liegt für Seidensticker "die Wurzel des 'senecanischen Komparativs', dessen stilistischer Aspekt sich aus den Tendenzen der Rhetorik und Poetik der frühen Kaiserzeit erklären lässt. "Die erschreckende Verbindung von kalter Rationalität und leidenschaftlicher Erregung, das unersättliche Jagen von einem emotionalen Höhepunkt zum anderen, das ständige sich Anspornen und Überbieten, Verwerfen und erneute Überbieten erzeugen eine Atmosphäre nervöser Ruhelosigkeit und den Ton eines schrillen Fortissimo und ist damit perfekter Ausdruck der dargestellten zerstörerischen Affekte: dolor, ira und furor: Schmerz, Zorn und Raserei, die der senecanischen Tragödie das ihr ganz eigene und unverwechselbare Gepräge geben."

Durs Grünbein verweist in einem Gespräch mit Thomas Irmer, das im Anhang abgedruckt ist, auf den hier zu beobachtenden Wechsel von Mythologie in Anthropologie. Es gehe Seneca "um die Mechanik menschlicher Konflikte, um die Konstellationen und Handlungsweisen der Mächtigen. Die Macht wird auf physiologischer Ebene behandelt." Vor allem im "Thyestes" stehe eine "Politik des Zorns" im Mittelpunkt: "Der Zorn ist der Hauptaffekt in dem ganzen Stück, wie auch in den philosophischen Schriften Senecas. Zorn, Jähzorn und Rachegelüste sind elementare Antriebsmittel der Politik. Seneca geht von einer Politik des Hasses aus und verlegt diesen Konflikt in die Familie. Der Bruderhaß ist sozusagen das kleinste Hassmolekül. Es stiftet actio und reactio zwischen den Blutsverwandten. Er ist der Keil, der die Gesellschaft von oben her sprengt."

Studierte Kenner des Lateinischen werden wohl dennoch an einigen Stellen zusammenzucken, etwa wenn Grünbein das Ende des dritten Chorliedes mit seinen Überlegungen zur Unbeständigkeit des menschlichen Lebens (V. 596-622) - "res deus nostras celeri citatas/ turbine uersat." - wie folgt übersetzt: "In rasendem Wirbel treibt alle die Menschen und Dinge/ Gott, die Turbine". Gott, das alles durcheinander wirbelnde Düsenstrahlwerk - diese und ähnliche markante Verheutigungen klingen mitunter etwas gewagt, aber durchaus erfrischend. Auch die grandiose Übersetzung der "cena Thyestea" bietet so manches Kleinod, etwa wenn Atreus in seiner Teichoskopie die Tafelfreuden des Bruders schildert: "Und los geht's. Da ist er, der Saal, prächtig im Fackelschein./ Seht doch, er rekelt sich, wälzt sich auf purpurnen Kissen./ Schwer ist vom Weindunst sein Kopf, er muß ihn stützen./ Träum ich? Er rülpst! O höchster der Götter ich,/ König der Könige, das übertrifft selbst den kühnsten Wunsch./ Ich seh, er ist satt. Greift sich den Silberkrug und spült nach - / Nur nicht gespart, noch gibt's genug zu saufen hier, literweise,/ Becher voll Opferblut, ununterscheidbar von Rotwein./ Nur einen Becher noch, einen, dann ist Schluß mit dem Fest./ Aus eignem Weingut geschlürft, wetten?/ Hört ihr, er räuspert sich:/ Gleich wird er singen. Stimmung! Er wankt, hemmungslos blau [nec satis menti imperat]."

Grünbein bevorzugt für seine Übersetzungsarbeit das Wort "Wiedergabe", hinter dem ein interessantes Wortspiel steckt, wird der Übersetzer doch zunächst zum "Echo, einem möglichst getreuen Echo, und er zieht sich auch zurück, denn er erhebt keinen Anspruch auf absolute Originalität. [...] Wenn man ganz strikt übersetzen würde, müsste der Text von 'Thyestes' eigentlich noch viel monotoner sein, denn es war schon ein Zugeständnis an den Zeitgeist, bestimmte häufig wiederkehrende Begriffe wie Zorn oder Schmerz überhaupt zu variieren." Man kann der Übertragung Grünbeins an vielen Punkten dessen lange Beschäftigung mit dem Werk des römischen Philosophen ablauschen. An anderer Stelle hat Grünbein treffend die Übersetzung mit dem mythologischen Bild der Überfahrt ins Totenreich verglichen und Charon, den mürrischen Unterweltfährmann als höhnisches Vorbild aller Übersetzer gepriesen: "Kein Übersetzer, ganz gleich wie einfühlsam oder professionell er auch vorging, trug seine heikle Fracht je unbeschädigt ans andere Ufer; keiner trat jemals völlig aus Charons Schatten. Es nützt nichts, dem Publikum etwas vorzumachen, hier geht es um Leben und Tod. Oder anders gesagt: um das seelische Ganze und seine Rekonstruktion in entstellter Form, um den lebendigen Leib und seine Einbalsamierung zur Mumie." Mit Bezug auf Ossip Mandelstams Bild von dem Gedicht als "ägyptischer Totenbarke", in der alles für das Leben bereitgelegt sei und nichts vergessen würde, gelangt Grünbein zu dem eher ernüchternden Ergebnis: "Jeder Versuch, jene Barke zu rekonstruieren, musste schief gehen. Beim Übersetzen in fremde Gewässer verlor sie noch jedes Mal einen Teil ihrer ursprünglichen Fracht."

Dieser bescheidenen Geste zum Trotz gibt es in Durs Grünbeins Übertragung des "Thyestes" keine Zeile, die nicht Seneca, die nicht große Tragödie wäre. Er hält deren hohen Ton auch und gerade dann, wenn er sich auf die Suche nach der senecanischen Dramaturgie des Crescendo, der fiebrigen Atmosphäre, des schrillen Tons sowie der rasenden Leidenschaft des macht. Damit wird der "Thyestes", wie Bernd Seidensticker treffend hervorhebt, zu "eine[r] Art ästhetisch-literarische[m] Gladiatorenspiel". Durs Grünbeins grandioser und kongenialer Übertragung ist es zu verdanken, dass dieser Text, Ausdruck und Spiegel seiner Zeit, einer Zeit, die so viele Züge mit der unseren teilt, wieder neu zu bewundern ist. In genau diesem Sinne wird das übersetzte Fremde zum Eigensten.

Titelbild

Seneca: Thyestes. Deutsch von Durs Grünbein. Mit Materialien zur Übersetzung und zu Leben und Werk Senecas.
Herausgegeben von Bernd Seidensticker.
Übersetzt aus dem Lateinischen von Durs Grünbein.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
182 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3458171142

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