Cuncta fluunt

Volker Riedel untersucht die Antike-Rezeption in der deutschen Literatur

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ovids "Metamorphosen" lesen sich, so könnte man sagen, als eine "Grammatologie" der alten Welt. Was sich bei Derrida als die (postmoderne) Dekonstruktion aller logozentrischen Bedeutungen, des hermeneutischen Sinnhorizontes, erweist, ist in dem die Logik verabschiedenden Verwandlungsspiel Ovids präfiguriert. Ovid gibt die Unerreichbarkeit jeden Anfangs und damit jeder Hier-Archie vor allem dadurch zu verstehen, dass alle Anfänge aitiologische Geschichten sind und damit auch schon ihre Geschichte haben, mithin kein Anfang sind. Ovids Beginn ("In nova fert animus mutatas dicere formas/ corpora") setzt schon die Existenz von Formen und Körpern voraus, ebenso wie das anfängliche Chaos bereits die in sich zerstrittenen Keime der Dinge ("semina rerum") enthält und damit seine Geschichte hat. Erde, Wasser und Luft sind weder im endgültigen noch im ersten Aggregatzustand: "nulli sua forma manebat". Gerade diese Einsicht formuliert aber auch Pythagoras am Ende der "Metamorphosen" wieder: "Omnia mutantur, nihil interit", so dass sich zwischen Anfang und Ende nichts verändert, gerade weil sich immer alles verändert ("cuncta fluunt"). Der vermeintliche Anfang ist ein Beginn medias in res, das Ende ein willkürliches Abbrechen auf halber Strecke, und das anfangs wohl aus Gründen politischer Opportunität formulierte genealogisch-geschichtsphilosophische Programm "primaque ab origine mundi/ ad mea [...] tempora" wird gründlich unterlaufen, alle Entwicklung explizit bestritten, denn Anachronismus, nicht Historizität, ist das Gesetz dieses Textes.

Die Formel vom a-logischen Immer-Schon-Begonnen-Haben stellt die Brücke zwischen antiker Mythologie und postmoderner Spurensuche dar, die sich überdies in der Konfiguration des Spieles treffen, wenn das Spiel die Abwesenheit des transzendentalen Signifikats bedeutet. Indem die "Grammatologie" das Signifikat immer schon in die Position des Signifikanten bringt und solchermaßen die Ur-Schrift, die kein Anfang ist, als eine Bewegung der différance, als Eröffnung der 'ursprünglichen' Äußerlichkeit liest, lässt sie sich nicht mehr auf die für den 'Logozentrismus' maßgebliche Form der Präsenz reduzieren. Der Spielcharakter der "Metamorphosen" bestünde gerade darin, dass sie nicht durch ein Modell der Präsenz, das letztlich durch den unendlichen Verstand (eines) Gottes legitimiert ist, organisiert sind, sondern allenfalls entlang dem fluktuierenden Modell einer Varianz geschrieben sind, die alle Präsenz in Abwesenheit, alle Abwesenheit in dann erneut bestrittene Präsenz verwandelt. Die Fluktuation der Antike zwischen An- und Abwesenheit in der (Post-) Moderne ist auch Thema von Christoph Ransmayrs brillantem Roman um Ovid ("Die letzte Welt", 1988), dessen kritische Haltung zwar nicht von Anpassungsversuchen und zeitweiliger Vereinnahmung frei gewesen ist, der aber schließlich als Dissident und Opfer eines Tyrannen nach Tomi verbannt worden ist. Der Erzähler, Cotta, bricht aus Rom auf, um Aufklärung über das Schicksal des Dichters zu erhalten und um festzustellen, ob die "Metamorphosen" tatsächlich vernichtet worden sind. Cotta jedoch vermag weder Ovid noch den geschriebenen Text der "Metamorphosen" aufzuspüren; die Ovidsche Dichtung konstituiert sich vielmehr aus dem Ovidschen Leben und aus den Recherchen des Erzählers. Aus dem beigegebenen "Ovidschen Repertoire" lässt sich der Kontrast zwischen der Entwicklung der Welt vom Chaos bis zur Zeit von Caesar und Augustus und der Erstarrung der Geschichte in einer Welt erkennen, die die augusteische Vergangenheit und die moderne Welt der Technik und des 'Totalitarismus' in eins setzt. Alle Bilder und Erfahrungen werden austauschbar, jeder Sinn der Geschichte erlischt.

Ransmayrs Roman ist wiederholt als das wichtigste Zeugnis der so genannten Postmoderne in der literarischen Antike-Rezeption gedeutet worden. Hier werden der Verlust der Historizität - es gibt lediglich noch eine Geschichte unserer Vorstellungen, Bilder, Erzählungen und Stereotypen -, die Aufhebung traditioneller Bedeutungszusammenhänge, der Verzicht auf die Vorstellung eines schöpferischen Ichs und auf dessen Korrelate in Kunst und Literatur, die Fragmentierung und Dissemination der Ereignisse, die Dominanz von Intertexten, Imitationen und Mehrfachbedeutungen sowie der Bezug nicht auf die Wirklichkeit, sondern auf bereits vorhandene künstlerische Systeme thematisiert, die ihrerseits bereits ausdifferenziert oder erweitert werden. Ist die Antike an ihr unwiderrufliches Ende gelangt? Dem steht in jedem Fall entgegen, dass das 20. Jahrhundert ungeachtet seiner deutlichen Abkehr von den 'Humaniora', der Historisierung und Problematisierung der Denkweise und seiner ausgesprochenen Antikeferne mehrere gewichtige Texte hervorgebracht hat. Es ist dabei durchaus verständlich, dass die Rezeption der Antike im letzten Jahrhundert weder eine Rückkehr zur Norm- und Musterhaftigkeit antiker Vorbilder bedeutete, wie noch im 18. Jahrhundert, noch in der verklärend-idealisierenden Art Winckelmanns und seiner Nachfolger gesehen werden kann. Statt dessen dominierte ein kritisch-diskursiver Umgang mit den antiken Prätexten; die meisten Autoren haben das griechisch-römische Altertum als eine Zeit ungeheurer sozialer Spannungen gesehen, haben die Problemhaftigkeit der antiken Mythen hervorgehoben, die Konflikte psychologisch hinterfragt und die Antike weniger in 'apollinischem' als in 'dionysischem' Geist interpretiert.

Von diesen Spannungen zwischen Antike und Moderne berichtet die als Kompendium und Einführung angelegte Geschichte der Antike-Rezeption von der Mitte des 15. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts aus der Feder des an der Universität Jena lehrenden Altphilologen Volker Riedel, der sich durch zahlreiche Vorarbeiten und Publikationen zur antiken und deutschen Literatur und nicht zuletzt als Mitherausgeber des "Neuen Pauly" einen Namen gemacht hat. Die Untersuchung ist im Wesentlichen chronologisch aufgebaut und werkorientiert, so dass die erwähnten Autoren im jeweiligen historischen Kontext behandelt werden, über den zu Beginn eines jeden Kapitels kurz informiert wird. Bei Riedels Entreprise handelt es sich um den ersten, längst überfälligen Versuch einer Gesamtdarstellung der Antikerezeption in der deutschen Literatur seit etwa 150 Jahren - 1854/56 erschien die "Geschichte der deutschen Poesie nach ihren antiken Elementen" von Carl Leo Cholevius. Allen offenkundigen Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens zum Trotz hat Riedel oft die angemessenen Proportionen gefunden. Aus pragmatischen Gründen - vor allem wegen der Fülle des Stoffs - spart er die mittelalterliche Rezeption der römischen Antike aus und setzt erst bei den frühhumanistischen Autoren wie Albrecht von Eyb, Peter Luder, Heinrich Steinhöwel und Rudolf Agricola ein. Ebenfalls überzeugend ist Riedels Ansatz, sich weniger auf die Nachwirkung als auf die Rezeption zu konzentrieren. Daher steht nicht die Frage nach den Quellen und Einflüssen als vielmehr nach den "Funktionen antiker Sujets innerhalb der jeweiligen zeitgeschichtlichen Bedingungen und poetischen Konzeptionen" im Mittelpunkt der Betrachtung. Dem entsprechend erscheint für Riedel - in Anlehnung an Michael von Albrecht - "nicht Europa als Spiegel der Antike, sondern die Antike als Spiegel Europas". Allzu schematisch mutet jedoch die Periodisierung an, der der Aufbau des Buches folgt: Egal, ob Humanismus, Barock, Aufklärung oder Romantik, immer unterscheidet Riedel Früh-, Hoch- und Spätphase, auch wenn dies in vielen Fällen eine zum Teil gewaltsame Schematisierung zur Folge hat. Besonders dicht und gelungen aber ist die Antike-Rezeption innerhalb der DDR-Literatur dargestellt, über die Riedel selbst während seiner früheren Tätigkeit an der Akademie der Künste in der DDR zahlreiche Vorstudien veröffentlicht hat. Die Wahl antiker Stoffe, die ungebildeten politischen Kadern suspekt und unerwünscht war, galt durch Brecht und später vor allem durch Heiner Müller als gerechtfertigt und wurde von kritischen Autoren als Mittel genutzt, unbequeme Ansichten zu thematisieren oder wenigstens anzudeuten.

Angesichts der Fülle an sachdienlichen Informationen und interessanten Anschlussstellen zur Weiter-Lektüre, die Riedels Handbuch bietet, mahnt das römische Sprichwort "facile est inventis addere" den Kritiker bei der Beurteilung einer solchen Arbeit zur geflissentlichen Zurückhaltung. Daher sei auch darauf verzichtet, im Rahmen dieser Besprechung eine Liste der 'vergessenen' Texte oder Autoren einzuklagen. Gleichwohl sei kritisch angemerkt, dass der von Riedel wie ein roter Fader benutzte Begriff des "antiken Erbes" in den Augen des Rezensenten äußerst störend wirkt, vor allem deshalb, weil die kompromisslose marxistische Verdammung des ('bürgerlichen') Traditionsbegriffs und seine Substitution durch den (zuletzt ebenso bürgerlichen, aber weniger belasteten) 'Erbe'-Begriff eigentlich schon der Vergangenheit angehören. Mit dem unreflektierten Gebrauch dieses Terminus und seines biologistischen Subtextes fällt Riedel methodisch weit hinter die von der Forschung in den letzten Jahren erarbeiteten Positionen zur Kategorie der Tradition zurück, die sich in den historischen Wissenschaften, auch in Teilbereichen der Literatur- und Sozialwissenschaften, aus ideologischen und methodologischen Blockierungen zu lösen beginnt (vgl. etwa "Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung", herausgegeben von Wilfried Barner, München 1989). In diesen Arbeiten wird als Prämisse in Erinnerung gerufen, dass Tradition stets für jemanden (ein Individuum, eine Gruppe, eine Zeitgenossenschaft) Vorfindliches ist, etwas, das von jemandem (auch einer Institution) an jemanden überliefert wird.

In diesem Zusammenhang ist, wie Wilfried Barner zu Recht herausgearbeitet hat, ",soziales und literarisches Traditionsverhalten' selbstredend als Abbreviatur zu verstehen. Jeder Autor, jeder bildende Künstler steht mit seinem Werk immer schon in einem - wie auch immer - traditionsgeprägten sozialen Handlungszusammenhang. Er partizipiert an ethischen Wertvorstellungen seiner Gruppe, gar seiner Epoche, wird durch Marktphänomene geprägt, von denen er sich kaum per viam negationis zu dispensieren vermag. Aber im Hervorbringen eines literarischen Werks ist, zumindest in hochentwickelten Literaturen, stets auch ein Moment spezifischer Freiheit der Traditionswahl wirksam." Genau jenen wesentlichen dynamischen Aspekt des actus tradendi verdeckt aber der 'Erbe'-Begriff, da dem Literaturhistoriker - ähnlich wie dem Kirchen-, Bildungs- oder Verfassungshistoriker - alles daran gelegen sein muss, den jeweiligen Text als Hervorbringung eines sich zu Traditionen verhaltenden Autors, oder eine charakteristische Gruppe von Texten in der jeweiligen traditionalen Konstellation, so vieldimensional wie möglich zu rekonstruieren. In der beliebten Antithese von 'antik' und 'modern' rückt der 'Erbe'-Begriff erneut zu etwas Blockhaft-Statischem zusammen, das einer differenziellen geschichtlichen Erkenntnis von Traditionsprozessen diametral entgegensteht. Anachronistisch mutet es daher an, wenn Riedel in seiner Einleitung schreibt: "Tatsächlich ist das antike 'Erbe' nur dann lebendig, wenn wir es in seiner Verbindung mit der neueren Kultur sehen, und die Kultur sowohl der vergangenen Jahrhunderte wie der Gegenwart kann allein unter Beachtung ihrer antiken Wurzeln wirklich verstanden werden." Schließlich wertet Riedel den vielschichtigen Prozess des Wider-, Weiter- und Um-Schreibens antiker Texte und Stoffe als Weiterwirken des "antiken 'Erbes' innerhalb der kulturellen Überlieferungen der Menschheit": "Antikerezeption ist somit nicht eine lineare Beziehung zwischen antikem 'Erbe' und zeitgeschichtlicher Situation, sondern steht stets im Zusammenhang mit dem Weiterwirken antiker Paradigmata in späteren Epochen und in verschiedenen Kulturen." Die hier ansichtig werdende literaturtheoretische Patina verdeckt so manchen interessanten Aspekt, der im weiteren Verlauf der Arbeit überzeugend herausgearbeitet wird. Theorie und Praxis stehen in Riedels Untersuchung oft in einem schwer zu vermittelnden Verhältnis.

Diese kritischen Anmerkungen sollen allerdings nicht verhehlen, dass es Riedel gut gelungen ist, bei der Darstellung des Verhältnisses einzelner Epochen und Autoren zur griechischen und römischen Antike eine Reihe von Problemen scharfsichtig herausgearbeitet zu haben. Das betrifft vor allem die in jeder Epoche greifbare Spannung zwischen einer Anerkennung der Vorbildlichkeit der Antike und einem Bekenntnis zum Vorrang der eigenen Zeit, d. h. Fragen, die in dieser Vehemenz vor allem in der 'Querelle des anciens et des modernes' expressis verbis diskutiert wurden, die aber auch schon manchen Überlegungen der Renaissance (etwa bei dem leider etwas zu kurz gekommenen Johannes Reuchlin) zugrunde lagen und die um 1800 zu einer genuinen Charakterisierung der modernen Literatur, zu einer, wie Riedel hervorhebt, "Verlagerung des Akzents von der Gattungsnorm zur Motivrezeption oder sogar zu einer Verabschiedung der Antike führten." Damit im Zusammenhang steht für Riedel auch "die Frage nach dem Unterschied zwischen einer normativen und einer historisch-methodischen Geltung der Antike, zwischen Nachahmungspoetik und imitatio-Prinzip auf der einen und einer lebendigen Rezeptionsweise auf der anderen Seite, die primär auf die eigene Zeit gerichtet ist und die 'Alten' nicht als musterhaft schlechthin, sondern als Paradigmata für die Erfassung und Gestaltung der 'wirklichen Welt' betrachtet." Entscheidend für den Charakter der Antike-Rezeption in einer bestimmten Epoche oder bei einem bestimmten Autor ist natürlich die Frage, ob der actus tradendi sich auf die römische oder auf die griechische Antike (und dort wieder auf Sparta oder auf Athen) kapriziert. Ferner geht es Riedel um das Zwillingspaar 'Tradition' und 'Innovation', d. h. um eine Interpretation der Antike in vorgegebenen Bahnen, um das von Thomas Mann im Zusammenhang mit seinem 'Joseph' thematisierte 'Gehen in Spuren', oder um einen unmittelbaren Rückgriff auf die antiken Quellen, um Unterschiede in den literarischen Gattungen, um die Relation poetischer und theoretischer Antike-Rezeption bzw. um deren wechselseitige Befruchtung sowie um die Spannung zwischen einem Studium der 'Humaniora' und der Lebendigkeit der Antike in der Literatur. Zu den Stärken der Arbeit von Riedel gehört es vor allem, die jeweiligen Umbrüche in der Antike-Rezeption wahrzunehmen und kenntnisreich herauszuarbeiten. Nicht selten trat an die Stelle einer direkten Adaptation antiker Muster die Übernahme von Motiven, die mit zeitgeschichtlichen Phänomenen verflochten wurden.

Zweifelsohne legen die Anforderungen an die Kenntnis der beiden antiken Sprachen und zugleich an extensive und intensive Belesenheit in modernen Literaturen die Latte sehr hoch für eine Beschäftigung mit der Antike-Rezeption, eine Höhe, die nur sehr wenige mit dem Thema beschäftigte Forscher in der Vergangenheit und der Gegenwart überspringen konnten. Es verwundert daher nicht, dass die opera magna zu diesem Thema daher fast alle von Altphilologen oder Komparatisten geschrieben worden sind. Riedels Handbuch darf getrost den von Schadewaldt u. a. gesetzten Meilensteinen der Forschung an die Seite gestellt werden. Geht man davon aus, dass, wie Hellmut Flashar einmal treffend bemerkt hat, literarische Antike-Rezeption primär auf der "Offenheit und Adaptationsfähigkeit" des griechischen Mythos als "Symbol und Chiffre für die Probleme und Situationen" späterer Epochen beruht, dann lässt sich die eingangs gestellte Frage, ob die Antike in der Postmoderne an ihr unwiderrufliches Ende gelangt sei, mit einem klaren und vernehmlichen 'Nein' beantworten - 'cuncta fluunt'.

Titelbild

Volker Riedel: Antikerezeption in der deutschen Literatur vom Renaissance-Humanismus bis zur Gegenwart. Eine Einführung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2000.
522 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-10: 3476016862

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