Jakobs Leiden

Peter Untuchts unzeitgemäßer Debütroman "Zwei hinterm Limes"

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einer der Sternstunden von "Monty Python's Flying Circus" deklassierten die Deutschen die antiken Philosphen im Fußball, was weder an der Abwehrschwäche von Sokrates oder Heraklit noch am Sturmgeist von Kant oder Hegel lag, sondern vielmehr an Beckenbauers Ballkünsten. In Peter Untuchts Debütroman "Zwei hinterm Limes" benutzt auch Wilhelm Immer das Fußballspiel als Erkenntnis steigernde Metapher, und zwar für den Zwist zwischen Katholiken und Protestanten. Seine "Sporttheologie" macht Martin Luther quasi zum Mittelstürmer im Auftaktmatch, mit Melanchthon, Zwingli, Calvin als Dreierkette dahinter, auf der Gegenseite spielten natürlich Murner, Eck und Emser, Erasmus aber wäre ihr Joker auf der Reservebank.

Eine große Freiheit des Denkens und Schreibens, wie sie schon in diesem Nebenthema greifbar wird, zeichnet "Zwei hinterm Limes" durchgehend aus. Was Untucht hier präsentiert, ist große Literatur, also unzeitgemäß, tief, komisch, rührend und reich. Er verbindet in seinem Erstling ganz souverän extrem Heterogenes, er spielt mit literarischen Traditionen, ohne sie aufs Spiel zu setzen, er findet eine erstaunliche Balance zwischen spannender Erzählung und retardierender Reflexion, zwischen dem erschreckend Wunderbaren und dem Schrecken der Banalität.

Untuchts Geschichte, die ihm als Vehikel für Myriaden literarischer Kunststücke dient, handelt von Jakob Immer. Der ist 42, lebt von seltenen Aufträgen für eine Werbefirma, interessiert sich "eigentlich nur noch für Literatur und Frauen" und enthält sich sonst allen Anforderungen konventioneller Lebensführung. Gedankenspiele und Ehrgeizlosigkeit bestimmen sein Dasein, bis die 17 Jahre jüngere Geliebte Babette mehr von ihm erwartet. Sie verlangt von Jakob, so lange in seiner Geburtsstadt Wetzlar zu bleiben und an sie (per E-Mail) Briefe über sich und sein Tun zu schreiben, bis sie ihn wieder sehen könne. Das versteht sie durchaus im Wortsinn, denn ihr erscheint Jakob konturlos und immer weniger wahrnehmbar in seiner Antriebslosigkeit, er verschwindet förmlich unter ihren Augen.

Das ganze Buch besteht aus den Briefen an Babette, in denen Jakob von Wetzlar erzählt, von den Jugendfreunden, welche die Vergangenheit heraufbeschwören, von erotischen, unheimlichen und kuriosen Erlebnissen, vor allem aber von seinem tief verehrten Onkel Wilhelm, der gerade den hundertsten Geburtstag feiert. Ein Philosoph im eigentlichen Verstande ist er, "ein Held der Möglichkeit", lebenslustig, lebensklug, charmant und in einer verqueren Art hoch gebildet. Mit ihm durchstreift Jakob Geschichte, Literatur, Philosophie, Religion, mit ihm schwärmt er von Frauen und von fehlgeschlagene Unternehmungen; beispielsweise einem Symposium, bei dem Wilhelm Immer Heidegger und Gadamer mit Horckheimer und Adorno zusammenbringen wollte, er selbst und Habermas hätten moderiert. Natürlich streifen die Gedanken Goethe, der in Wetzlar eine unglückliche Liebe erlebte (die Basis für "Die Leiden des jungen Werthers"), häufig geht es auch um Conrads "Heart of Darkness", das Wilhelm Immer als "Cor obscuritatis" in die Antike und die Gegend von Wetzlar verlegt.

Fast die ganze Zeit von Dezember 1999 bis Mai 2000 verbringt Jakob seine Zeit fern von Babette. Nur die letzten Tage unternimmt er eine wunderliche Autofahrt nach Belgien mitsamt seinem Onkel, da der noch einmal die Kultur- und die Schlachtstätten besuchen will, die er seit dem Ersten Weltkrieg, in dem er dort seine Hand verlor, nicht mehr gesehen hat.

Schon mit seinen beiden Antihelden Jakob und Wilhelm Immer erschuf Peter Untucht Figuren besonderen literarischen Formats, richtige Käuze, nicht nur liebenswert, eitel durchaus, schwärmerische Projektemacher, notorische Scheiterer, weniger Schürzen- als Strumpfjäger alter Schule, hoch begabte Tagträumer, Mundhelden (nicht ohne Talent zum Schweigen), dazu Reflexioneure mit erheblichen Nehmerqualitäten in punctis Alkohol und Schicksalsschlägen. Dabei relativieren sich Jakobs Leiden als ausschließlich private im Vergleich zu den tragischen Situationen, in die Wilhelm durch weltgeschichtliche Verwicklungen geriet.

Nicht nur in dieser Hinsicht ist "Zwei hinterm Limes" ein historischer Roman. Der geistige Horizont der beiden Immer erweist sich in literarischen und geschichtlichen Exkursionen in das 20. Jahrhundert, in die Reformationszeit, das Mittelalter und schließlich die Antike. Mythisch, also erzählend, leiten sie den Leser hinab in die Tiefen der Vergangenheit, erproben Szenarien des "was wäre wenn" bzw. in den Worten des Romans des "als ob". Immer loten sie Möglichkeiten aus, erkunden sie Denkbarkeiten, versuchen sie das Andere.

Trefflich verbindet Untucht dabei das Gelehrte mit dem Witzigen, das Abenteuer mit dem Gedankenspiel, den Kalauer mit der Poesie. Auf diese Weise gehen dem Leser die Ideen genauso zu Herzen, wie die Figuren.

Das liegt natürlich an Untuchts Erfindungsgabe, die sich selbst vor fantastischen und opernhaften Szenen nicht scheut, mehr noch an seiner kunstreichen Sprache. Die bietet staunenswerten Satzbau fast Wielandscher Klassizitär mit rhythmischen Auflockerungen, dazu rhetorische Kniffe wie Neologismen, Archaismen, Alliterationen, Assonanzen, um nur die bekanntesten zu nennen. Erkennen muss man sie nicht, um seine helle Freude an dem Buch zu haben, genausowenig wie all die Anspielungen auf die Religions-, die Kunstgeschichte, auf Rock und Pop, die Philosophie und schließlich die Literatur.

Der Reichtum von "Zwei hinterm Limes" sprengt beinahe den Rahmen, Untuchts mythifikatorisches Geschick jedoch hält die Einzelheiten zusammen, indem er wie Wilhelm Immer die Welt aus der Provinzperspektive Wetzlars betrachtet, sie einer "Wetzlarisation" unterwirft. Wie alles in dem Roman lebt auch dieser Gedanke von der Ironie, und wie jede tiefe Ironie lebt auch diese von einer geradezu philosophisch heiteren Melancholie, deren Reiz so wenig vergehen wird wie der dieses witzigweisen Weltbuchs.

Titelbild

Peter Untucht: Zwei hinterm Limes. Roman.
Claassen Verlag, München 2002.
414 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3546003128

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