Wert und Grenze der Charakterskizze

Carl Zuckmayers "Geheimreport"

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zur politischen Auseinandersetzung gehört die Arbeit von Geheimdiensten: Unabdingbar sind Informationen, die es erlauben, den Gegner einzuschätzen. Spätestens die Debatte um Stasi-Kontakte ostdeutscher Autoren rief ins Gedächtnis zurück, dass immer wieder auch Künstler sich zur Zuarbeit bereitfanden. Die Gründe sind vielfältig: Geldnot und ein simples Denunziantentum, um Konkurrenten auszuschalten; Angst um die eigene Existenz; das schmeichelhafte Gefühl von Bedeutsamkeit, die Vorstellung, mit dem eigenen Schreiben, der eigenen Charakterisierungskunst unmittelbar etwas zu bewirken; und endlich die Einsicht, in einer weltpolitischen Entscheidungssituation zu stehen, der Entschluss, durch einen Beitrag den Sieg der stets drohenden Barbarei verhindern zu helfen.

Der letztere Grund war es sicher, der 1943 den Exilanten Carl Zuckmayer dazu bewegte, für den amerikanischen Auslandsgeheimdienst OSS, der Vorgängerorganisation des CIA, Berichte über etwa 150 in Deutschland gebliebene Repräsentanten des kulturellen Lebens zu liefern. Und Zuckmayer hatte recht: Bis zum Beginn des Kalten Krieges verteidigten die USA die Demokratie, dienten ihre Auslandsoperationen noch nicht der Unterstützung zweifelhafter Diktatoren, sondern dem Ziel, die gefährlichste der Diktaturen zu beseitigen. Zuckmayers Informationen hatten keinen Wert im Krieg, doch zielten sie auf eine fortschrittliche Neuordnung Deutschlands nach der absehbaren Niederlage des NS-Regimes. Er wahrte so auch die Interessen des besseren Teils der deutschen Bevölkerung und nicht zuletzt der Flüchtlinge, die für einen erfolgreichen kulturellen und politischen Neubeginn auf eine sinnvolle Politik der Besatzungsmächte und auf klug ausgewählte Mitarbeiter aus dem Kreis der in Deutschland verbliebenen Künstler angewiesen waren. Dass seine Berichte nach 1945 tatsächlich keine Folgen für die Charakterisierten hatten, entlastet Zuckmayer nicht, denn er braucht keine Entlastung. Nach zwölf Jahren völkischer Durchdringung des deutschen Kulturlebens waren Identifizierung und Ausschaltung von NS-Repräsentanten notwendig.

Die Existenz von Zuckmayers Geheimreport war seit langem bekannt; er selbst hatte 1947 in der Münchner Neuen Zeitung eine überarbeitete Fassung des dem Schauspieler Werner Krauß gewidmeten Portraits und die als Charakterologie bezeichnete Einleitung publiziert, was ihm heftige Angriffe von Seiten des Nazi-Schriftstellers Erwin Guido Kolbenheyer eintrug. Der vollständige Text blieb jahrzehntelang im Marbacher Literaturarchiv gesperrt. Erst im vorigen Jahr veröffentlichten Gunther Nickel und Johanna Schrön die fast lückenlos erhaltenen Beurteilungen. Insbesondere durch einen Vorabdruck ausgewählter Charakterskizzen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung stieß das Buch sofort auf breite Resonanz: zu Recht, wie auch der Blick nach einigen Monaten Abstand zeigt. Das Band bietet nicht allein einen kulturgeschichtlich faszinierenden Text; reichhaltig, zuverlässig und übersichtlich kommentiert, bestätigt oder korrigiert er auch Zuckmayers zeitbedingte Beurteilungen und ist er darüber hinaus als biographisches Nachschlagewerk zu allen im Text erwähnten Personen brauchbar. Ein kenntnisreiches, pointiert geschriebenes Nachwort erlaubt es zudem, den Report mit der zeitgeschichtlichen Konfliktlage, die sowohl durch die Interessen des OSS als auch durch Querelen unter den Emigranten gekennzeichnet war, in Beziehung zu setzen.

Vor allem schrieb der Theaterautor Zuckmayer über Personen, die mit dem Theater zu tun hatten: Regisseure, Intendanten, besonders aber Schauspieler. Bildende Künstler tauchen nur auf, soweit sie als Bühnenbildner wirkten; Musiker gibt es wenige, Architekten nicht. Schriftsteller bilden eine zweite große Gruppe.

Wie die Auswahl der auf diese Weise Porträtierten zustande kam, lässt sich nicht mehr erschließen. Dass zu einigen Personen Zuckmayer nur bemerkt, er könne über sie nichts Genaues mitteilen, deutet auf Anfragen durch den OSS, vielleicht auf eine abzuarbeitende Liste hin. Die Anlage der Charakterisierungen zeigt ein weites Spektrum: Manchmal stehen wenige dürre Sätze, häufig aber entstanden schillernde, mit der Lust am Detail ausgemalte Personenbeschreibungen - vor allem von Zuckmayers Schauspielerfreunden Werner Krauß und Emil Jannings. In den Portraits der "Negativen" erfreuen stechende Bosheiten.

Die "Negativen" bilden eine der vier Gruppierungen, in die Zuckmayer die Personen einteilte. Im Geheimbericht wie in der Teilveröffentlichung von 1947 firmiert eine "Charakterologie" als Einleitung: Zur Gruppe 2 "Negativ" treten die Gruppe 1 "Positiv", die Gruppe 3 "Sonderfälle, teils positiv, teils negativ" und die Gruppe 4 "Indifferente, Undurchsichtige, Verschwommene". Allzu ernst sollte man die Einteilung nicht nehmen: Hätte er, ohne den Wortlaut zu ändern, einige der "Indifferenten" zu den "Positiven", der "Positiven" zu den "Sonderfällen" oder der "Sonderfälle" zu den "Verschwommenen" gerechnet, es würde kaum auffallen. Zuckmayers Bewertungen haben nichts mit vereinfachender Klassifikation gemein. Er versucht, Individuen wahrzunehmen, ihr Verhalten aufgrund ihres Charakters und ihrer moralischen Haltung zu erklären oder, wo Informationen fehlen, zu vermuten.

Zu vermuten: Denn seine Aufgabe war für ihn, der 1933 Deutschland und 1939 Europa verlassen hatte, alles andere als einfach. Vielfach fehlten genaue Informationen, und Zuckmayer war auf Gerüchte und unsichere Einschätzungen verwiesen. Meist markiert er Wissenslücken für seine Auftraggeber deutlich; auch macht er deutlich, wo er persönlich voreingenommen ist: "Ich muss vorausschicken, dass ich in diesem Fall Partei bin. Ich liebe die alte Sau", heißt es einleitend zu Jannings. Für einen Geheimdienst sicher befremdlich, setzt er eher das Gute voraus: "Wo wir nichts wissen, dürfen wir bona fides und Anständigkeit eher als das Gegenteil annehmen. Ich bitte diesen Grundsatz auf die hier nicht oder nur flüchtig erwähnten Vertreter des künstlerischen Lebens in Deutschland anzuwenden." Erstaunlich oft treffen dabei Zuckmayers Vermutungen zu. In nur wenigen Fällen ist das Urteil vom heutigen Wissensstand her zu revidieren, was der Kommentar mit reichen biographischen Informationen zu allen im Text erwähnten Personen besorgt: Den Propaganda-Regisseur Veit Harlan, berüchtigt vor allem durch seine hetzerische "Jud Süss"-Verfilmung und den fanatischen Durchhaltefilm "Kolberg" von noch 1944, empfiehlt Zuckmayer für eine Verwendung in der Nachkriegszeit ebenso wie er den Dramatiker Hans Rehberg, Autor von Preußen-Dramen, die sich eindeutiger politischer Verwertung entziehen, fälschlich als Nazi einordnet.

Unproblematisch ist die "Charakterologie" dennoch nicht, gerade weil sie von Charakteren und nicht von politischen Strukturen ausgeht. Immer wieder hebt Zuckmayer empört die Wendefähigkeit von Schauspielern hervor, die sich vor 1933 als Kommunisten gaben und 1933 plötzlich als die überzeugtesten Nazis auftraten. Seine These, dass die Bürgerlichen insgesamt sich besser gehalten hätten, gefiel den amerikanischen Auftraggebern sicher. Wendet man jedoch den Blick von den paar Mimen ab, fragt man welche Parteien 1933 dem Ermächtigungsgesetz zustimmten, wer nicht erst 1944, sondern von Beginn des Dritten Reichs an Widerstand leistete und entsprechende Verluste in KZs und dem Spanischen Bürgerkrieg hatte, so wird man Sozialdemokraten und vor allem Kommunisten freundlicher beurteilen müssen.

Die Fixierung auf den Charakter verleitet Zuckmayer auch sonst zu Fehlurteilen. Sein Hinweis, dass die Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger, wiewohl in Weimar Vertreter der Konservativen Revolution, sich jeder Vereinnahmung durch die Nazis entzogen, ist richtig. Ihre faschistischen Positionen haben sie jedoch nie grundlegend revidiert, und so ließ sich kaum behaupten, sie könnten einen produktiven Beitrag zu einem kulturellen Neubeginn nach Kriegsende leisten.

Die Problematik hängt mit dem politischen Standort Zuckmayers zusammen. In Fragen der Zusammenarbeit unter Exilanten keineswegs fanatischer Antikommunist, zeigte er eine zuweilen bedenkliche Nähe zu deutschnationalen Positionen; dass er, vor 1933 Warner vor der NSDAP, in den ersten Monaten der angeblichen "nationalen Erhebung" sich der Begeisterung nicht ganz entziehen konnte, zeigen die Herausgeber im Nachwort. Mehrfach sucht Zuckmayer ein ideales geistiges Deutschland gegen seine konkrete politische Realisierung zu retten: Der Schauspieler und Dramatiker Friedrich Kayssler etwa ist "ein zu guter, zu echter Deutscher", um sich mit den Nazis gemein zu machen. Der Regisseur Herbert Maisch sei "in keiner Faser ein Nazi, sondern ein wirklich guter Deutscher". In einem im Nachwort dokumentierten Resolutionsentwurf Zuckmayers aus der Exilzeit wird das "deutsche Volk" zum "Opfer der faschistischen Gewaltherrschaft" erklärt - wobei zu fragen wäre, ob denn etwa Außerirdische herrschten. Weshalb die Herausgeber im Nachwort Zuckmayers Kritik an Erika Mann, die die faschistische Aggression auch als deutsche Aggression sah, als "treffsicher" bezeichnen, ist rätselhaft nach all den historischen Untersuchungen, die die hohe Akzeptanz des NS-Regimes in den ersten Kriegsjahren belegen. Zuckmayers Argumentation gegen Erika Mann zeigt die Grenzen seines politischen Denkens: Es gebe nur die beiden Möglichkeiten, die moralische Qualität von Individuen zu sehen oder die moralische Qualität guter oder böser Völker zu behaupten. Nicht einmal zu erwägen ist in dieser Dichotomie, wie historische Erfahrungen in einer Bevölkerung strukturelle Mehrheiten befestigen, wie dagegen kollektive Erziehungprozesse organisiert werden müssten.

Die "Charakterologie", über weite Strecken auch mehr Lesevergnügen als politische Theorie es sein könnte, zeigt exemplarisch den Opportunismus vieler Künstler in einer Diktatur; biographischer Kommentar wie Bibliographie sind nützliche Hilfsmittel für alle, die sich mit der Kultur im Dritten Reich befassen. Auszugsweise in der FAZ vorabgedruckt wie in allen großen Zeitungen positiv besprochen, deutet Zuckmayers Ansatz vielleicht auch darauf hin, womit man sich im Deutschland der Jahre 2002 und 2003 nicht so genau befassen möchte.

Titelbild

Gunther Nickel / Johanna Schrön (Hg.): Carl Zuckmayers Geheimreport.
Wallstein Verlag, Göttingen 2002.
526 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-10: 3892445990

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch