227 Tage im Rettungsboot

Yann Martels Roman "Schiffbruch mit Tiger" mit dem Booker-Preis ausgezeichnet

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Booker-Preis im Oktober, wenig später ein Plagiatsvorwurf, Samuel-Fischer-Gastprofessur in Berlin im laufenden Semester, wo er über die Rolle der Tiere in der Weltliteratur dozierte - der 39-jährige kanadische Schriftsteller Yann Martel ist in aller Munde.

Als die Jury des Booker-Preises am 22. Oktober erstmals vor laufenden Kameras ihre Entscheidung über die mit rund 75.000 Euro dotierte Auszeichnung bekannt gab, fiel damit beinahe ein Makel auf Martels ausgezeichneten Roman "The life of Pi". "Popular fiction" und nicht etwa "schwer gewichtige, prätentiöse Bücher" wolle man künftig auszeichnen, verkündeten die Juroren. Wenig später erhob der brasilianische Autor Moacyr Scliar einen (nicht ganz unbegründeten) Plagiatsvorwurf gegen Martel.

So weit die spektakuläre Vorgeschichte des nun in deutscher Übersetzung mit dem Titel "Schiffbruch mit Tiger" erschienenen Romans. Wenn man dieses ausschweifende Erzählwerk lediglich als Abenteuerroman liest, dann wäre es eventuell "Popular fiction" - spannend erzählt, etwas verwegen konstruiert, so als hätten Jack London und Joseph Conrad ihre Ideen beigetragen.

Doch die Geschichte des Sohnes eines indischen Zoobesitzers greift viel tiefer. Der Junge, der nach einem Pariser Schwimmbad Piscine Molitor benannt wurde und sich selbst als Schüler (in Anlehnung an die mathematische Formel) den Namen "Pi" gab, entwickelt sich zum Außenseiter - mit Vorlieben für Tiere und Religionen. Der Junge ist praktizierender Christ, Hindu und Moslem - der etwas märchenhafte Idealtyp eines unverdorbenen, neugierig-weltoffenen "Brückenbauers".

Als die Familie mit dem Schiff nach Kanada aufbricht, um dort die Tiere zu verkaufen, ereignet sich eine Katastrophe. Das Schiff geht unter, und Pi findet sich mit einem verwundeten Zebra, einer bunten Hyäne, einem seekranken Orang-Utan und einem gewaltigen bengalischen Tiger namens Richard Parker in einem Rettungsboot wieder. 227 Tage verbringt Pi im Pazifik, Seite an Seite mit den Tieren, die als "konservativ, ja geradezu reaktionär" beschrieben werden.

Bei Yann Martel reicht der an Bord ausbrechende Überlebenskampf über die physische Komponente hinaus. Unterschiedliche Weltanschauungen und Religionen verkörpern die mit dem 16-jährigen Jungen in der maroden Arche sitzenden Tiere. Nur Pi und der fast eine halbe Tonne schwere Tiger überleben diese allegorische Odyssee, die an George Orwells "Animal Farm" erinnert. Pi hat gelernt, dass man Respekt und nicht Angst zeigen darf.

Etwas getrübt wird die gleichermaßen spannende wie anspruchsvolle Lektüre durch diverse, zu langatmig geratenen Exkurse in die Welt der Biologie. Sie bleiben dem Leser so fremd wie der zitierte Titel einer biologischen Examensarbeit ("Funktionsanalyse der Schilddrüse des Dreifingerfaultiers").

Im Vorwort heißt es, dass es in einem Roman darum gehe, "die Wirklichkeit exemplarisch umzuformen." Dies ist Yann Martel eindrucksvoll gelungen.

Titelbild

Yann Martel: Schiffbruch mit Tiger.
Übersetzt aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
382 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3100478258

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