Kühle Rationalität

"Fremd Gehen - ein Nachtstück" von Antje Ràvic Strubel

Von Frauke HecklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frauke Heckler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die Geschichte hat mit einem Blick begonnen; der alte Mann unten auf der Brücke, der sich umdrehte, direkt zu Daniel am Fenster hochsah und ihn als jemand erkannte, der er nicht war."

Daniel Stillmann, Mathematikstudent in Berlin, begibt sich auf die Suche nach Hinweisen, um die von ihm beobachtete Szene in einen logischen Zusammenhang einordnen zu können. Handelt es sich um einen Mord? Da ist der alte Mann am Ufer des Kanals in der Nähe der Admiralsbrücke, der sich dort nächtlich zu schaffen machte, da sind die angespülten Leichenteile, von denen der Student am nächsten Morgen in der Kreuzberger Bäckerei aus der "taz" erfährt, da erfasst ihn die unheimliche Ahnung, beständig unter Beobachtung zu stehen.

Einerseits fasziniert ihn die Aufklärung der Geschehnisse, derer er unabsichtlich Zeuge wurde, andererseits versucht er alle Probleme mathematischen Formeln unterzuordnen und ihnen mittels berechenbarer Gesetzmäßigkeiten eine Struktur zu geben.

Detailgenau führt Antje Ràvic Strubel ihrem Leser Daniels Umgebung vor Augen: Seine Einzimmerwohnung im vierten Stock eines Mehrfamilienhauses erscheint trostlos und kalt, eine Atmosphäre, die sich durch den gesamten Roman zu ziehen scheint. Die triste Melancholie wird kaum einmal durch Lichtblicke unterbrochen. Abgekapselt und aus nur wenigen menschlichen Kontakten besteht das Leben des Berliner Studenten, handlungsarm beobachtet er seine Umgebung.

"Denn noch nie hatte ihm eingeleuchtet, wie das Leben einfach so zu ihm nach oben dringen konnte, wo er doch nicht in der Lage war, das, was da unten vor sich ging zu beeinflussen."

Bereits in ihrem Roman "Unter Schnee" verwendet die 1974 geborene Berliner Autorin, die nach einer Buchhandelslehre ein Studium der Literaturgeschichte und Amerikanistik abschloss, die Metapher der "Kälte" und den Zustand des Frierens. Beinahe wie durch die niedrigen Temperaturen erstarrt versucht Daniel seine Gefühle der kühlen, mathematischen Rationalität unterzuordnen. Was ist mit dem rätselhaften Verschwinden seiner Freundin, Kathleen, welche nur durch seine Erinnerungen zu einem Teil der Geschichte wird? Er sucht Nähe zu ihr, indem er immer wieder an ihrem Haarband riecht und sich so ihren Geruch vergegenwärtigt.

Oft werden ausführlich Details beschrieben, beinahe beiläufig wird die eigentliche Ereignisfolge zwischen Nebensätzen aufgespürt. Der Leser ist angehalten, sich selber auf die Spurensuche in den Andeutungen und Fragmenten zu begeben. Die Autorin lässt drei Erzählperspektiven ineinander laufen, wobei sich der Unbekannte im Kapitänsmantel oft in seine Welt der Erinnerungen an die Seefahrt zurück zieht. Der alte Mann am Wasser sucht immer wieder die Nähe von Daniel und versucht in das Leben des Studenten einzudringen.

Das Motiv des "Verschwindens" bestimmt wiederkehrend den Romanverlauf von "Fremd Gehen - ein Nachtstück". Eine dritte Handlungsebene wird geschickt eingeflochten: Außerhalb des eigentlichen Romangeschehens befindet sich das schreibende Autorenteam. Skizzenhaft werden "Eindrücke von der Straße" zusammengetragen, "Lebenspuzzelteile" zu einer Geschichte zusammengesetzt. Wer ist die alles dokumentierende Frau, immer im Minirock, aus dem Cafè, die zu niemandem wirklich Kontakt zu haben scheint? Parolen, welche an den Mauern der Stadt zu lesen sind, sowie Zeitungsartikel liefern das Romanmaterial. Die Uneinigkeit über die Ausgestaltung des Charakters des Protagonisten, Daniels, entwickelt sich zu einem Machtkampf, in dem es letztendlich um Liebe geht.

Am Ende bleibt jedoch viel in Antje Ràvic Strubels neuestem Roman sprichwörtlich im Dunkeln. Bis zuletzt lässt sich nicht alles vollständig erschließen. Nur wenig erfährt der Leser über die dargestellten Personen. Viel muss aus den gegebenen Andeutungen erahnt werden, in denen die momentanen Empfindungen wie Zweifel und Ängste verborgen liegen.

Titelbild

Antje Rávic Strubel: Fremd Gehen. Ein Nachtstück.
Mare Verlag, Hamburg 2002.
190 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3936384010

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