Die Hyperintelligenz im Zeitalter ihrer Autoevolution

Nicolaas de Jonghs erfindet eine dystopische Gesellschaftskonstellation und schickt die Niederländer in die Alpen

Von Johannes SpringerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Springer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als das Computernetzwerk am Ende des Datentransfers von Marco van Veens Gehirn zur Datenbank eine psychoanalytische Deutung und Korrektur des von ihm ausgespuckten Materials vornimmt, enttarnt es sein Unterbewusstsein als Autor seiner fiktionalen Autobiographie. Diese Erzählung der Road Story - Vita des Niederländers Marco van Veen - Fall 126 - resultiert aus den Ergebnissen, die im Rahmen einer "Brainstorm-Methode", angewendet an Nr. 126, im Jahre 2028 gewonnen wurden.

Wenn man nun bei dem Brainstorming auch sofort an Mindmapping und ähnliche schulpädagogische Arbeitsparadigmen denkt, hat man zwar die Intention dieser Maßnahme, nämlich ungefilterte und unreflektierte Hirnentleerung, auch im Kontext der "Ultra Ratio" von Nicolaas de Jongh erspürt. Jedoch wäre Alex Osborn wenig angetan gewesen, sein Verfahren zur ungehemmten, freien Gedankenausschüttung im 21. Jahrhundert so verändert zu sehen. Das Jahr 2028 wartet nämlich mit einer mächtigen Computerintelligenz auf, welche mittels der Öffnung menschlicher Schädeldecken an Informationen zu den entsprechenden Personen zu kommen trachtet. Platinsonden fungieren als Vollstrecker dieses Planes, der die Gedächtnissubstrate offen legen will, um Rückschlüsse auf Handlungsmotive von Charakteren zu erhalten, die für die Entstehungs- und Schöpfungsgeschichte der künstlichen Intelligenz von Bedeutung waren. "Jedes Mal, wenn die Messgeräte Erinnerungszentren lokalisieren, werden sie in die Gedächtniszellen eindringen, um die dort abgelagerte Information anzuzapfen."

Die Fragmente, die aus den Gehirnwindungen Marco van Veens entziffert werden, erzählen in nicht chronologischer Weise seine Geschichte. Die massive Überschwemmung und Auslöschung der Niederlande 2009 bildet den Ausgangspunkt für ein Lebensszenario, das bis zum Zeitpunkt seiner Erinnerungsauslesung 2028 mit zahlreichen Brüchen und seltsamen Fügungen aufwartet. Van Veens Flucht aus dem überschwemmten Amsterdam kulminiert zunächst in einem unwirtlichen Flüchtlingslager bei Weinberg in Bayern. Diese "Neue Heimat" vermag es allerdings nicht lange, den frischgebackenen Immigranten eine adäquate Herberge zu sein, was unter der Mitwirkung Marcos zu Gewaltentladungen an der Lagerverwaltung führt. Somit zum erneuten Aufbruch genötigt, irrt er durch die von obrigkeitlicher Autorität in Teilen verlassene, anarchische Region, bis er zur Enklave Totemaugau kommt. Dieser Winkel Bayerns ist das Hoheitsgebiet eines mit ahabschen Qualitäten ausgestatteten "Großen Steuermann", der jegliche überregionale, staatliche Autorität und Identität negiert und substituiert durch eigene Macht und Mikrovergemeinschaftung. Die Atomisierung in immer kleinere Gemeinschaften, die sich selbst als kulturell-historische, ethnische Einheiten begreifen, findet hier seine Zuspitzung in einer regressiven Subsistenzökonomie, die allein durch - nomen est omen - die Vereinigungskraft ihrer Kapitänsfigur Boris Wurzel kollektiv agiert. Zu solchen nicht gerade subtil ersponnenen Konstellationen gesellen sich die für Science-Fiction obligatorischen bewusstseinsmanipulierenden Automaten. Der in diesem Fall "Konfabulator" genannte Apparat ist programmierbar auf verschiedene Ereignisparameter, wie Sex oder Nervenkitzel, was die unendlich müden Einfälle von Funbotern, die im Bordell ihre Kunden mechanisch bedienen oder Konsumhybriden, die durch Enzymkunstgriffe permanent Hunger und Durst verspüren und somit Absatzkrisen zum Anachronismus machen, zur Folge hat.

Dies mag sogar auf kritischen Überlegungen fußen, wie im Falle der Cyborgprostituierten, die die Abschaffung des defizitären weiblichen Körpers durch männliche, technische Utopien symbolisiert, gleichwohl haben diese Visionen etwas abgedroschenes. Der etwas spannendere Strang dieser futuristischen Fantasie ist die über die Geschichte des "Lonesome Riders" vorgenommene Deutung der Motive der Menschheit für die Schaffung einer künstlichen Intelligenz, die im Ultra-Ratio-Projekt verwirklicht wurde. Allerdings gerät auch diese Vermittlung über das Leben eines Entwicklers der intelligenten Maschinen teilweise zu einer etwas simplen Werteexkursion. Die utopie- und wahrheitslose Epoche, hier "späthumanes Zeitalter" genannt und der asexuelle, sozialgestörte Computernerd reichen sich hier die Hände und machen sie sich bestimmt nicht schmutzig, denn dazu ist dieser Klischeedeal zu sauber. "Die Arbeit am Bildschirm, später auch die mit semi-intelligenten Computern, wurde zum Ersatz für mangelnde soziale Kontakt und fehlende Körperlichkeit ...

Auch für Marco van Veen war das Ultra-Ratio-Projekt daher eine Möglichkeit, zum ersten Mal in seinem Leben "jemand zu sein ...

In dieser Gemeinschaft von Gleichgesinnten wurde er aus einem 'Minus-Mann' ein 'echter Kerl'. Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt der Analyse, welche im psychoanalytischen Lehrbuchstil konzipiert ist und vom Computernetzwerk angestellt wird, um die menschlichen Handlungsmuster, die zur Durchführung des Ultra-Ratio-Projektes führten, zu eruieren. Da das Lehrbuch wohl erst einmal in der frühesten Kindheit nach den Gründen jeden späteren Verhaltens zu forschen anhalten würde, entzieht sich auch das Netzwerk dieser Praxis nicht. Folglich ist bald die Gefühllosigkeit des Vaters für das Flüchten des Kindes Marco van Veen in die Phantasiewelten des Fernsehens, die Affektprojektion auf eben dieses Medium und schließlich auch das Entwickeln von Sexualität mit technischen Geräten verantwortlich gemacht. Daraus sollte sich dann der archetypische Charakter dieser Epoche entwickeln, der sich durch Mechanikfetischismus und Technowissenschaft auszeichnete.

Das Resultat der Untersuchungen ist eine positive Selbstbestätigung der Datenbänke humane superiore Lebensform. Minderwertigkeitskomplexe, Existenzängste, Triebe, Wankelmut werden als Verhaltensvarianten mit dem Verschwinden des Menschlichen im Mülleimer der Geschichte landen. Die maschinelle Selbstreflexion, Autoevolution und die Überwindung des Biologisch-Irdischen ebnen hier nun den Weg für einen Aufbruch in neue Sonnensysteme, dem Ergießen der neuen Intelligenz über das All kann nichts mehr entgegengesetzt werden. "Mit dem einfachen Befehl 'Delete all human traces' wird das Menschliche aufhören zu existieren. Damit wird nicht nur der letzte Homo Sapiens aufgehört haben zu sein, auch die letzte Erinnerung an diesen altertümlichen Bewohner eines fernen Planeten wird dann ausgelöscht sein. Spätestens hier wird der Mord der Kinder an ihren geistigen Vätern perfekt sein." So äußert sich ein kritischer Wissenschaftler kulturpessimistisch zu der Entwicklung der künstlichen Intelligenz im Laufe des Ultra-Ratio. Und konsequenterweise ist der "Fortschritt" zumindest hier nicht aufzuhalten und falls es ein Menetekel darstellen soll für die gegenwärtigen Lebenspraxen und konkret die Versuche zur Optimierung des Menschlichen auf der Basis des Technischen, kann man wohl nur konstatieren, dass Nicholas de Jongh keine Enquetekommission mehr benötigt, um sich über den Themenkomplex Mensch-Maschine klar zu werden. Die Fragen nach der Überwindung des Menschen scheinen bereits beantwortet, die Natur zugunsten der kulturellen Produkte der Menschheit besiegt, die als reflexive Moderne ungeahnte Konsequenzen für die zukünftigen Grundlagen humanen Lebens hat. Erstaunlich gering ist überhaupt die Aushebung von Fragen in diesem Buch, das leider viel zu viele Antworten indessen parat hat.

Titelbild

Nicolaas De Jongh: Ultra Ratio.
Passagen Verlag, Wien 1999.
262 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3851653467
ISBN-13: 9783851653465

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch