Spectre

Zum Tod von Maurice Blanchot

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aus seinem Privatleben ist nicht viel mehr bekannt geworden als seine Privatadresse. Die ältesten verbürgten Aufnahmen zeigen Maurice Blanchot 1929 mit dem befreundeten Philosophen Emmanuel Lévinas bei der gemeinsamen Lektüre von Heideggers "Sein und Zeit". Sein letztes Auftauchen in der Öffentlichkeit geht auf den Mai 1968 zurück, als er - kurz vor der Pensionierung - an den Studentenrevolten teilnahm und begeistert von einem "Kommunismus des Denkens" schwärmte. Blanchot galt zur damaligen Zeit als Musterbeispiel des engagierten Intellektuellen: Résistance-Ruhm, Mitarbeit an Sartres Sprachrohr "Les Temps modernes" gleich nach dem Krieg und einer der Wegbereiter des "Manifests der 121" gegen den Algerien-Krieg. Gleichzeitig hat er intensiv an einer literarischen und biographischen Subjektbeseitigung gearbeitet, zielte doch nicht nur seine persönliche Anstrengung, sondern auch sein gesamtes literarisches und literaturkritisches Werk darauf, das Verschwinden und schließlich den Tod des Autors als endgültiger Sinngestalt zu behaupten.

Folglich blieb Blanchot stets so etwas wie ein Gespenst (spectre), das die literarischen und politischen Diskurse Frankreichs heimsuchte. "Spectre", abgeleitet vom lateinischen Wort "spectrum", bedeutet im Französischen sowohl das Gespenst als auch das (Farb-)Spektrum, also in erster Linie etwas Sichtbares, das doch ungreifbar bleibt oder auf undurchsichtige Weise durchsichtig ist, nicht lokalisierbar, der Streuung unterworfen und daher vielfältig, nicht identisch, aber auf unheimliche Weise wiederkehrend, real. Es verweist qua Assonanz auf die Spiegel-Spiele des Spektakulären und Spekulativen, die den Zuschauer (spectateur) ebenso brauchen wie dieser das Schauspiel (spectacle) seiner Erscheinungen. Dem entsprechend konnte Paul de Man einmal anmerken, Blanchot ziehe "die Wahrheit, die sich kaschiert, jener, die sich geltend macht, vor." Für Blanchot wie für Heidegger enthülle sich das Wesen in dem, was es versteckt. "Das Schweigen ist unmöglich. Deshalb verlangt es uns nach ihm." Diese unpersönlichen Sätze Blanchots scheinen persönliche Obertöne zu besitzen. Seinen Gegnern gilt als ausgemacht, dass im Schweigen, in der kaschierten Wahrheit, mit der Blanchot als Kritiker und Literat seine Texte imprägniert hat, ein anderes, viel konkreteres Schweigen verschwinden soll: das Ver-Schweigen seiner faschistischen Vergangenheit. Blanchot mag niemals bewusst als Kollaborateur agiert haben. Mit seinen antisemitischen Spitzen gegen die Blum-Regierung jedoch, mit seiner bedenklichen Nähe zu Drieu la Rochelle und seiner Arbeit als Leiter der Literaturabteilung der "Jeune France", einer von Vichy unterstützen Kulturorganisation, hat er den Nationalsozialisten jedenfalls nicht geschadet. Davon hat man erst seit knapp zwei Jahrzehnten Kenntnis genommen. Als weniger bekannt darf gelten, dass Blanchot noch auf eine ganz andere Weise in das Geschehen der Shoa verwickelt war. Emmanuel Lévinas berichtet in seinen Gesprächen mit François Poirié ("Emmanuel Lévinas", Paris 1987), seine Frau sei während des Krieges von Blanchot "gerettet" worden.

Neben Zeev Sternhell oder Tzvetan Todorov haben Jeffrey Mehlman ("Legacies of Anti-Semitism in France", Minneapolis 1983) und Steven Ungar ("Scandal and Aftereffect", Minneapolis/London 1995), der Mehlmans Ergebnisse revidiert, ergänzt und in größere Zusammenhänge gestellt hat, detailliert versucht, Blanchots Engagement für die politische Rechte im Umfeld der "Action Française" und ihr nahe stehender Gruppen und Periodika in den 30er Jahren mit seinen literaturkritischen und literarischen Texten sowie seiner auffälligen politischen Zurückhaltung in der Nachkriegszeit einem "close reading" zu unterwerfen. Das geschieht bei Ungar vor allem dadurch, dass er Blanchots Agitation in den Kontext der 30er Jahre einfügt, ausgehend von der Diskussion um Mitterands Vichy-Vergangenheit und der durch Victor Farías erneut ausgelösten Debatte um Heideggers Engagement für den Nationalsozialismus. Wenn der "casus Heidegger" nicht nur der Fall Heideggers, also ein mehr oder weniger kontingenter, auf 1933/34 datierbarer persönlicher 'Fehltritt' war, sondern auch, dem Heidegger-Schüler Lévinas zufolge, das Werk vor 1933 befallen hat, dann stellt sich die Frage nach dessen genereller Bedeutung: für Lévinas, der "Sein und Zeit" als einen der wichtigsten Texte der Philosophiegeschichte angesehen hat; für die übrige Heidegger-Rezeption in Frankreich, in die auch Figuren wie Lacan, Foucault und Derrida maßgeblich involviert sind. Was das für die Frage nach Maurice Blanchot bedeutet, erhellt sich daraus, dass der ebenfalls seinen 'Fall' hatte, mit Lévinas befreundet und ebenfalls ein Schüler Heideggers war, und wie der ebenfalls eine weit reichende Wirkungsgeschichte hat, die sich in Frankreich ausgerechnet mit den Namen Lacan, Foucault und Derrida, aber auch mit Barthes und Deleuze markieren lässt. Liegt hier ein Generationen übergreifendes Komplott, ein gigantischer Verblendungszusammenhang oder schlicht verstockte Uneinsichtigkeit vor? Er habe seine Denkfiguren durch die Jahre beibehalten, hat Mehlman gegen Blanchot vorgebracht, sie lediglich ästhetisch, theoretisch oder politisch artikuliert, in jedem Fall aber extrem. Und genau daran hätten sich dann die genannten Leitfiguren der 60er und 70er Jahre, die extremistischen Philosophen der "pensée 68" orientiert. Gerade seine immer neu akzentuierte These von der Unzulänglichkeit der Sprache, vom Außer-sich-Sein des Bewusstseins und einer Sinnleere jenseits des Nihilismus stellte ihn zwangsläufig in die philosophische Mitte der Denker seiner Zeit.

In vielen Texten kreist Blanchot um das "absolute Ereignis der Geschichte", um die "namenlose Sache, der man den Namen 'Endlösung' beigelegt hat" (Derrida). In der erwähnten, von Farías angezettelten Debatte über Hitler und Heidegger unterstellte er dem deutschen Denker Antisemitismus, warf ihm aber vor allem sein Schweigen vor und "die Weigerung, für das Unverzeihbare um Verzeihen zu bitten." Wie könne man philosophieren, wie schreiben in der Erinnerung an Auschwitz - nur indem man weiß, es nicht vergisst und doch zur gleichen Zeit niemals wissen kann, was geschehen ist, bemerkt Blanchot in "Notre compagne clandestine". Es ist der Gedanke, der Blanchots jüngste Arbeiten durchquerte und trug, seinen bemerkenswerten Aphorismenband "L'écriture du desastre" (Paris 1980) und nicht zuletzt auch "Les intellectuels en question" (dt. in "Das Unzerstörbare", München 1991), ein Text, in dem er gerade die Verpflichtung, die aus der Shoa erwächst, in den Vordergrund stellt: "Von der Dreyfus-Affäre bis zu Hitler und Auschwitz hat sich gezeigt, daß es der Antisemitismus (zusammen mit dem Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit) ist, der den Intellektuellen am deutlichsten als Intellektuellen offenbart hat: anders gesagt, unter dieser Form hat die Sorge um die anderen (souci des autres) ihn gedrängt (oder nicht gedrängt), seine schöpferische Einsamkeit zu verlassen." Bedenkt man eine Aussage Lévinas', Blanchot habe ihm in den zwanziger Jahren, zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens, die Schriften von Paul Valéry empfohlen, so verdeutlicht diese Textpassage, wie sehr Blanchots Denken von dem seines Freundes Lévinas transformiert wurde: von Valérys "autrui me détruit" zu Lévinas' "souci des autres". Aus einer so verstandenen Sorge um den Anderen hat Blanchot immer wieder seine Einsamkeit verlassen und ist zu einem Intellektuellen geworden: im Algerien-Krieg Anfang der 60er Jahre, im Mai 1968, im Streit um die nationalsozialistische Infiltrierung Heideggers Ende der 80er und vor etwa sieben Jahren, als der fast Neunzigjährige mit seinem Verleger brach, weil der eine Schrift Alain de Benoists aufgelegt hatte. Er trat sein intellektuelles Engagement allerdings mit Füßen, als es um seine eigene Vergangenheit ging. Blanchot wurde somit zu einer der großen fragwürdigen Figuren seiner Zeit: Vertreter eines Denkens, das seine Verblendung obsessiv im Zeichen von Auschwitz zu tilgen trachtete.

In seinem vielleicht bekanntesten Buch "L'espace littéraire", in dem am Beispiel des Orpheus-Mythos der "descend aux enfers" des Künstlers in das Reich des Absoluten der Kunst entwickelt wird, begegnet die für das poststrukturalistische Denken folgereiche Theorie des "désœuvrement", die 1969 in "L'entretien infini" noch einmal wiederholt wird: Ein literarisches Werk sei nur als ein Werk bedeutsam, "in dem sich, als sein stets dezentriertes Zentrum, das Nicht-am-Werk-Sein hält: die Abwesenheit des Werkes". Diese Überlegungen machen, und hier liegt für viele das eigentliche Skandalon des Ansatzes von Blanchot, vor der literarischen und philosophischen Auseinandersetzung mit der Shoah nicht Halt. Noch 1980 schreibt Blanchot in "L'écriture du desastre": "Der unbekannte Name, außerhalb jedes Benennens: Der Holocaust, das absolute / losgelöste Ereignis der Geschichte, historisch datiert, dieser Total-Brand, an dem sich die gesamte Geschichte entzündet, an dem die Bewegung des Sinns sich abgenützt hat, in dem die Gabe ohne Mitleid, ohne Zustimmung vernichtet wurde, ohne dem Nichts einen Ort zu geben, der sich selbst affirmieren oder negieren könnte, Gabe der Passivität selbst, die Gabe dessen, was man nicht schenken kann. Wie soll man sie bewahren, und sei es auch nur im Denken, wie soll man aus dem Denken das machen, was den Holocaust aufbewahren würde, wo doch alles verloren ging, einschließlich des aufbewahrenden Denkens." Der Tod, pluralisiert, namenlos und nicht erzählbar geworden, kann der Sprache nur zustoßen, indem er sie in die Aporie eines nicht-erzählenden, nicht-sinnstiftenden, dem anderen unendlich nachfragenden Sprechens entlässt. Er ist der Tod der Narration und der Tod der ästhetischen Souveränität und markiert so die Zäsur zwischen dem Erzählen und einer "écriture du desastre".

Für Blanchot impliziert jede Bezeichnung zugleich eine Vernichtung des Gegenstandes. Die Sprache ist Zeichen der Abwesenheit und stellt einen Raum des 'Zwischen' dar, in dem Subjekt wie Objekt gleichermaßen verschwunden sind. Das Konzept einer "parole plurielle" etwa meint kein vielstimmiges Konzert, das auf die Einheit der Vernunft bezogen wäre, sondern das "Bejahen der Unterbrechung und des Bruches", das heißt ein fragmentarisches, diskontinuierliches "Schrift-Sprechen" (parole d'écriture), das nichts realisiert und re-präsentiert, aber dafür die Intransitivität der Sprache aufblitzen lässt. Als "Sprache des Fragens" ist Literatur für Blanchot der ausgezeichnete Ort der Absenz, wo das Ganze in Bezug zur "Nicht-Welt" tritt, die das "Außen" des Denkens und Sprechens bildet, das die Präsenz des Gegebenen unmerklich spaltet und in einer seriellen "Verstreuung" (dispersion) pulverisiert. Im Akt des Schreibens (écriture) wird das 'Ich' (je) ausgelöscht und verwandelt sich zum 'Er' (il), zu einer neutralen Instanz. In der absoluten Selbstbezüglichkeit des Textes werden narrative Strukturen aufgelöst und die Instanz des Erzählers und der Erzählung selbst hinterfragt. Jede Form der Ganzheit, Einheit oder Totalität verliert durch die der Literatur wesentliche Negativität ihre Grundlage. An ihre Stelle tritt eine Reflexion über das Fragment, die Grenze, die Alterität und die Absenz.

Unermüdlich, in immer neuen Anläufen, aus verschiedenen Richtungen und auf immer neuen Bahnen umkreist Blanchots Denken ein unzugängliches Zentrum, das eben nicht als Mittelpunkt verstanden werden darf, sondern als ein leerer geometrischer Ort der Denkbewegung. Die unablässige Wiederholung des Denkens (la ressassement éternel) ist wie eine unendliche Bewegung ohne Progress, eine "Bewegung im Unbeweglichen", die um die Leere, das Nichts kreist. Bei Blanchot wird dies sichtbar, wenn er dem Schriftsteller den "Ort des Unverfügbaren" zuweist, an dem die Sprache das "reine Unbestimmbare" sei. Diese Sprache kann nicht mehr gesprochen werden, sie ist vernehmbar allein in der Unterbrechung des Textes, streng genommen ist Schweigen die höchste Kunst. Blanchots Texte repräsentieren den anachronistischen Versuch des endlosen Redens auf dem Weg zum Schweigen. Alle literarischen Texte, für die sich Blanchot interessiert (Hölderlin, Nietzsche, Lautréamont, Mallarmé, Rilke, Kafka, René Char, Celan) stehen am Rande des Verstummens und tragen die Spuren der Absenz und Exteriorität an sich. Obwohl Blanchots entindividualisierte Ästhetik mit ihren zentralen Chiffren der Leere, der Abwesenheit und des Nichts Gemeinsamkeiten mit den poststrukturalistischen Theorien aufweist (insbesondere Derrida, Barthes und Foucault bezeugen den Einfluss Blanchots), so trennt doch der - allerdings restlos negative - metaphysische Horizont sein Werk von der jüngeren Generation.

Diese Leere ist nicht die Negation von etwas Bestimmtem, wie in Foucaults berühmter Formulierung aus "Les mots et les choses" vom Denken in der "Leere des verschwundenen Menschen"; es ist vielmehr die Leere überhaupt, die weder als Negation von etwas erscheint noch durch etwas anderes ersetzt werden kann und die als solche schon metaphysische Dignität hat. Ohne diesen negativ gefassten metaphysischen Horizont ist Blanchots Denken nicht zu verstehen. Seine ungeheure Anstrengung besteht in dem Versuch, die metaphysische Dimension festzuhalten, aber ihr weder Bestimmung noch Namen zu geben, sondern explizit negativ ihren Raum als Leer-Stelle offen zu halten. Foucault äußert in seinem Versuch, die Grundkategorien von Blanchots Denken zu definieren, die Vermutung, "daß es jenem mystischen Denken entstammt, das seit den Tagen des Pseudo-Dionysius an den Grenzen des Christentums herumgeisterte; vielleicht hat es sich fast ein Jahrtausend lang unter den Formen einer negativen Theologie verborgen gehalten." Doch hat Blanchot die letzten theologischen Aufbauten dieser negativen Theologie zerstört und das Fundament freizulegen versucht. Er gibt, nach dem Tod Gottes, die Dimension des Absoluten nicht auf: Im Modus der Leere, des Verschwindens der Negation bleibt sie anwesend. Er hat in seinen literarischen Texten versucht, diesem Paradoxon gerecht zu werden. Sein Roman "L'arrêt de mort" (1948) hält es bereits im Titel fest. Im übertragenen Sinn heißt er "Todesurteil", wörtlich kann die Genitivformulierung sowohl das durch den Tod erzwungene Aufhören des Lebens bedeuten als auch das Aussetzen oder den Aufschub des Todes, was in semantischer Nähe zu "spectre" steht. Ähnlich dem Rilkeschen "Todlos" aus der zehnten Duineser Elegie enthält dieser Titel die Möglichkeit und die Unmöglichkeit des Todes. Maurice Blanchot ist am 20. Februar 2003 gestorben.

Titelbild

Jacques Derrida: Maurice Blanchot: Bleibe.
Übersetzt aus dem Französischen von Hans-Dieter Glondek.
Passagen Verlag, Wien 2003.
135 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3851655818

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Werner Hamacher (Hg.): Nietzsche aus Frankreich. Essays.
Philo Verlagsgesellschaft, Berlin 2003.
255 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-10: 3825703096

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