Bären, Krähen und ein Spinnhaus

Kerstin Hensels neuer Roman über das westliche Erzgebirge und seine eigentümlichen Bewohner

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rund um die Stadt Schwarzenberg liegt das westliche Erzgebirge mit dem Miriquiriwald, dem sogenannten Gebirgsurwald ('Dunkelwald') der Gegend. Neuwelt gehört dazu, auch Lauter und andere kleinere Städte. Die Landschaft ist geprägt von Industrie und Bergbau. Handwerk hat hier Tradition, das Spitzenklöppeln beispielsweise oder das Spinnen. Im November 2003 läuft ein Bär durch die Szenerie, hinein in das alte, ruinöse Spinnhaus, das dem neuen Roman der in Berlin wohnenden Autorin Kerstin Hensel den Titel gegeben hat. Nach einigen Wochen verschwindet er wieder, doch der Roman folgt ihm nicht, sondern lässt sich im Spinnhaus und den Geschichten seiner Bewohner und der umliegenden Orte nieder. Der geografische Bezugspunkt symbolisiert die Weltgeschehnisse und den Alltag in diesem Landstrich über die Zeit eines Jahrhunderts. Als Spinnfabrik ist dieses dreistöckige Haus Teil der sächsischen Textilindustrie, später dann wird es letzte Zuflucht für Verarmte, Flüchtlinge und Verlassene. Erzählt wird in Episoden, die durch Motive, Namen oder andere spärliche Bezüge miteinander verbunden sind. Ein zuweilen märchenhaft anmutendes Ambiente, wenn Krähen auf Dächern sitzen, Eberesche und Engelwurz, Kräuter und Pilze sinnlich-anregend beschrieben werden.

Im "Spinnhaus" zeigt sich die Vorliebe der Autorin für skurrile Figuren vergangener und aktueller Zeiten, wie beispielsweise die stumme Familie Uhlig und deren ständig redende Tochter Trulla. Deren Schwester Marie sitzt jahrelang stumm auf einem Stuhl und lauscht dem Wald, dessen Klänge sie an ihre einzige Liebe erinnern. Dann ist da Lotte Zschiedrich, Chefin der Waschanstalt im Spinnhaus, deren Tochter Gundel eine große Leidenschaft für Giftpilze hegt. Felix der Verrückte führt die amerikanische Touristin Jane Linklater ins Bergwerk und bringt sie dort um. Oder die Geschichte von Christoph Demuth, der als berühmter Spitzenklöppler durch die Lande zieht.

Während des zweiten Weltkrieges verdingt sich der Jude Ascher Lewin mit neuer Identität als Soldat. Als er zurückkommt, als einer der wenigen Männer, wird er von sechs Frauen überfallen und gefoltert. Hubert Kasten jedoch, der von seinem Vater, dem strengen Staatsanwalt Karl Adolf Kasten, nach Berlin geschickt wird und dort als Scharfrichter arbeiten muss, erhängt sich, weil es bei seiner Rückkehr kurz vor Kriegsende beim Ortsbäcker keine Kuchenrindel mehr gibt.

Die Liebe zwischen Herrn Nobis und Susanne Mühl findet ihren Ausdruck im 'Schwarzen Balsam', einem vielgetrunkenen Likör aus Herrn Nobis' Likörfabrik. Die Tochter Inge wird an ihrer Alkoholsucht zugrunde gehen. Eine Likörfabrik gibt es in dem Ort Lauter tatsächlich. Sie heißt "Lautergold" und existiert seit 1734. Auch der Uranabbau nach 1945 ist historischer Fakt, ebenso wie die in die Nachkriegszeit fallende und nur kurzzeitig bestehende 'Freie Republik' Schwarzenberg. Auf diese bezieht sich Pfarrer Kasemir, der nach 1989 in der Kneipe von Semmelweis-Märrie (eine Figur aus der Erzählung "Tanz am Kanal" von 1994) mit dem gekündigten Lehrer Schiebold (ein zu freier Freigeist) neue Pläne für eine nun ein zweites Mal mögliche 'Freie Republik' schmiedet.

Doch viele Träume zerstieben vor den politischen Veränderungen. Der Traum von Freiheit vereint Charitas Handschuk, die aus einer einengenden Ehe und ihrer Arbeit als Kindergärtnerin zurück nach Berlin flüchtet und dort als Straßenbahnfahrerin eines Tages durch die Grenzstation fährt, und Achim Tänner. Dieser nennt seinen Teddy nach seiner Kindergärtnerin, und trifft sie schließlich am Fuß des Berliner Fernsehturms wieder.

In die reale Gegenwart führt die Episode über die zur Jahrtausendwende geplante Renovierung des Spinnhauses. Da das Geld fehlt, reicht es gerade für eine ABM-Maßnahme. Frau Fiedlern sitzt nun täglich dort und spinnt Garn, das als Sondermüll entsorgt werden muss, weil niemand es kauft. Als ein Bär auftaucht, kippt das Projekt, das Erlebnis lebt aber als Buch mit Holzschnitten weiter.

Was bleibt nach hundert Jahren fiktiver Biografien? Der Fotograf Wolzack, beteiligt am Sturz des Lehrers und Bärenfotograf, steht in New York auf einem hohen Gebäude. "Ihn wollte einfach nichts schwindeln machen."

Ein wunderbares Buch, voll mit historischen, symbolischen, märchenhaften und politischen Bezügen, mit Witz und satirischen Tönen. Unprätentiös und in klar erzählender Prosa, die auf Psychologisierendes ebenso verzichtet wie auf spröde Dialoge und langatmige Monologe. Die Figuren und ihre Geschichten leben von leiser Spannung und überraschenden Momenten. Auch die anderen Werke (wie beispielsweise "Hallimasch", "Auditorium Panopticum" oder "Gipshut") von Kerstin Hensel, die seit über 20 Jahren schreibt und publiziert, sind zu empfehlen.

Titelbild

Kerstin Hensel: Im Spinnhaus. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2003.
256 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-10: 3630871453

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